El Anatsuis Devise heisst: «Nimm, was du vorfindest.» Nur die Bezeichnung «Recycling» verbittet sich der 1944 in Ghana geborene El Anatsui, der zu den international bedeutendsten Gegenwartskünstlern zählt: «Ich bin (…) dagegen, dass der Begriff ‘Recycling’ im Zusammenhang mit der Art und Weise, wie ich meine Materialien verwende, gebraucht wird. Meine Werkstoffe werden nicht recycelt, sondern erhalten ein neues Leben, sie werden umgewandelt. Die Flaschenverschlüsse (…) sind nun Teil eines Kunstwerks, und als solche haben sie einen höheren Status, eine höhere Dimension. (…) ’Recycling’, ich mag diese Bezeichnung nicht, da sie etwas Politisches hat.» (El Anatsui 2015)
Mit diesen dreidimensionalen beweglichen Metallfeldern hat sich der seit 1975 an der nigerianischen Universität Nsukka tätige Bildhauer El Anatsui eine unverkennbar eigene visuelle Sprache geschaffen.
Den zufälligen Fundstücken, geformt und mit Kupferdraht verknüpft zu schillernden skulpturalen, an Kente-Stoffe erinnernde Bahnen und ‘Tapisserien’ mit Aufwallungen und Verwerfungen von triumphalem Ausmass, unterliegen vielschichtig reflektierte Konzepte und Fragestellungen: Wie verhalten sich Bildfläche und Skulptur zueinander, wie stehen Denkmal und Architektur zu genreübergreifendenden hybriden Formen, die begriffliche Rahmen sprengen und neue Räume schaffen?
Das Grossformat «In the World But Don’t Know the World» vereint eine Vielfalt an Formen, Farben und Faltungen und macht die Verwandlung des ursprünglichen Materials sinn- und augenfällig. Zwar agieren nun die ursprünglichen Werbeträger (wie die Rummarke Castello) ausserhalb ihres funktionalen Kontexts; dennoch erzählen sie auch ihre postkoloniale Geschichte: Alkohol galt als Zahlungsmittel im Sklavenhandel. Nach dem Jahr 2000 wird Anatsuis Oeuvre mit diesen monumentalen und inhaltlich komplexen Metallarbeiten assoziiert. Es begann jedoch bereits in den 1970er Jahren.
Erste Retrospektive in Europa
Die erste bedeutsame Überblicksausstellung von El Anatsui bietet die bislang umfangreichste Schau seiner Werke und zeigt alle Medien, mit denen er in seiner fünfzigjährigen Karriere gearbeitet hat.
Kuratiert vom 2019 verstorbenen Direktor am Haus der Kunst in München, Okwui Enwezor, und dort erstmals gezeigt, machte «Triumphant Scale» Station im Arab Museum of Modern Art Doha, ist nun bis zum 21. Juni im Kunstmuseum Bern zu sehen und anschliessend vom 17. Juli bis Ende Oktober im Guggenheim-Museum Bilbao.
Co-kuratiert von Chika Okeke-Agulu, Princeton, und Kathleen Bühler, Kunstmuseum Bern, kommen El Anatsuis Arbeiten in dem 1879 eröffneten Haus, teilweise im direkten Tageslicht, ausserordentlich gut zur Geltung. In sieben Räumen mit den programmatischen Titeln werden aus früheren Schaffensperioden auch Arbeiten in Holz, Keramiken sowie Zeichnungen, Drucke und Skizzenbücher gezeigt.
Auf seinem Weg in die Abstraktion und Moderne war El Anatsui von traditioneller afrikanischer Kunst inspiriert, die sowohl in Ghana wie an der nigerianischen Universität Nsukka, wo er seit 1975 wirkt, gepflegt wird. Webmuster und graphische Symbole, die man auf Kente oder Adinkra-Stoffen der Ashanti findet, oder die überlieferten Zeichensysteme der Uli-Muster der Ibo prägen die frühen Holzarbeiten als Piktogramme. El Anatsui ist Afrikaner. Doch als «afrikanischer Künstler» sieht sich der inzwischen weltweit Anerkannte nicht.
