Ende Mai berichteten Marianne Pletscher (Text) und Marc Bachmann (Fotos) unter dem Titel «Zwei sehr verschiedene Menschenschlangen» von der plötzlich sichtbar gewordenen Armut in der reichen Stadt Zürich.
Sehr öffentlich, an der Langstrasse, verteilte die Organisation «Incontro» mit der Ordensschwester Ariane Stöcklin Lebensmittel. Etwas weniger sichtbar stellte am Zürcher Sihlquai die Aktion «Essen für alle», gegründet vom Geflüchteten Amine Diare Conde, Tonnen von Esswaren und Getränken für alle Hungrigen zur Verfügung. Der Schwerpunkt dieses neuen Berichts liegt auf noch nie veröffentlichten Fotos und neuen Entwicklungen.
Armut und Solidarität
Plötzlich schien es, als seien Engel vom Himmel gestiegen und hätten den Bedürftigen der Stadt Speis und Trank gebracht. Und die Einwohner des reichen Zürich realisierten, zwar kurz nur, aber immerhin, dass viele ihrer Einwohner Hunger leiden. Dies ist nicht nur eine Geschichte darüber, wie die Armut sichtbar wurde, es ist auch eine Geschichte über grosse Solidarität.
Die beiden Verteilorganisationen «Incontro «und «Essen für alle» hatten blitzartig auf eine durch den Shutdown sicht- und spürbare Not reagiert: Viele Institutionen, die gratis oder sehr billig Mahlzeiten anboten, waren geschlossen worden, gleichzeitig verloren viele Menschen, die legal oder illegal in Tieflohnbereichen arbeiteten, ihre Stelle.
Ariane Stöcklin und Amine Diare Conde waren schneller zur Stelle als die etablierten Hilfsorganisationen. Schwester Ariane, weil sie zusammen mit Pfarrer Karl Wolf von der katholischen Kirche Küsnacht und dem Verein «Incontro» seit längerer Zeit in Zürich Gassenarbeit machte und sehr gute Beziehungen zu Randständigen und Sexarbeiterinnen im Zürcher Kreis vier aufgebaut hatte.
Die wirblige 48-jährige Ordensfrau hatte im Nu eine eindrückliche Verteilorganisation aufgebaut. Ariane immer im Vordergrund, überall gleichzeitig rennend, organisierend, verteilend, tröstend. Pfarrer Karl Wolf im Hintergrund als ihr Backup und Pressesprecher. Die Not der Menschen geht ihr nah, die spirituelle genauso wie der Hunger. Ihre Motivation ist sehr direkt: Ihr Bruder lebte lange Zeit auf der Gasse. Ihr Engagement stamme aus dieser Zeit, erklärt sie. Berufung habe immer sehr viel mit direkten Erfahrungen zu tun.
Geflüchteter als Helfer
Amine arbeitete als Freiwilliger an der Autonomen Schule, welche «Bildung für alle» ins Zentrum stellt. Wie Schwester Ariane erkannte auch er in seinem Umfeld, dass «Essen für alle» wohl genauso wichtig, wenn nicht wichtiger war als Bildung. Der 22-Jährige, der als Flüchtender durch die Sahara und übers Mittelmeer nach Europa kam, ist genauso wirblig wie die Ordensschwester und hatte ebenso schnell eine eindrückliche Spendensammlung organisiert. Bis Ende Juni kamen Sachspenden im Wert von rund 325’000 Franken von den Food-Waste-Organisationen «Food Care» und «Grassrooted» und Barspenden von rund 250’000 Franken zusammen.
Weitere Grossorganisationen spendeten ebenfalls mehrere Tonnen Nahrungsmittel gratis. Die Barspenden sind genau dokumentiert, die Schätzung des Sachspendenwerts liegt wohl eher am unteren Ende. Jeden Samstag wurden zwischen 600 und 900 und später mehr als 1000 Personen mit Esswaren versorgt.
«Incontro» rechnet anders ab: Ende März bis Mitte Juni verteilten Schwester Ariane und ihre Helfer und Helferinnen rund 14’000 Lebensmittelpakete. Finanziert wurden die Ausgaben mit Spenden von rund 630’000 Franken, darunter viele Tonnen Sachspenden: Auch Stadt und Kanton Zürich leisteten Beiträge, für beide Organisationen. Insgesamt wurde also während dreieinhalb Monaten weit über eine Million Franken für Bedürftige, die in der Stadt oder im Kanton Zürich leben, ausgegeben.
Bedürftige aus aller Welt
In der Langstrassen-Schlange standen vor allem Sexarbeiterinnen, Drogensüchtige und Alkoholkranke aus aller Welt, aber auch Schweizerinnen und Schweizer, die vor kurzem ihre Arbeit verloren hatten.
Am Sihlquai, weniger exponiert, warteten vor allem viele illegal hier Lebende aufs Essen. Menschen mit Aufenthaltsbewilligungen aller Art konnte man an beiden Orten sehen. Viele von ihnen trauten sich nicht aufs Sozialamt. Zu gross war die Angst, keine Verlängerung zu bekommen – trotz gegenteiligen Aussagen der Behörden.
