Dass ein Wittenberger Professor der Bibelwissenschaft einen Anschlag an der Schlosskirche oder sonst wo am schwarzen Brett macht, um eine Disputation zu veranstalten, hat kaum das Zeug zu einem revolutionären Akt. Erst recht, wenn man weiss, dass er ein frommer Augustinermönch war und die 95 Thesen, die er mit Kollegen erörtern wollte, in lateinischer Sprache verfasst hat.
Ausbreitung wie ein Lauffeuer
Eigentlich grundsolide katholische Theologie. Wer möchte es ihm verargen, wenn er zwischendurch mal kirchliche Autoritäten ironisch auf die Schippe nahm: „Die Meinung, dass eine kirchliche Bussstrafe in eine Fegefeuerstrafe umgewandelt werden könne, ist ein Unkraut, das offenbar gesät worden ist, während die Bischöfe schliefen.“ (These 11) Oder wenn er den Papst nicht ohne Hintersinn in Schutz nimmt: „Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde.“ (These 50)
Martin Luther hat trotzdem eine Revolution ausgelöst. Der Tag vor Allerheiligen war publikumswirksam gewählt. Und die Thesen alarmierten nicht nur die theologischen Lehrstühle. Sie wurden übersetzt und breiteten sich wie ein Lauffeuer über das ganze Reich aus. Offenbar fühlten sich viele Gläubige in ihrem Nerv getroffen, wenn mal einer denen ins Gewissen zu reden wagte, die mit der Angst vor Teufel und Hölle ihr Geschäft machten.
Die Hebelwirkung der Ablassfrage
Luther glaubte durchaus an den Teufel, doch ihn störte die Bibel-widrige Art, wie Ablassprediger vorgaben, der Himmel sei mit Geld zu kaufen: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“ Darum forderte er mit seinen Thesen den zuständigen Erzbischof von Mainz auf, dem Ablassprediger Johannes Tetzel einen Maulkorb umzubinden.
Doch der mächtige Fürstbischof Albrecht von Brandenburg – einer der sieben Kurfürsten, die den Kaiser wählten – stand beim Augsburger Financier Jakob Fugger tief in der Kreide, weil er sich nach Magdeburg und Halberstadt auch noch Mainz als drittes Bistum unter den Nagel gerissen hatte. Als tüchtiger Investment-Banker hatte Fugger den Ablasshandel so eingerichtet, dass er nicht nur dem Bau des Petersdoms in Rom diente – was bis heute bei allen, die davorstehen, ein Unbehagen auslösen muss. Das Eintreiben der Ablassgelder half auch dem Bischof, die geschuldeten Gebühren für seinen Ämterschacher zu begleichen, zu dem Rom bereitwillig Hand geboten hatte, obwohl es das Kirchenrecht verbot.
So wurde die Ablassfrage – theologisch eine Bagatelle – zu einem wirtschaftlichen und kirchenpolitischen Faktor, an dem das halbe System hing. Auch zur Reformationszeit bestimmte das Sein – machtsüchtige Bischöfe und Päpste – das Bewusstsein: theologische Konstrukte wie eben der Ablass. So brannte sich das Reformationsjahr 1517 in die Geschichte Europas ein und wurde zum Fanfarenstoss für die ganze Epoche der Reformationen. Das geschäftige 2017 folgt längst im Voraus dieser Logik.
Eine Mehrzahl von Reformationen
Es ist einleuchtend, wenn Thomas A. Brady von Reformationen in der Mehrzahl spricht (German Histories in the Age of Reformations, 1400–1650. Cambridge 2009). Die Reform der Kirche gemäss der Bergpredigt des Jesus von Nazaret haben sich schon religiöse Bewegungen wie die Katharer und Waldenser sowie Reformorden des Mittelalters – Zisterzienser, Franziskaner, Dominikaner – auf ihre Fahnen geschrieben. Und als die Babylonische Gefangenschaft der Päpste in Avignon gar zum Abendländischen Schisma führte, das anfangs des 15. Jahrhunderts drei Päpste hervorbrachte, ertönte der Ruf nach einer „Reform der Kirche an Haupt und Gliedern“ durch ganz Europa.
Das Konzil von Konstanz erhob diese Forderung 1415 zum Beschluss – und fällte im gleichen Jahr mit dem Urteil über den Reformer Jan Hus einen gravierenden historischen Fehlentscheid (Hans Küng). Die schliesslich dann doch nicht eingelöste Reform der Kirche führte zu Reformationen und Kirchenspaltungen, die je nach politischer Konstellation und Kultur jeweils anders verliefen: bei den Hussiten in Prag ab 1415, bei Luther in Wittenberg ab 1517, bei Zwingli in Zürich ab 1519, bei Calvin in Genf ab 1536, bei Heinrich VIII. in London ab 1534 und bei John Knox in Edinburgh ab 1559, um nur die wichtigsten Protagonisten zu nennen.
