Über die schweizerischen Verwicklungen mit den NS-Verbrechen diskutiert Tim Guldimann mit Professor Jacques Picard, Präsident der Stiftung jüdische Zeitgeschichte der ETH-Zürich, und Dina Wyler, ehemalige Leiterin der Stiftung gegen Antisemitismus und Rassismus.
In der NS-Zeit wurde vielleicht 15'000 Juden und Jüdinnen die Zuflucht in die Schweiz verweigert. Gemäss Picard war «tatsächlich diese Abweisungspolitik auch antisemitisch eingegeben. Zumindest bei einem Teil der Behörden war der Jude der unerwünschte Ausländer, mit dem man gleichzeitig und vorgeblich auch das nationalsozialistische Gedankengut an der Grenze abhalten und wegstellen konnte. Also indem man vermied, Juden aufzunehmen, sagte man, vermeiden wir eben auch, dass eine Judenfrage auch in der Schweiz entsteht, was dann vordergründig ausgegeben werden konnte als eine Ablehnung des nationalsozialistischen Gedankenguts.»
Trotzdem fanden während der NS-Zeit insgesamt vielleicht 30’000 Juden und Jüdinnen Zuflucht in der Schweiz. «Die schweizerische Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden» sei aber, so Picard, kaum «von der Schweiz finanziert worden, sondern von den Schweizer Juden mit Hilfe von Spenden amerikanischer Juden», die eigentlich weitgehend die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz über Wasser gehalten hätten. Zum Verdrängen dieser Verwicklung verweist Picard auf Churchill, der kurz nach Kriegsende vom «segensreichen Akt des Vergessens» sprach. «Das bewusste Vergessen war paradigmatisch dem Zeitgeist geschuldet. Und dass wir uns heute dem Paradigma des Erinnerns und Gedenkens zuwenden, ist eine Entwicklung so ab den 80-er und 90-er Jahren.» In dieser Entwicklung gebe es, so Dina Wyler jedoch «keine Kontinuitäten, sondern Konjunkturen. Man macht zwei Schritte noch vorne und einen zurück». Wobei «der Druck für das Erinnern oftmals aus dem Ausland kam, Stichwort: Nachrichtenlose Vermögen».
Dina Wyler: «Wenn wir über die Betroffenen reden, da war zuerst einmal Vergessen eine Überlebensstrategie. Was jetzt passiert, ist vor allem, dass die dritte Generation beginnt, Fragen zu stellen, weil sie den nötigen Abstand hat, eben nicht zu vergessen, und damit erinnern kann, was den Grosseltern, Urgrosseltern passiert ist.» Die eigentliche Verantwortung für das Erinnern liege aber nicht bei den Betroffenen, sondern bei der Gesamtgesellschaft, vor allem heute, wo kaum mehr Zeitzeugen leben.
Bezüglich der Chancen für das Erinnern in der Zukunft sind beide optimistisch, Jacques Picard, «weil die dritte und auch schon die vierte Generation, und zwar nicht nur Opfer-seitig, sondern auch Täter-seitig, in einer Art darüber sprechen, wo man gut annehmen kann, dass Erinnern und Gedenken für sie zur Normalität des Lebens gehören». Für Dina Wyler ist es nebst dem Erinnern an die Ermordeten «persönlich immer ganz wichtig zu betonen: Es gibt auch lebendige Juden und Jüdinnen. Wir sind hier, wir sind am Leben, wir tragen diese Erinnerungsarbeit fort».
Journal 21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.