Meist ältere AHV- oder IV-Bezüger und -Bezügerinnen erklärten, ihnen reiche das Geld auch mit Ergänzungsleistungen nicht bis Ende Monat. Auch viele Mütter aus dem afrikanisch/arabischen Raum stellten sich mit ihren Kindern in der einen oder andern Schlange an. Für Amine, der auf seiner Flucht Hunger gelitten hat, war es besonders schwer, diese Kinder zu sehen. Keins ging ohne Schokolade nach Hause.
Zurück zur aufsuchenden Gassenarbeit
Beide Organisationen sahen Mitte Juli, dass sie nicht mehr so weiterfahren konnten wie bisher. Beide sahen aber auch, dass die Zahl der Bedürftigen trotz Wiedereröffnung vieler Läden und Restaurants und der Wiedererlaubnis der Sexarbeit nicht etwa sank, sondern weiter zunahm.
Die Langstrasse erwies sich als Verteilort nicht mehr tragbar. Die Schlange der Hungrigen kollidierte immer mehr mit den Partygängern und Barbesuchern. Oft fielen böse Worte oder die auf Nahrungsmittel Wartenden wurden gar beleidigt, Restaurant- und Ladenbesitzer fühlten sich in ihrem Geschäft gestört. Auch die Solidarität von Spendenden und Helfenden der Gruppe «Incontro» nahm langsam ab, die Leute waren müde. Die vielen jungen Leute mussten zurück in die Schulen.
Ab Mitte Juli hat sich die Gruppe wieder auf ihre Kernarbeit der aufsuchenden Gassenarbeit im Langstrassenquartier konzentriert und verteilt jeden Tag fliegend Essensportionen. Was am Anfang so gut funktionierte, nämlich dass Freiwillige aus Zürcher Vorortsgemeinden Essen kochten, das ist leider vorbei. Offenbar konnten diese gutmeinenden Helferinnen nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die noch lange zu den Corona-Opfern zählen werden. Das Team arbeitete deshalb bisher mit verschiedenen Restaurants zusammen, die warmes Essen zum Selbstkostenpreis abgeben.
Bei ihrer Arbeit ist Schwester Ariane der mitmenschliche Kontakt genauso wichtig wie die Nahrungsmittelverteilung. Ein gutes Wort zur rechten Zeit scheint vielen auf der Gasse genauso gut zu tun und offenbar decken die bereits bestehenden und jetzt wieder geöffneten Institutionen dieses Bedürfnis nicht genug ab. Obwohl Schwester Ariane und Pfarrer Wolf nicht missionieren, sieht man sie auch öfters auf der Gasse beten.
Die Warteschlange ist jetzt versteckter
Auch Amine Diare Conde sah, dass es schwierig würde, die Räume der Autonomen Schule nach der Ferienzeit weiter zu benützen. In den Gängen und Räumen der Schule stapelten sich Esswaren und Hygieneartikel aller Art. Bei der Suche nach einem neuen Ort sah er ein, dass er einen Partner brauchen würde und fand ihn beim Sozialwerk Pfarrer Sieber. Dieses organisierte mit den SBB-Werkstätten sehr schnell eine neue Verteilzentrale, günstig gelegen und gross, aber genug versteckt, dass sich die reiche Stadt Zürich nicht mehr für ihre vielen Armen schämen muss.
Schwester Ariane und dem Verein «Incontro» fehlt im Moment sogar die Zeit, auszurechnen, wieviele neue Spenden und Ausgaben seit Ende Juni dazugekommen sind. Schwester Ariane schreibt in einem E-Mail: «Wir werden oft überrannt, die Not hat zugenommen. Wir haben ein Lokal in der Nähe der Langstrasse gesucht und gefunden. In einem Monat können wir es eröffnen. Dort werden wir Deutschkurse, ein Nähatelier, allgemeine und ärztliche Beratung anbieten.»
Im Gegensatz zu Amine Diare Conde beschloss die Gruppe, sich keiner schon bestehenden Hilfsorganisation angliedern, sie sieht sich als zusätzliche Institution. Ihre Bedeutung zeigt sich darin, dass «Incontro» zusammen mit der Beratungsstelle «Isla Victoria» zur Stelle war, als kürzlich ein Aufgebot der Zürcher Stadtpolizei rund fünfzig Sexarbeiterinnen In einem Gebäude an der Langstrasse wegen einer Covid-19-Ansteckung Quarantäne verordnete.
Ariane Stöcklin und Karl Wolf versorgten die Frauen mit Essen und werden sie bis zum Ende der Quarantäne und darüber hinaus begleiten. Schwester Ariane, die in den letzten Monaten viel Not und Elend gesehen hat, zeigte sich erschüttert über die engen Wohnverhältnisse im Gebäude. Die Frauen leben zu dritt und viert in winzigen Zimmern, die meisten von ihnen sind Kurzaufenthalterinnen.
Wer braucht das Essen wirklich?
