Wenn ich eine Schweizer Karte betrachte, blicke ich gleichsam auf eine Karte meiner Jugend. Familienbesuche, Wanderungen, Ferien mit den Eltern, später eigene Erkundungen mit dem Velo – sie fanden fast nur in der Schweiz statt, von der näheren Umgebung der Stadt Basel abgesehen, wo man das Elsass und den Schwarzwald zur Regio Basiliensis und damit zum Inland zählte.
Die Suche nach einem ländlichen Refugium
Meine Eltern, Angehörige jener Generation, welche wegen des Zweiten Weltkrieges die Schweiz kaum verlassen konnte, brachten ihren Kindern dennoch die Lust am Reisen bei, an der Entdeckung neuer Landschaften und Städte. Das Tessin oder der Genfersee waren uns so exotisch wie heute Kalifornien oder die Malediven.
Als die Familie in den frühen Fünfzigerjahren aus dem Dorf am Zürichsee nach Basel zog, wo die Häuser Mauer an Mauer aneinandergebaut und die Gärten schmal waren, begann die Suche meiner Eltern nach dem ländlichen Refugium. Zwischen dem Schwarzbubenland und den Freibergen vermassen wir ausgiebig potentielle Bauplätze für ein Wochenendhaus.
Das Stöckli im Oberbaselbiet
Immer wieder zerschlugen sich entsprechende Verhandlungen mit Gemeindebehörden und Landbesitzern, da eröffnete sich anfangs 1957 unverhofft die Möglichkeit, auf einem grossen Bauerngut im Oberbaselbiet das Stöckli zu mieten. Die Berner Tradition, wonach sich die Eltern ins Stöckli zurückziehen, wenn sie ihrem jüngsten Sohn den Hof übergeben, muss vereinzelt auch im Oberbaselbiet Fuss gefasst haben.
Vor mir liegt ein vor über 60 Jahren von meiner Mutter begonnenes bebildertes Album, auf dessen erster Seite in schwarz-roter Schrift der Titel „Arxhof – Stöckli“ prangt. „Wir passen schlecht in ein Stadthaus“, schreibt meine Mutter. „Bäuerliche Vorfahren haben in uns die Sehnsucht nach dem Land wachgehalten.“ Es folgen Karten, Wohnungsgrundrisse, Zeichnungen und Schilderungen von uns Kindern über unsere Erlebnisse auf dem Bauernhof.
Gedanken zum Stier und der Kuh
Hier wurden wir Kinder jeweils zu Bauern; ich lernte Misten, Traktorfahren und Heuen und machte mir, wenn der Stier hinter dem Stall eine Kuh besprang, meine Gedanken über das Funktionieren des Lebens. Und meine Mutter lernte, dass die Kleider des Bauern nach Gülle stinken und seine Schuhe vor Schmutz starren, wenn er abends aus dem Stall kommt.
Heute steht auf der Landeskarte beim Arxhof südlich von Bubendorf (BL) „Massnahmezentrum“. Tatsächlich machte im Jahre 1960 der Verkauf des Hofes an den Kanton Baselland unserem Wochenendparadies ein jähes Ende. Der Kanton zusammen mit Nachbarkantonen plante dort den Bau eines Heims für schwierige Jugendliche. Es dauerte allerdings noch über zehn Jahre, bis schliesslich 1971 das „Massnahmezentrum für junge Erwachsene“, wie es später genannt wurde, seinen Betrieb aufnehmen konnte.
Die Eichen von Schloss Wildenstein
Nicht nur das Album, das ich im Nachlass meiner Mutter gefunden habe, bestärkte meinen Entschluss, die Stätte meiner Jugend zu besuchen, sondern auch ein schmaler Fotoband mit dem Titel „Die Eiche – Königin aller Bäume“, verfasst von Urs Breitenstein, den ich vor bald zehn Jahren zufällig getroffen hatte, mit berührenden Fotos von Sabine Roth und Peter Gartmann vom Eichenhain von Schloss Wildenstein, das dem Arxhof gegenüber liegt und damals zum Einzugsgebiet meiner jugendlichen Streifzüge durch Feld und Wald gehörte.
Ein knallgelber Bus bringt mich vom Bahnhof Liestal zur Haltestelle Bubendorf Zentrum. Über den Schulhausplatz gehe ich in östlicher Richtung durch das Dorf, steige durch den Wald steil hinauf zum Plateau des Murenberg, wo in wenigen Wochen die Kirschbäume blühen, und weiter südwärts zum Schlosspark Wildenstein. Nicht einen englischen oder gar französischen Park gezähmter Natur findet der Wanderer hier, sondern ein Refugium für knorrige Individualisten, zum Teil über 500 Jahre alte Eichen, deren moosbewachsene Äste wild geformte Kronen bilden, welche von den Stürmen des Lebens und Überlebens erzählen.
