In Portugal brennt es wieder, diesmal aber nicht, wie so oft, in Wäldern, sondern in Afro-Quartieren bei Lissabon und sogar in einzelnen Quartieren der Hauptstadt selbst. Es kam dort zu Unruhen, nachdem ein 43-jähriger Einwanderer aus Cabo Verde infolge von Schüssen aus der Waffe eines Polizisten den Tod gefunden hat – unter nicht ganz klaren Umständen.
Wenn in Portugal von Einwanderung die Rede war, dann ging es in jüngerer Zeit mehr um die «neuen» Migranten, also die aus Indien und Pakistan, aus Nepal und Bangladesch. Noch hat sich die Öffentlichkeit eben nicht ganz an die Frauen mit Kopftüchern, an Männer mit Turbanen und ihre oft prekären Unterkünfte in Zelten unweit des Zentrums von Lissabon gewöhnt. Plötzlich sind aber die schon älteren Afro-Quartiere in einigen Vororten der Hauptstadt ins Blickfeld gerückt. Grund hierfür sind Unruhen nach dem Tod eines Einwanderers aus Cabo Verde infolge von Schüssen aus der Waffe eines Polizisten in den frühen Morgenstunden dieses Montags. Ort der Handlung war das stigmatisierte Afro-Quartier Cova da Moura, wohl grösstes Afro-Viertel im Land, wenige Autominuten nordwestlich von Lissabon.
Tödliche Schüsse am frühen Morgen
In mehreren Quartieren markiert die Polizei massive Präsenz, nachdem wütende Bewohner nicht nur Müllcontainer, acht Autos, ein Motorrad und Autoreifen in Brand gesteckt hatten. Am Dienstag brachten Protestierende zwei Busse des öffentlichen Nahverkehrs in ihre Gewalt. Fernsehbilder zeigten einen davon, total ausgebrannt. Nach Informationen von Mittwochmorgen hatte die Polizei drei Personen festgenommen. Innenministerin Margarida Blasco sprach von inakzeptablem Vandalismus und versicherte, dass die Regierung alles tun werde, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ministerpräsident Luís Montenegro will an diesem Donnerstag mit den BürgermeisterInnen von Gross-Lissabon über Wege zur Eindämmung der Tumulte beraten. Ein Polizeisprecher kündigte derweil eine Politik von «Nulltoleranz» gegenüber der Gewalt und, falls nötig, eine Verstärkung der polizeilichen Präsenz an.
Über das, was genau passiert ist, stimmen die verschiedenen Versionen nicht ganz überein. Unbestritten ist offenbar, dass das Opfer, der 43-jährige Odair Moniz, das Viertel Cova da Moura nach einer Feier gegen 5:40 Uhr mit seinem Auto verliess und Polizisten in einem Streifenwagen auffiel. Er soll ins Viertel mit engen verwinkelten Gassen geflüchtet und die Polizei ihm gefolgt sein. Odair Moniz habe mehrere andere Autos gerammt und sei schliesslich von der Polizei gestellt worden, heisst es. Laut der Polizei wehrte er sich mit einem Messer gegen seine Festnahme. Ein Polizist gab zwei Schüsse ab, zwei in die Luft und zwei auf das Opfer, das schnell ins Spital gebracht wurde. Dort erlag der Vater von drei Kindern, der in einem Restaurant in Lissabon als Koch arbeitete und den Personen, die ihn kannten, als umgänglich beschreiben, seinen Verletzungen. Und prompt begann die Wut sich zu entladen.
Nach polizeilicher Darstellung hatte sich in der fraglichen Nacht aber noch ein anderer Vorfall ereignet. Mit einem Anruf unter falschem Vorwand sei die Polizei um rund 4 Uhr morgens ins Quartier gerufen worden. Im Quartier habe jemand sechs Schüsse auf ihren Wagen gefeuert. Eine Kugel sei durch das Blech gedrungen und habe innen nur knapp das Gesäss eines Beamten verfehlt.
Kampf gegen Ausgrenzung und Stigma
Gegen den noch jungen Polizisten, der seine Waffe abgeben musste, läuft ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen dieses mutmasslichen Tötungsdeliktes. Laut Medienberichten von Mittwoch deuten erste Ermittlungen auf unverhältnismässige Notwehr hin. Im Raum steht derweil wieder einmal die Frage, wie gut oder schlecht die Polizei ausgebildet ist und – vor allem – wie es in ihren Reihen um den Rassismus steht und wie stark die Polizei von Sympathisanten der xenophoben Partei Chega infiltriert ist.