Trotz unterschiedlicher Akzente war all diesen Reformationen gemeinsam die Besinnung auf die Quellen des Christentums (sola scriptura) und auf ein geläutertes Verhältnis des Menschen zu Gott (sola fide) und zu seiner Erlösung (sola gratia). Im Vordergrund stand jedoch stets eine kritische Distanz zu Anmassungen der kirchlichen Hierarchie. Insofern nennt man die katholische Reform des Trienter Konzils (1545–63) zu Recht eine Gegenreformation. Sie nahm zwar Motive der Reformationen auf, stellte dann aber doch die Treue zu Papsttum und Tradition wieder ins Zentrum. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist jedoch, dass sie schon im Ansatz ein internationales Ereignis darstellte.
Jan Hus endet auf dem Scheiterhaufen
Was hatte der in Böhmen beliebte Prediger Jan Hus und prominente Rektor der berühmten Prager Universität verbrochen? Er teilte die Kritik des Oxforder Theologen John Wiclif an den geldgierigen und verweltlichten Priestern, Bischöfen und Päpsten und verlangte, dass die Bibel in die Landessprache übersetzt werde und die Messe keine zeremonielle Kulthandlung sei, sondern wie bei Jesus und den Aposteln eine einfache Dankfeier, bei der den Laienchristen so gut wie den Klerikern Brot und Wein gereicht werde. Und er kritisierte schon damals das Ablasswesen.
Der böhmische König Sigismund – der spätere Kaiser – bat als Architekt und Schutzherr des Konzils Hus nach Konstanz und sicherte ihm freies Geleit zu. Hus liess sich überreden, doch das Versprechen half ihm nichts. Das Konzil hatte zwar die Reform der Kirche beschlossen, doch den unbequemen Reformer aus Prag schaffte es aus dem Weg und verurteilte ihn zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Das Urteil hatte in Böhmen Aufruhr, Kämpfe, eine Kirchenspaltung und lange Kriege zur Folge. Luther betrachtete hundert Jahre später Hus als seinen Vorläufer. Und noch der zweite Prager Fenstersturz, die Schlacht am Weissen Berg und der Ausbruch des Dreissigjährigen Kriegs – zweihundert Jahre später – können vom Konstanzer Fehlurteil nicht losgelöst werden.
Kräfte der Erneuerung in der Zeit vor der Reformation
Das Reformkonzil von Konstanz hat mit dem Urteil über Hus einen Teil seiner Glaubwürdigkeit selbst verspielt. Und das Papsttum, eben noch vom Konzil zurechtgewiesen, restaurierte sich bald in alter Selbstherrlichkeit. Der Reformwillen verebbte schon im 15. Jahrhundert.
Freilich, es wäre ein Kurzschluss, wollte man vom Fanal, das Luthers Thesen 1517 auslösten, ableiten, dass die alte Kirche durchwegs korrupt und kraftlos gewesen sei, sodass die Reformatoren ein leichtes Spiel gehabt hätten. Es gab trotz allem viele Kräfte der Erneuerung. Vorbildliche Bischöfe erkannten die Zeichen der Zeit. Jener von Basel etwa, Christoph von Utenheim, führte eine volkssprachliche Liturgie ein, die noch lange nach dem Konzil von Trient weitherum anerkannt war und gefeiert wurde. Schon im 14. Jahrhundert hatte der niederländische Theologe Geert Groote eine mächtige, nach innen gerichtete Frömmigkeitsbewegung ausgelöst, die sog. Devotio moderna (zeitgemässer Glaube), die Kleriker und Laien, Männer und Frauen, insbesondere auch Nonnen praktizierten.
Ebenso kamen in Spanien, trotz der Inquisition, spirituelle Bewegungen auf, die im Dialog der Religionen zwischen Christen, Juden und Muslimen wurzelten und im 16. Jahrhundert zu einer grossartigen Blüte der Mystik führten, angeführt von Teresa von Ávila und Juan de la Cruz, umgesetzt von Ignatius von Loyola in seiner Gesellschaft Jesu und von Bartolomé de las Casas im Völkerrecht und von vielen anderen.