Schloss und Park gehören heute dem Kanton. Seit 1997 steht der Eichenhain unter Naturschutz. [1] Die Ursprünge von Schloss Wildenstein gehen auf die Zeit um 1200 zurück. [2] Wenn wir damals vom Arxhof hinüber in den Schlosspark kamen, um zwischen den alten Eichen Verstecken zu spielen, fühlten wir uns wie Bauernkinder zu Besuch bei der fürstlichen Herrschaft.
Im Bentley von Basel zur Weekend-Villa
Auf einem schmalen Pfad, unter den Felsen von Allment und Ägerten vorbei und den Allmentgraben überquerend, erreiche ich den Arxhof. Die alten Häuser – auch sie stehen unter Schutz – sehen immer noch so aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Die neuen Gebäude des Massnahmezentrums stehen etwas abseits. Auch „unser“ Stöckli entspricht den Bildern im Album meiner Mutter. Auf der Südseite, beim Aufgang zur Laube, zeugen diverse Gerätschaften und herumliegende Kinderspielsachen davon, dass hier intensiv gelebt wird. Vor dem Haupthaus steigt eben eine Frau in ihr Auto. Der Wanderer wird nicht beachtet, und so muss ich weiterziehen, ohne über das heutige Leben auf dem Hof etwas erfahren zu haben.
Ich nehme das Strässchen hinauf zur Abendsmatt, vorbei an der Villa, wohin einst der Bruder des Pächters, durch Heirat und Beruf zu Geld gekommen, übers Wochenende mit Frau und sechs Kindern im Bentley von Basel hergefahren ist. Von der Arxhof-Bäuerin, welche sich mit meiner Mutter angefreundet hatte, wussten wir, dass die reiche Basler Schwägerin jeweils am Freitag telefonisch Order ausgab, man solle bitte in der Villa alle Öfen und den Kessel für das Heisswasser einheizen.
Die letzte Beiz hat zugemacht
Von der Abendsmatt geht der Blick ins Tal der Vorderen Frenke. Man ahnt Waldenburg und den Oberen Hauenstein, dahinter steht der Grat des Rehhag gegen den Horizont. Über die Glingmatt führt mich der Weg auf der Höhe, welche die beiden Frenkentäler trennt, nach Titterten. Das kleine Bauerndorf ist während der letzten dreissig Jahre von Einfamilienhäusern umzingelt worden, ohne dabei allerdings den Verlust dörflicher Infrastruktur aufhalten zu können, wie mir eine Schülerin auf dem Weg zur Bushaltestelle bestätigt. Die letzte Beiz hätte hier vor ein paar Jahren zugemacht, ich müsse schon nach Reigoldswil hinunter, wenn ich etwas essen wolle.
Ein kurzes letztes Wegstück ohne grosse Erlebnisse, sage ich voreilig meinem knurrenden Magen. Aber weit gefehlt: Hat man, westwärts gehend, Einfamilienhäuser und ARA hinter sich gelassen, führt der Wanderweg jäh in ein wildes enges Tobel hinunter. Hier fühlt man sich jenseits der Moderne. Rechts oben über den steil aufsteigenden Felsen liegt die Ruine Rifenstein, und man würde sich nicht wundern, wenn einem gleich ein Ritter oder – noch besser – ein schönes Burgfräulein entgegenkäme.
Mögliche kürzeste Verbindung Basel-Bern
Kaum zwanzig Minuten dauert die Reise durch die andere Welt, schon tauchen die ersten Häuser von Reigoldswil auf. Das Dorf zuhinterst im Tal der Hinteren Frenke, im Volksmund in Anspielung an die einstige Heimposamenterie (Seidenweberei) auch Fünflibertal genannt, hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für kurze Zeit grosse Hoffnung, aus seiner bitteren Armut zu entkommen. Im Jahre 1873 erhielt die Schweizerische Centralbahn eine Konzession für eine Bahnlinie von Liestal nach Reigoldswil und durch den Wasserfallentunnel nach Mümliswil, Balsthal und Oensingen. [3]
So wäre die kürzeste Verbindung zwischen Basel und Bern entstanden. In Reigoldswil wurden Häuser renoviert, ein grosser Platz gebaut und oberhalb des Dorfes mit dem Bau des Tunnels begonnen. Doch nach zwei Jahren ging das Geld aus. Zurück blieben Enttäuschung und Schulden. Die Heimarbeit der Posamenter rettete das Tal vor dem Ruin.