Gerade das von den späten 1970er Jahren an illegal errichtete Quartier Cova da Moura mit überwiegend afrikanischen oder afro-stämmigen Bewohnern blickt auf eine Geschichte von diversen Vorfällen zwischen Bewohnern und Polizei mit Toten auf beiden Seiten zurück. Und doch ist dieses Quartier mit, laut Schätzungen, rund 8‘000 Bewohnern, das oft mit Verbrechen und Schmuddel assoziiert wird, weit besser als sein Ruf. In den 1980er Jahren entstand, auf massgebliche Initiative der aus Belgien stammenden Lieve Meersschaert und ihres portugiesischen Mannes, Eduardo Pontes, die Vereinigung «Moinho da Juventude» (Mühle der Jugend, wegen den Resten einer früheren Windmühle), die in jahrelanger Kleinarbeit gegen Ausgrenzung und Stigma ein imposantes und landesweit bewundertes soziales Netzwerk geschaffen hat.
Mittlerweile hat sich das Quartier so weit geöffnet, dass dort sogar schon Szenen für Telenovelas gedreht werden konnten. Und die Vereinigung organisiert Führungen für interessierte Leute. Sie sehen und erleben ein Viertel mit vielen jungen Leuten, einer regen Musikszene, Restaurants für Afro-Kost und Friseursalons, wo sich Frauen ihr Haar zu feinen Zöpfen flechten lassen können. Im Herbst 2018 organisierte der Schreibende eine solche Führung für eine Schulklasse aus der Schweiz, deren Mitgliedern keine Angst anzumerken war. Wenig später war Königin Matilde aus Belgien dort zu Besuch. Und wenn portugiesische Spitzenpolitiker auf Tuchfühlung mit der afrikanischen Bevölkerung gehen wollen, führt ihr Weg oft nach Cova da Moura.
Ein Gericht setzte ein Zeichen – und löste Reaktionen aus
Ein Fall von Polizeigewalt und sein Nachspiel werfen aber bis heute ihre Schatten. Als der Luso-Afrikaner Rui Moniz im Februar 2015, damals 23 Jahre alt, die Polizeiwache von Alfragide bei Lissabon unfreiwillig von innen kennenlernte, war er an einem Arm noch von einem leichten Schlaganfall gezeichnet. «Und du bist nicht gestorben? Dann stirbst du diesmal», habe ihm ein Beamter gesagt; dies versicherte er einige Jahre später gegenüber dem Schreibenden. Und als dunkelhäutiger Portugiese sei er «pretogues» (anstatt «português», preto bedeutet schwarz). Im Gespräch beschrieb Rui Moniz, wie er und fünf andere junge Männer aus Cova da Moura drei Tage lang festgehalten, mit Tritten und Schlägen traktiert und verbal erniedrigt worden seien.
Seiner Darstellung jener Vorfälle und den Darstellungen der anderen jungen Männer schenkte ein Gericht in Sintra bei Lissabon im Jahr 2019 mehr Glauben als den Versionen von 17 Polizisten, die auf der Anklagebank sassen und sämtliche einschlägigen Vorwürfe bestritten. Noch nie hatten sich in Portugal so viele Polizisten auf einmal wegen mutmasslicher Übergriffe verantworten müssen. In erster Instanz sprach das Gericht acht der Angeklagten für schuldig. Obwohl die Urteile nach Ansicht von Kritikern recht milde ausfielen, setzte das Gericht ein Zeichen, auf das Polizisten aber reagierten. Als Plattform gegen Dienst in Problemvierteln und für die Verbreitung teils xenophober Ideen entstand die Organisation «Movimento Zero». Sie fand in der rechtsextremen Partei Chega, die seit 2019 im nationalen Parlament vertreten ist und dort jetzt 50 Abgeordnete stellt, politische Unterstützung. Chega macht sich auch zum Sprachrohr für Forderungen nach besserer Bezahlung.
Angehörige der Sicherheitskräfte mit xenophoben Sympathien
Einige Wellen schlug im November 2022 die Nachricht über Indizien für eine wachsenden Sympathie für xenophobes Gedankengut in den Reihen der für die Sicherheit in den Städten zuständigen Polícia da Segurança Pública (PSP) und der eher für ländliche Gebiete zuständigen paramilitärischen Guarda Nacional Republicana (GNR). Immerhin knapp 600 Angehörige dieser Sicherheitskräfte hatten in sozialen Netzwerken xenophobe oder rassistische Ansichten vertreten oder gar eine Sympathie für Gewalt gegen hohe Figuren aus der Politik bekundet.
Der jüngste Vorfall ereignete sich in einer Zeit, da die Einwanderung stark zunimmt, ein breiter politischer Grundkonsens um die Offenheit des Landes für die Migration bröckelt und Chega sogar ein Referendum über die Einwanderung fordert.
Hat der Polizist, der am Montag die tödlichen Schüsse abgefeuert hat, rassistische Gedanken gehegt? Oder war er auf die Situation schlicht nicht vorbereitet? Zu welchem Ergebnis die Ermittlungen auch immer kommen – es wird kaum einvernehmlich sein.