Ausgerechnet der Erzbischof von Toledo, Kardinal Jimenez de Cisneros, ein Humanist und von Amtes wegen auch Grossinquisitor, wurde zum Vorkämpfer der Reform und veranlasste die Schaffung einer kommentierten Ausgabe der Bibel in Hebräisch, Griechisch und Latein, deren sechster Band 1517 herauskam – viel umfassender und wissenschaftlich gründlicher angelegt als die lateinische Übersetzung, die Erasmus von Rotterdam ein Jahr zuvor herausgebracht hatte. In deutschen Landen erschienen übrigens etwa siebzig deutsche Übersetzungen der Bibel, bevor Luthers Septembertestament 1522 auf der Leipziger Buchmesse in 3000 Exemplaren auf den Markt kam.
Der Buchdruck führt zum Wandel der Mentalitäten
Christliche Humanisten unterstützten die Rückwendung zu den Quellen der Offenbarung überall in Europa. Mit Enea Silvio Piccolomini sass sogar einer der versiertesten italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts als Pius II. auf dem Stuhl Petri. Und mit dem neu erfundenen Buchdruck erhielt die humanistische Bewegung eine mächtige Kraft und Verbreitung, die einen Wandel der Mentalitäten zur Folge hatte: Wissenschaftler, die sich nicht mehr auf verderbliche und schwer zugängliche Manuskripte stützen mussten, vielmehr eine Vielzahl von Büchern zur Verfügung hatten, konnten ihre Energien statt auf die ängstliche Bewahrung ererbter Traditionen optimistisch auf deren Entfaltung für die Zukunft richten.
Unter den geistigen Zeitströmungen zu erwähnen wären aber neben den Bestsellern des humanistischen Pazifisten Erasmus von Rotterdam auch die Predigten des Charismatikers Girolamo Savonarola in Florenz, die Utopia von Thomas Morus in London, die Apocalypsis Nova, ein Beststeller des portugiesischen Franziskaners Amadeo Mendes da Silva, und die erfolgreichen Schriften des Arztes, Alchemisten, Astrologen und Mystikers Theophrastus Paracelsus.
Der englische Historiker Diarmaid MacCulloch weist in seinem grossen Werk über die Reformation darauf hin, dass um das Jahr 1500 die meisten Menschen aus eigener Anschauung höchstens drei komplizierte technische Errungenschaften kannten: die Orgel, die Uhr und die Windmühle, wobei ihnen Orgel und Uhr fast nur in der Kirche begegneten. „Gab es einen besseren Beweis dafür, dass die Kirche sogar die abenteuerlichsten und fortschrittlichsten Ideen der Menschheit fest im Griff hatte? Welche Organisation hätte mit der Kirche konkurrieren können, wenn es darum ging, dem westlichen Europa ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu vermitteln?“ (Die Reformation 1490–1700. München 2008, 64).
Luthers Reformation von des Kurfürsten Friedrichs Gnaden
Luthers Thesen von Allerheiligen 1517 machten in Rom wenig Eindruck, der Papst hatte andere Sorgen: 1453 war Konstantinopel, Kapitale und letzter Rest des Oströmischen (Byzantinischen) Reiches in die Hände des Islams gefallen. Bald entfaltete das Osmanische Reich eine gewaltige Dynamik: Die Seidenstrasse wurde gekappt, das östliche Mittelmeer den Kreuzrittern entrissen, ganze Küstenstriche am Mittelmeer von islamischen Seeräubern versklavt und entvölkert. Die Türken eroberten sukzessiv den Balkan, besiegten 1526 in der Schlacht von Mohács Ungarn – 16‘000 Soldaten und viele Adlige und Bischöfe fanden den Tod – und belagerten 1529 Wien.
Sollte das christliche Abendland bald untergehen? Einzig Spanien schuf einen Ausweg: Es vereinigte Kastilien und Aragon, besiegte 1492 die letzten Muslime in Granada und expandierte nach Lateinamerika – ermöglicht durch die Entdeckungen des Kolumbus im gleichen Jahr 1492. Bald herrschte die spanische Krone über ein Reich, in dem die Sonne nicht unterging.
Der Bannstrahl Leos X. und Karls V. gegen Luther
Der Medici-Papst Leo X. wies zunächst den Orden an, die Sache mit diesem Mönchlein Luther zu erledigen. Die Augustiner disputierten in Heidelberg 1518 recht friedlich mit ihm. Im Herbst 1518 verhörte ihn jedoch Kardinal Cajetan in Augsburg und forderte ihn auf, seine Thesen zu widerrufen. Die Disputation mit Johannes Eck in Leipzig 1519 war nicht weniger feindselig. 1521 sprach Leo X. den Bann über ihn aus. Kurze Zeit später stand der 38-jährige Luther auf dem Wormser Reichstag dem kleinwüchsigen 21-jährigen neuen Kaiser Karl V. gegenüber. Die Worte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ sind spätere Interpretation, aber sie geben die Situation trefflich wieder.
