Ein Leser schreibt heute in der digitalen Ausgabe der New York Times, ähnliche Bilder von einem wütenden Mob, der am Mittwoch vorübergehend das Kongressgebäude in Washington stürmte, um die Bestätigung von Joe Biden zum neuen Präsidenten zu verhindern, könne man sich in Rom oder London nicht vorstellen.
Ob diese Aussage zutreffend ist, erscheint zwar zweifelhaft. Putschversuche im Parlament hat es in der jüngeren Vergangenheit in Europa zumindest schon in Spanien gegeben und vor einigen Wochen haben sich auch im Berliner Bundestag protestierende AfD-Anhänger aufgeplustert. Allerdings waren diese Anschläge gegen die Demokratie nicht durch die Hetzreden und mit dem Segen eines amtierenden Präsidenten in Gang gesetzt worden.
Mahnmal der Schande
Doch in einem Punkt hat der erwähnte Leserbriefschreiber recht. Bei allen Fragwürdigkeiten und Widersprüchen des amerikanischen Politbetriebes hätte sich bis zu den verstörenden Gewaltszenen vom Mittwoch kaum jemand vorstellen können, dass ausgerechnet im Washingtoner Capitol ein grölender Saubannerzug aufgeputscher Anhänger des Präsidenten eindringen und die dort tagenden Volksvertreter vorübergehend zur Flucht zwingen würde.
Solche Vorgänge und Szenen verbindet man gemeinhin mit Vorstellungen von sogenannten Bananenrepubliken. Für die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich mit einigem Recht zum Kreis der ältesten Demokratien der modernen Geschichte rechnen, sind die in alle Welt verbreiteten Bilder eines gewalttätigen Pöbels im stolzen Kongressgebäude ein Mahnmal der Schande und ein Anlass zu zerknirschter Besinnung.
Dabei hatten die erst zwei Monate zurückliegenden Präsidentschaftswahlen und die in dieser Woche abgehaltenen Senatswahlen in Georgia noch die Hoffnung gestärkt, dass ungeachtet aller Störmanöver durch demagogische Brandstifter die amerikanische Demokratie auf einigermassen solidem Grund stehe. Die Funktionsfähigkeit ihrer Institutionen und Mechanismen erwies sich jedenfalls als ziemlich solide und glaubwürdig, obwohl der egomanische Herr im Weissen Haus schon im Voraus behauptet hatte, die Präsidentschaftswahl vom 3. November werde zum korruptesten Wahlprozess der amerikanischen Geschichte.
Nun hat Trump durch persönliche Agitation dafür gesorgt, dass der detailliert geregelte Abschluss des Wahlprozederes durch die Volksvertreter im Kongress zum beschämenden Skandal geworden ist. Der Washingtoner Chefkorrespondent des konservativen Wall Street Journal, Gerald Seib, schreibt dazu, dieser Angriff auf den Kongress werde noch lange in die Zukunft wirken und erst die Historiker könnten später im Rückblick die konkreten Folgen des Überfalls auf eine Herzkammer der Demokratie genauer bemessen.
Ruf nach vorzeitiger Absetzung des Brandstifters
Ein anderer konservativer Kommentator, der Kolumnist Bret Stephens, fordert in der New York Times, dass die Kongressvertreter unmittelbar nach Abschluss des Bestätigungsverfahrens für Biden erneut zusammentreten sollten, um Donald Trump durch ein Impeachment noch vor Ablauf seiner Amtszeit als Präsident abzusetzen. Ein derart psychopathischer Brandstifter und Rattenfänger dürfe nicht mehr länger im Weissen Haus bleiben.
Dieser dringende Rat eines angesehenen Meinungsmachers, der von sich selber sagt, dass er in der Regel die Republikaner wählt, wird bestimmt nicht in Erfüllung gehen. Erstens weil die für ein Impeachment notwendige Zweidrittelmehrheit im Senat kaum zustande kommen würde, da immer noch eine erhebliche Zahl von Republikanern opportunistisch genug sind, um sich nicht offen gegen Trump zu stellen. Zweitens stellt sich auch die Frage, ob eine so kurzfristige Absetzung des Präsidenten überhaupt ein kluges Manöver wäre. Damit böte man Trump möglicherweise nur eine günstige Gelegenheit, eine süffige Dolchstosslegende zu klittern und sich gegenüber seinen unerschütterlichen Anhängern als Opfer einer finsteren Verschwörung zu inszenieren.
Einsicht bei den Trump-Wählern?
Entscheidender ist vielmehr, welche Wirkung der dummdreiste Putschversuch des Abschaums aus dem Trump-Lager auf den Hauptharst jener 74 Millionen amerikanischer Wähler haben wird, die trotz den Warnzeichen an der Wand am 3. November für die Wiederwahl des Präsidenten gestimmt haben. Wird ein substantieller Teil dieser Bürger nach dem Skandal vom Mittwoch zur Einsicht kommen, dass sie einem skrupellosen Machtmenschen auf den Leim gekrochen sind, der nie bereit ist, seine Herrschaft freiwillig abzugeben und eine Niederlage anzuerkennen?
Oder wird Trump oder ein möglicher Nachfolger aus seinem Umfeld in der Lage sein, mit billigen populistischen Schlagworten auch in den kommenden Jahren die Ressentiments von Globalisierungsverlierern, doktrinären Staatsverächtern, manichäischen Schwarz-Weiss-Ideologen und offenen oder latenten Rassisten für seine Zwecke zu mobilisieren?
Wenn ja, müsste man darauf gefasst sein, dass der von Trump angetriebene Saubannerzug gegen das Capitol in Washington in Zukunft Schule machen könnte.