Arbeiten in Holz und Keramik
Die frühen Rundteller, Reliefarbeiten und Skulpturen aus Hartholz stellen die erste wichtige Werkserie dar, die El Anatsui Anfang der 1970er Jahre geschaffen hat. Der Holzteller «On Their Fateful Journey to Nowhere/Auf Ihrer schicksalshaften Reise ins Nirgendwo» (1974–75) zeigt als zentrales Motiv Fussabdrücke, die in alle Richtungen weisen und Massenbewegung und Migration ohne selbstbestimmtes Ziel andeuten. Dieser und weitere Teller waren bereits zur Warenpräsentation im Gebrauch, bevor sie El Anatsui im ghanaischen Schnitzhandwerk bearbeitete und in Kunstwerke verwandelte.
Holzreliefs wie «Leopard Cloth» gehören zur früh erfolgreichen Werkgruppe «Grandma’s Cloth Series VI». Von Anfang der 1980er bis Ende der 1990er Jahre entstanden, zeigen diese Holzbrettmodule unterschiedliche Partien. Mit der Kettensäge, die Anatsui 1980 während eines Künstlerstipendiums in den USA entdeckte, liessen sich tiefe ausgebrannte Schnitte und mit der Lochsäge kreisförmige Markierungen in reliefartig vertieften oder erhöhten Abschnitten schaffen. Diese gemäldehaften Tableaus mit den graphischen Zeichen aus afrikanischen Schreibsystemen und Silbenschriften reflektieren die Beziehung zwischen Schreiben und Geschichte, zwischen Tradition und Moderne im postkolonialen Afrika.
Seine «Dazwischen-Stellung» in den künstlerischen Anliegen bringt El Anatsui in diesem Gedicht auf den Punkt:
EXPRESS NEW IDEAS IN OLD WOOD. MIX TIME-FURROWED
EXPERIENCE WITH BUOYANT SMOOTHNESS;
THE CONCAVITY OF OLD TIME
WITH THE CONVEX POSTURE OF NEW TIME.
NEW WOOD HAS POETRY LOCKED IN IT.
OLD WOOD IS POETRY ITSELF, TIME.
El Anatsui, 1991
In Holz und Keramik, besonders in der Serie «Broken Pots» (1977–79), entwickelte El Anatsui eine Ästhetik der Fragmentierung, des Aufbrechens in Teile. Er brach, durchbohrte, verformte und destabilisierte irdene Objekte und füllte sie mit einem surrealen Innenleben. Das Tongefäss ist für ihn kein Gebrauchsgegenstand, sondern Ausgangspunkt und Konstrukt der Veränderung.
Der aufgebrochene, fragmentierte und entleerte Keramikkopf erinnert an Terrakotta-Skulpturen der Nok-Kultur, die vor zweitausend Jahren im heutigen Zentral-Nigeria entstanden. In «Chambers of Memory» symbolisieren die leeren «Kammern des Gedächtnisses» auch die Unfähigkeit der Menschen, aus der Geschichte zu lernen.
Werkstoff Metall
Erst um die Jahrtausendwende fand El Anatsui zu seinem neuen Werkstoff: Metall. Er griff weggeworfene rechteckige Reiben auf, mit denen aus der Cassava-Wurzel das Grundnahrungsmittel Maniokmehl hergestellt wird. Dieses mit Nägeln fein gelochte Blech stammt von alten Ölfässern. Erneut bilden die Markierungen und Spuren des Gebrauchs die Grundlage für El Anatsuis Erforschung von metallischen Oberflächen. Dazu gehört auch der Zufallsfund weggeschnittener Deckel von Kondensmilchdosen der dänischen Milchmarke Peak. In Nigeria werden diese als Koch- oder Messgefässe weiterverwendet. Das Abfallprodukt verdrahtet El Anatsui in grossen Mengen zu schillernden Metallfeldern, die er zu Hügeln (Peaks, Yam Mounds) aufschichtet.
Deckel von Wein-, Bier- und Schnapsflaschen, Konserven- oder Aludosen liessen sich entrollen und beidseitig, farbig oder uni metallen, verwenden. Anatsui ist mittlerweile Hauptabnehmer des Metallmülls.