«Essen für alle» hingegen konnte weiterhin genaue Zahlen angeben: Von Ende Juni bis Ende August verteilten die freiwilligen Helfer und Helferinnen jeden Samstag an rund 1000 Bezügerinnen und Bezüger Warenspenden von fünf bis sieben Tonnen. Dazu wurden wöchentlich Waren im Wert von 6000 Franken dazugekauft. Davon konnten via 2129 Bezugskarten insgesamt rund 8000 Menschen profitieren.
Wie die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber mit dem neuen Projekt umgehen wird, ist laut Pressesprecher Walter von Arburg noch in Entwicklung: Gibt es Doppelbezüger, die schon bei anderen Projekten der grossen Stiftung zum Zug kommen? Wer braucht das Essen wirklich oder für wen ist es nur eine hilfreiche Ergänzung? Wie viele sind überhaupt papierlos? Wie kontrollieren, ohne preiszugeben, was «Essen für alle» im Kern ausmacht, nämlich dass papierlose Menschen nicht kontrolliert werden dürfen? Werden die Spenden gleich hoch bleiben, wenn Amine nur noch einer von mehreren Projektmitarbeitern ist?
Bis jetzt kann man auf der Homepage des Sozialwerks nur auf sehr kompliziertem Weg für einzelne Projekte spenden. Walter von Arburg sagt dazu, die Solidarität müsse innerhalb der Stiftung funktionieren, nicht für Einzelprojekte. Aber alles sei noch in Diskussion.
Prominenz generiert Spenden
Amine, der bis vor kurzem abgewiesener Asylbewerber war, lebt seit fünf Jahren in der Schweiz. Fast sensationell für den Kanton Zürich: Sein Härtefallgesuch wurde vom Kanton bewilligt, jetzt fehlt noch das O. K. vom Bund. Er ist super integriert in der Schweiz, er schreibt Artikel für die «Papierlosen-Zeitung», er hat viele Schweizer Freunde und Freundinnen und spricht fast perfekt Deutsch. Er hilft seit langem als Freiwilliger in der Administration der Autonomen Schule und macht bei Musikprojekten mit. Die effiziente Verteilorganisation konnte er vor allem dank diesem riesigen Netzwerk aufbauen.
Fast 300 Menschen sind im Chat der freiwilligen Helfer und Helferinnen versammelt. Es wird für ihn nicht einfach sein, mit einer so durchstrukturierten Organisation wie dem Sozialwerk Pfarrer Sieber zu arbeiten. Er ist ein ausgezeichneter Organisator, aber Hierarchie, so sagt er, falle ihm schwer. Er sei ja aus Guinea geflüchtet, weil er nicht in einem autoritären Staat leben wollte. Zeitungen und Fernsehstationen haben über ihn berichtet, er wurde für den Prix Courage vorgeschlagen. Diese Prominenz hat ihn nicht verändert, sie gibt ihm Sicherheit und hat garantiert viele Spenden generiert. Gleichzeitig muss er an seine Zukunft denken. Er schliesst in den nächsten Tagen die Sekundarschule in Zürich ab und wünscht sich, Bauzeichner zu werden.
Aber sein Herz hängt an «Essen für alle». Aufgeben wird er diese Hilfsaktion sicher nicht.
Auch Schwester Ariane und Ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen werden auf jeden Fall weitermachen. Wie reduziert, wird sich noch zeigen und ebenfalls von den Spenden abhängen.
In den nächsten Monaten wird sich entscheiden, wie stark die beiden Organisationen weiter auf Solidarität zählen können. Die Stadt Zürich hat beide während dem Shutdown mit insgesamt 42’000 Franken unterstützt. Laut Auskunft der Medienstelle der Stadt ist je nach Bedarf mit weiterer Unterstützung zu rechnen. Immerhin: bis Ende September, so teilt das Sozialdepartement mit, wurden insgesamt rund 364’000 Franken Beiträge an verschiedenste Hilfsorganisationen geleistet. Vielleicht macht es auch Sinn, dass nicht alle Hilfe staatlich ist. Viele Essensbezügerinnen kommen aus Ländern, in denen man dem Staat nicht traut.
Dass Tausende von Bedürftigen mitten in der Stadt um Gratis-Essen anstehen, wird vermutlich nie mehr vorkommen. Aber dass viele weiterhin keine oder nicht genügend Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen erhalten, steht fest. Die vielen Papierlosen werden auch nicht einfach verschwinden.
Allein im Kanton Zürich leben über zehntausend «Sans-Papiers». Die Aussichten für Arbeitswillige im Niedriglohnbereich, vor allem im Gastgewerbe und in der Reinigung, haben sich noch kaum gebessert und die wirtschaftlichen Aussichten sind düster. Die Armut, auch die Kinderarmut – das ist besonders tragisch – wird weiter zunehmen. Zu hoffen ist, dass die vorübergehende Sichtbarkeit der Not in der Stadt Zürich dazu geführt hat, dass all die, denen es immer noch gut geht, nicht vergessen, weiter zu spenden. Denn der Staat allein kann offenbar diese Last nicht tragen.
alle Fotos: © Marc Bachmann