Der Kaiser verurteilte den Gewissenstäter als Häretiker und verhängte die Reichsacht über ihn. Doch er liess ihm freies Geleit, und Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, der Weise, gewährte ihm fortan Schutz, zuerst auf der Wartburg, später in Wittenberg. Der vogelfreie Luther blieb 25 Jahre lang bis zu seinem Lebensende 1546 ein Gefangener des Kurfürstentums.
Die weltliche und die geistliche Gewalt
Während der ganzen Zeit war Luther ein von der Sache und von den Umständen Getriebener. 1520 publizierte er seine grundlegenden reformatorischen Schriften: „Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ (Absage an die Tradition der abendländischen Christentumsgeschichte), „An den Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (über die Verpflichtung der weltlichen Obrigkeit für Schule und Bildung), „Von der Freiheit des Christenmenschen“ (eine epochal nachhaltige Schrift, gestützt auf die paulinische Befreiungstheologie).
Dann folgten die wilden Jahre des Bauernkriegs und der Täuferaufstände. Luther verfluchte die „räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“. Bauernaufstände gab es zwar immer wieder, doch nun vermengten sie sich mit der neuen reformatorischen Freiheit. Daran war Luther nicht unschuldig, krebste zurück, wurde vom Volkshelden zum Fürstenknecht und schob die Schuld auf die radikalen Täufer, etwa seinen früheren Mitstreiter Thomas Müntzer, der vor den Toren der Stadt Mühlhausen enthauptet und aufgespiesst wurde.
Luther hatte eingesehen: Seine Reformation benötigte den Schutz des Fürsten so gut wie Rom den Schutz des Kaisers brauchte und Zwingli den Schutz der Stadt Zürich oder Calvin die Unterstützung der Genfer Regierung. Die zwei Schwerter bzw. Reiche galt es zwar nach alter Tradition zu unterscheiden, doch die weltliche und die geistliche Gewalt – Thron und Altar – waren noch ungetrennt und blieben es weitere dreihundert Jahre bis zur Herrschaft Napoleons nach der Französischen Revolution.
Luthers Streit mit Zwingli
Der Bauernkrieg führte zu einem bösen Erwachen. Luther erkannte, wie wenig die reformatorischen Anliegen beim Volk angekommen waren. Er begann die neue Kirche – die er eigentlich nicht angestrebt hatte – zu organisieren, schrieb den Kleinen und den Grossen Katechismus, kämpfte mit vielerlei Krankheiten, konzipierte eine neue Liturgie, in der das Wort – Bibel und Predigt – im Zentrum stand, und überwarf sich 1529 im Marburger Religionsgespräch mit Zwingli, weil er die Gegenwart Christi in Brot und Wein nicht nur zeichenhaft verstehen wollte wie Zwingli.
Ein gewisser Durchbruch war 1530 das Augsburger Bekenntnis, das allerdings sein Freund Philipp Melanchthon auf dem Reichstag zu Augsburg durchsetzen musste – Luther konnte den Prozess nur aus dem mehrere Tagesreisen entfernten Coburg begleiten.
Die unumkehrbare Reformation
Die militärische Macht des Kaisers war 1529 durch die Belagerung der Türken vor Wien gebunden. Luther war ein erfolgreicher Reformator, sozusagen von Allahs Gnaden. Spätestens bei Luthers Tod am 18. Februar 1546 war die Reformation unumkehrbar. Zwar ging Karl V. 1546–47 militärisch erfolgreich gegen die im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossenen reformatorischen Fürsten und Städte vor und diktierte 1548 das Augsburger Interim.
Doch es war zu spät, um das Blatt noch wenden zu können. Schliesslich handelte der Bruder Karls V., der spätere Kaiser Ferdinand I., den Augsburger Religionsfrieden von 1555 aus. Karl V. trat erschöpft ab und zog sich in ein Kloster zurück. Mit dem Cuius regio, eius religio – Wer herrscht, bestimmt die Konfession – schuf der Augsburger Religionsfriede für ein gutes halbes Jahrhundert die Voraussetzungen zu einem gegenseitigen Gewährenlassen. Das Reich lernte mit mehreren christlichen Bekenntnissen zu leben, bis dann im 17. Jahrhundert eine Generation von unduldsamen und konfessionalistisch gesinnten Herrschern antrat und Europa ins Chaos des Dreissigjährigen Kriegs stürzte.