Dieses Ausgangsmaterial wird im Akt des Aufbrechens, Schneidens, Plättens, Faltens und Verformens erst angeeignet und im zweiten Arbeitsgang zu langen Bahnen und Teilflächen mit Kupferdraht verknüpft. Das Verfahren hat El Anatsui derart optimiert, dass selbst grossformatige Werke halten. An diesen Arbeiten wirken in den Ateliers von Nsukka nunmehr um die vierzig Mitarbeitende. Gemeinsam entstehen El Anatsuis Werke nach seinen digitalen Entwürfen am Boden, ehe sie sich zu monumentalen Wandbehängen aufrichten. Sie sprengen übliche Formate, greifen und fransen aus, verformen sich bei jedem Umzug.
Das ist Teil des ständigen Schaffens- und Transformationsprozesses. Blitzen Silberschuppenbänder und goldfarbene Plättchen auf, erinnern sie auch an El Anatsuis Ghana, die ehemalige Goldküste der Ashanti. Nicht alles ist Gold was glänzt, gibt der Künstler zu bedenken. So stammen etwa die Schraubverschlüsse, die er verwendet, von Spirituosen, die Europäer nach Afrika gebracht haben und zwar als koloniale Währung und dadurch als Mittel der Unterdrückung.
Vielfache Spannungen und Gegensätze bestimmen El Anatsuis Schaffen zwischen handwerklichem Detail und Komposition, zwischen Alltags-Materialität und Monumentalität, zwischen De- und Rekonstruktion, respektive materieller und inhaltlicher Transformation des Vorgefundenen. Dem Konzept steht jedoch stets die lockere Interpretation entgegen. Nichts ist fixiert und fest, auch nicht die historische Vergangenheit.
Grundlegend sind in El Anatsuis Werk folgende Arbeitsschritte:
- Auffinden und Sammeln des Materials: Aneignung
- Verwandlung des Vorgefundenen: Transformation
- Vielschichtigkeit und Offenheit in der Kreation: Improvisation
- Gemeinschaft, Gesellschaft, Kontext: Team-Arbeit, Collectivity
Ausserdem interessiert El Anatsui die Reaktion des Publikums: Was sehen, interpretieren, projizieren Menschen aus anderen Kulturkreisen?
Die grossformatigen monochromen und polychromen Metallskulpturen wie «Gravity and Grace» 2010 (Schwere und Anmut) faszinieren durch ihre erhabene Wirkung, ihre Strahl- und Aussagekraft mit Tiefgang.
Nomadische Ästhetik
EI Anatsuis Werk ist geprägt vom Wechselspiel philosophischer, literarischer und ästhetischer Diskurse im postkolonialen Afrika. Trotz unterschiedlicher Ansätze war man nach 1960 der Überzeugung, dass die westliche Moderne nicht alleiniges Vorbild für die neue afrikanische Kunst und Kultur sein konnte. In dieser Absicht versammelte ab 1961der Mbari Artists and Writers Club in Ibadan führende Künstler und Schriftsteller des Kontinents, die sich mit der Produktion und Diskussion von Werken der postkolonialen Moderne befassten. Neben Autoren wie Chinua Achebe, Wole Soyinka, Es’kia Mphahlele oder Christopher Okigbo waren auch die Künstler Demas Nwoko und Ibrahim EI Salahi Mbari-Mitglieder, ebenso Vincent Kofi, EI Anatsuis Mentor, und Uche Okeke, der ihn 1975 nach Nsukka einlud.
Seitdem hat El Anatsui aus Materialien des Alltags und durch aufwendige handwerkliche Prozesse neue Dimensionen der skulpturalen Visualität geschaffen, indem er Formen des Konsums und der Politik zusammenbringt. Die formalen und plastischen Möglichkeiten afrikanischer Kompositionstechniken hat er zu seinem brillanten globalen Idiom entwickelt, in dem Licht, Form, Farbe, Transparenz und Körperlichkeit verschmelzen.
El Anatsui: Triumphant Scale, Kunstmuseum Bern, 13. März bis 21. Juni
Informationen zur gegenwärtigen Museumsschliessung finden Sie hier.
Texte:
- Okwui Enwezor: A Ceaseless Search for Form, Parkett Nr. 90, 2012
- Elisabeth Lalouschek: Catalogue, October Gallery, London 2016
- Susan Vogel: El Anatsui Art and Life, München, Prestel 2019, erweitert 2020