Das Treffen fand im März 1979 in einem „Holiday Inn“ ausserhalb der Ölmetropole Houston in der Nähe des Flughafens statt. Im Tages-Anzeiger erschien mein Bericht auf Seite 53 mit dem Titel: „Amerikas schmalbrüstige Linke“.
An „Roastbeef und Apfelkuchen gescheitert“
Im „Holiday Inn“ hatten sich etwa 300 Vertreter einer in der Demokratischen Partei organisierten sozialistischen Gruppierung versammelt, die sich „Democratic Socialist Organizing Committee“ (DSOC) nannte. Nach dem Dinner am Samstagabend mit Roastbeef, gebackenen Kartoffeln und Apfelkuchen sangen die Teilnehmer die Sozialistische Internationale. In meinem Bericht zitierte ich den deutschen Soziologen Werner Sombart, der in seiner 1909 veröffentlichten Studie („Warum gibt es in Amerika keinen Sozialismus?“) unter anderem die These vertrat, alle sozialistischen Utopien in den USA seien an „Roastbeef und Apfelkuchen gescheitert“. Sombart wollte damit sagen, Sozialismus habe in einer satten US-Bevölkerung keine Chance.
Die Versammlung in Houston fand unter dem Vorsitz von Michael Harrington statt. Harrington veröffentlichte 1962 „Das andere Amerika“, eine Untersuchung, die erstmals in einem umfassenden Rahmen die Armut in den USA darstellte und Sombarts These vom satten Amerika widerlegte. Harringtons Buch, so die „New York Times“, gehöre zu den wenigen Untersuchungen mit politischen Folgen. Präsident Lyndon B. Johnson verkündete 1964 in seiner ersten Rede an die Nation ein Programm, wie er die Armut in den USA bekämpfen wolle.
Unerwartete Lebenszeichen
Rund dreissig Jahre nach Harringtons Tod im Jahre 1989 zeigt Amerikas Linke unerwartete Lebenszeichen. Bernie Sanders, der am Wahlkampf um Amerikas Präsidentschaft 2016 teilgenommen hatte, profilierte sich als linker Gegenspieler zur offiziellen Vertreterin der Demokratischen Partei, Hillary Clinton.
Die „Abgehängten“ wählten Trump
Zum Präsidenten gewählt wurde Donald Trump. Es waren die von der Globalisierung „Abgehängten“, die Donald Trump gewählt haben. Auf Englisch heissen die „Abgehängten“ „Deplorables“, die Bedauernswerten. 13 Prozent der US-Amerikaner leben unterhalb der Armutsgrenze. Auch viele Vollbeschäftigte erreichen nur ein Einkommen unterhalb dieses Niveaus. Zu den „working poor“ gehören vor allem Frauen, Farbige sowie Menschen, die mehrere Jobs gleichzeitig zu Tiefstlöhnen haben müssen. „Das andere Amerika“ existiert also weiterhin.
Im November 2018 wurde Alexandria Ocasio-Cortez (29) in das Repräsentantenhaus gewählt. Sie gehört zu einer Gruppe von Frauen, die jung sind und politisch dediziert links stehen. Ocasio-Cortez nennt sich eine „demokratische Sozialistin“ und ist Mitglied von DSOC. Was aber ist das Ziel der jungen Abgeordneten?
Für einen „Grünen New Deal“
Alexandria Ocasio-Cortez, oder AOC, wie sie oft genannt wird, wurde im fortschrittlichen Staat New York gewählt. Sie fordert einen „Grünen New Deal“ in den USA, der innert weniger Jahrzehnte den Ausstoss von Treibhausgasen unterbinden soll. Weiter verlangt die „demokratische Sozialistin“ eine kostenlose Krankenversicherung für alle und ein universelles Basiseinkommen, finanziert von einer 70-Prozent-Steuer für die Reichsten der Reichen.
Mit ihren politischen Plänen begeistert Ocasio Cortez den erstarkten linken Flügel ihrer Partei. Gleichzeitig bringt sie ihre Partei in Schwierigkeiten, weil Mitte-Wähler verlorengehen. Und damit wäre auch die Wahl eines fortschrittlichen Präsidenten in Frage gestellt.
Junge Amerikaner sympathisieren mit dem Sozialismus
Ältere Amerikaner erinnert „Sozialismus“ an die Sowjetunion, den Kalten Krieg. Für die jüngere Generation jedoch war die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 das entscheidende Ereignis. Eine Umfrage der Harvard Universität aus dem Jahr 2016 unter 18- bis 29-Jährigen kam zu folgenden Ergebnissen: 51 Prozent der Befragten lehnten den Kapitalismus ab und 33 Prozent unterstützten den Sozialismus. Im Vorzeigeland des Kapitalismus gilt Sozialismus nicht mehr als unamerikanisch.
Die jungen Amerikaner, so präzisiert der Leiter der Harvard-Umfrage, dächten an die radikalen Reformen unter Franklin D. Roosevelt (New Deal), die Amerika aus der schweren Wirtschaftskrise der 30er Jahre retten mussten.
Linkes Magazin auf Hochglanz
Auf ein linkes oder linkeres Amerika hofft auch der Verleger des linksradikalen Magazins „Jacobin“, Bhaskar Sunkara. Der 29-Jährige mit Eltern aus Trinidad schloss sich als Jugendlicher den „Democratic Socialists of America“ an, die heute etwa 60’000 Mitglieder haben. An der Universität gründete er 2010 das Magazin „Jacobin“, das im Netz und auf Papier erscheint.
„Jacobin“ soll „neomarxistisches Denken unter die Leute bringen, aber frei von doktrinärem Jargon, mit Humor, Ironie, aber dennoch radikal“, erklärte mir Sunkara 2013 in einer Bar in Brooklyn. Die Print-Ausgabe erscheint auf teurem Hochglanzpapier. „Damit wollen wir uns auch äusserlich von den grauen, langweiligen Zeitschriften der alten „liberals“ unterscheiden“, meinte Sunkara.
Demokratische Partei nach links drücken
„The left wing of the possible“, mit solchen Worten definierte Michael Harrington einmal das Ziel seiner linken Gruppierung. Damit meinte er, fortschrittliche Politiker müssten immer Amerikas Realitäten vor Augen haben. Ziel von DSOC sei nicht, einen linken Präsidenten zu stellen, sondern die Demokraten als Partei nach links zu drücken.
Roman Berger war 1976–1982 Korrespondent des „Tages-Anzeigers“ in den USA.