Die junge Wirtin ist eine Kurdin
Ich erinnere mich an eine Erkundung vor vielen Jahren des 150 Meter in den Berg getriebenen künftigen Eisenbahntunnels oberhalb der heutigen Seilbahn zur Wasserfalle. Heute verzichte ich auf diesen Umweg und suche nach einem Lokal fürs Mittagessen. Schilder gäbe es genug am Platz, aber die meisten Wirtshäuser sind geschlossen oder nur abends als Bar offen. Schliesslich lächelt mir die „Sonne“ zu, mit einem auf einer schwarzen Tafel avisierten Menu. Als Wanderer kann man nicht wählerisch sein und stösst manchmal gerade deswegen auf Überraschungen.
Die Gaststube ist leer, nur ein paar laut diskutierende Männer sitzen an einem runden Tisch. Eine charmante junge Frau kommt hinter der Theke hervor und begrüsst den Fremdling mit Handschlag. Natürlich könne ich hier etwas essen, es sei noch lange nicht zu spät, antwortete sie auf meine Frage. Das Essen ist gut und preiswert.
Später komme ich mit der jungen Wirtin, die nicht wie eine Reigoldswilerin aussieht, ins Gespräch. Sie komme aus der Türkei, sagt sie, und als ich es genauer wissen will, fügt sie bei, sie sei Kurdin. Ich erzähle ihr von meiner Forschung am Vannsee vor dreissig Jahren und meinen Besuchen in Kurdendörfern, deren Bewohner nach anfänglichem Misstrauen gegenüber den Fremden immer freundlich und interessiert gewesen seien.
Erinnerungen im Autobus
Als ich später die paar Schritte zur Bushaltestelle gehe, dort vergeblich im Rucksack nach meinen Handschuhe suche, läuft mir schon über den Platz die Sonnenwirtin mit dem Vergessenen entgegen. Sie hätte gefürchtet, ich sei schon weg, meinte sie lachend, dann hätte ich wiederkommen müssen.
Als ich im Bus durch das Tal fahre, fühle ich eine tiefe Zufriedenheit mit der Welt und diesem kleinen Flecken Erde, den ich seit meiner Jugend kaum mehr besucht hatte. Eine Kurdin im Fünflibertal – vielleicht gibt es mehr geschichtliche Parallelen, als man glauben könnte, abgesehen von einer kleinen historischen Zeitverschiebung.
Und noch jemand kommt mir in den Sinn im gelben Bus der Autobus AG Liestal: mein Schwiegervater, der einst den Verwaltungsrat der AG präsidiert und von dem ich gelernt hatte, dass die Buslinie zwischen Liestal und Reigoldswil bei ihrer Eröffnung im Jahre 1905 die erste konzessionierte Buslinie der Schweiz gewesen war. [4] Dank der Seidenweberei im abgelegenen Tal und nach dem Schock der gescheiterten Wasserfallenbahn hatte das Hintere Frenkental mit seinem Bus gegenüber der Zwillingsschwester doch etwas aufholen können.
Noch ein steckengebliebenes Bahnprojekt
Durch das Vordere Frenkental fährt seit 1880 das Waldenburgerli auf holperigen Schienen mit einer Spurweite von nur 75 cm. Aber auch dieses Bahnprojekt blieb damals an den Jurahöhen stecken; die ursprünglich geplante Fortsetzung über den oberen Hauenstein nach Langenbruck und Balsthal ist nie realisiert worden.
Vor lauter Träumerei verpasse ich die Abzweigung der Strasse nach Arboldswil, wo ich jeweils am Samstagabend nach der Pfadfinderübung aus dem Bus gestiegen und den halbstündigen Weg hinauf zum Arxhof unter die Füsse genommen hatte. Aber ich habe das Bild des zwischen den Jurahöhen eingebetteten Bauerhofes in meinem Kopf – aufgefrischt und voller Dankbarkeit für meine Eltern, welche ihren Stadtkindern diese Erfahrung ermöglicht haben.
[1] https://www.fuenflibertal-tourismus.ch/bubendorf/eichenwitwald-wildenstein/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Wildenstein_(Bubendorf)
[3] https://www.fuenflibertal-tourismus.ch/fuenflibertal/eisenbahneuphorie-fuenflibertal/
4] https://www.fuenflibertal-tourismus.ch/fuenflibertal/erste-konzessionierte-buslinie-schweiz/