Natürlich kennen schon viele Menschen weltweit Talebs Meisterwerk «Der Schwarze Schwan». Aus aktuellem Anlass möchte ich Ihnen diese Lektüre in Erinnerung rufen. Für all jene, die das Buch bisher verpasst haben folgt hier eine sehr persönlich gefärbte Kurzpräsentation der Botschaft des brillanten Essayisten, der seinen Kopf riskierte – wie er selber sagte – als er die Behauptung aufstellte, «dass unsere Welt vom Extremen, Unbekannten und sehr Unwahrscheinlichen beherrscht wird».
«Die Kombination von geringer Vorhersagbarkeit und starken Auswirkungen macht den Schwarzen Schwan zu einem grossen Rätsel.» Der Autor bezieht sich auf jene Überzeugungen der Menschen in der Alten Welt – bevor Australien entdeckt wurde –, als die davon überzeugt waren, dass alle Schwäne weiss wären. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, war klar, welche «schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung unser Wissen» erfährt.
Was seither als Schwarzer Schwan (mit einem Grossbuchstaben am Anfang) gilt, ist ein Ereignis mit drei folgenschweren Attributen: Es ist ein Ausreisser, es hat enorme Auswirkungen und es bringt uns dazu, im Nachhinein Erklärungen für sein Eintreten zu konstruieren.
Unwahrscheinliche Ereignisse
Bei Talebs zentraler Idee geht es um unsere Blindheit gegenüber dem Zufall, insbesondere gegenüber grossen Abweichungen: Weshalb, so fragt sich der Autor, weshalb konzentrieren wir uns auf Kleinigkeiten, nicht auf die möglichen grossen bedeutungsvollen Ereignisse, trotz der offensichtlichen Beweise für ihren starken Einfluss? Und etwas maliziös: Weshalb verringert sogar das Lesen der Zeitung unser Wissen über die Welt?
In diesem Buch geht es um Ungewissheit, denn für Taleb bedeutet das seltene Ereignis Ungewissheit. «Nahezu alles im sozialen Leben wird durch die seltenen, aber folgenschweren Erschütterungen und Sprünge hervorgerufen.» Die überraschenden Konklusionen und unkonventionellen Denkvarianten des libanesischen Finanzmathematikers sind ausdrücklich als Essay deklariert, in dem eine primäre Idee zum Ausdruck gebracht wird, nicht um das Recyling oder die Neuverpackung der Gedanken von anderen Menschen. Wunderbar die Formulierung: «Ein Essay ist eine impulsive Meditation, kein wissenschaftlicher Bericht.»
Unser Problem
Wir denken zu oft in schlüssigen Geschichten, verknüpfen Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. So schaffen wir uns eine Welt, in der wir uns zurechtfinden. Aber die Wirklichkeit ist anders: chaotisch, überraschend, unberechenbar.
Doch das Problem ist sogar noch allgemeiner, es betrifft das Wesen des empirischen Wissens selbst. «Etwas hat in der Vergangenheit funktioniert, bis – na ja, es funktioniert jedenfalls unerwarteterweise nicht mehr, und das, was wir aus der Vergangenheit gelernt haben, erweist sich bestenfalls als irrelevant oder falsch, schlimmstenfalls als furchtbar irreführend.»
Persönliche Zwischenbemerkung: der Stromausfall zuhause
Fragen wir uns an dieser Stelle, wie wir dem Überraschenden und Unwahrscheinlichen in den eigenen vier Wänden begegnen. Nehmen wir an, mit einem kurzen, trockenen Knall fällt um 22.00 Uhr – mitten im 10 vor 10 am TV – der Strom in unserer Wohnung aus. Was nun? Wahrscheinlich zünden wir ein, zwei Kerzen an. Jetzt sehen wir wenigstens unsere verblüfften Gesichter wieder. Wir geraten weder in hektisches Ursache-Suchen, noch in Panik, sondern treten auf die Terrasse. Wir sehen – oh Wunder – unzählige Sterne am Himmel und realisieren, warum. Der Black-out ist überregional, die Nachbarhäuser sind von der Dunkelheit verschluckt.
Das Unwahrscheinliche hat, neben dem negativen auch einen positiven Aspekt: Wir sind erschlagen von der Schönheit «unseres» nächtlichen Himmels. Noch nie haben wir dieses Spektakel in solcher Klarheit gesehen. Der künstliche Lichterglanz unseres perfektionierten Nachtlebens – nachbarliche Schocklichter, grell erleuchtete Fassaden, blau flackernde TV-Geräte auf jedem Stock, blendende Strassenlampen – verhinderte ganz einfach den Durchblick auf die spektakuläre grosse Welt. Wir setzen uns auf die Balkonstühle und werden still.
Wir realisieren: Nach dem Ungemütlichen, Bedrohlichen, Nachteiligen zeigt sich die andere Seite des Schocks – die eminent wichtigere. Wir haben das bisher schlicht übersehen. Und nach jeder Katastrophe folgt die Beruhigung, eine neue Normalität. Vielleicht eine nachhaltigere, gesündere?
Blindheit gegenüber Schwarzen Schwänen
Zurück zu Taleb: Wir lernen aus Wiederholungen – auf Kosten von Ereignissen, die es bisher noch nicht gegeben hat. Ereignisse, die nicht wiederholbar sind, werden vor ihrem Eintreten ignoriert und danach überschätzt. Der Volkswirtschaftler Hyman Minsky meinte aus seiner Optik, dass auch «die Zyklen beim Eingehen von Risiken in der Wirtschaft einem Muster folgten: Stabilität und das Ausbleiben von Krisen führen dazu, dass die Leute Risiken eingehen, selbstgefällig sind und sich der Möglichkeit von Problemen weniger bewusst sind».
Schluss
Lassen Sie mich diese sehr kurze Wiedergabe einiger Gedanken Talebs und meines kurzen Beispiels aus dem Alltag mit dem Schluss des Buches beenden. «Es erstaunt mich manchmal, dass Leute deprimiert sind oder wütend werden, weil sie sich durch ein schlechtes Essen, kalten Kaffee, eine soziale Abfuhr oder einen unhöflichen Empfang betrogen fühlen. Ich habe ja darüber gesprochen, wie schwierig es ist, die wahren Chancen für die Ereignisse, die unser Leben bestimmen, zu erkennen. Wir vergessen schnell, was für ein aussergewöhnlicher Glücksfall es schon ist, dass wir überhaupt leben, ein äusserst unwahrscheinliches Ereignis, ein Zufall von gigantischen Proportionen. Stellen Sie sich ein Staubkorn neben einem Planeten vor, der eine Milliarde Mal so gross ist wie die Erde. Dieses Staubkorn repräsentiert die Chancen dafür, dass wir geboren werden, der riesige Planet die Chancen dagegen. Deshalb sollten Sie aufhören, sich den Tag durch Kleinigkeiten verderben zu lassen.»
Nassim Nicholas Taleb:
«Der Schwarze Schwan»
Hanser Verlag, 2008