Man nennt es auch das «Museum am Stadtgarten», um der Verwechslung mit dem anderen Reinhart-Museum, der weltbekannten Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», vorzubeugen. Die Stadt Winterthur mit ihren gerade mal hunderttausend Einwohnern hat das luxuriöse Problem, dass angesichts ihres Reichtums an hochkarätigen Kunstmuseen die anreisenden Kulturfreunde den Überblick zu verlieren drohen. Denn da gibt es auch noch das Kunstmuseum Winterthur, das sich mit seiner exzellenten Sammlung und einem Ausstellungsprogramm von internationalem Rang auf dem Niveau der beiden berühmten Reinhart-Häuser behauptet.
Aus für das Museum Briner und Kern
Der Kunstreichtum ist indes für Winterthur zur Last geworden. Die klamme Stadtkasse und die wohl nicht volle Klarheit in der städtischen Kulturpolitik haben leider dazu geführt, dass mit der Villa Flora eines der zauberhaftesten Kunstmuseen auf unbestimmte Zeit geschlossen wurde. Damit nicht genug: Einem definitiven Verdikt unterlag das bis vor kurzem im Rathaus domizilierte Museum Briner und Kern, das zwei private, der Stadt geschenkte Kunstsammlungen vereinte. In diesem Fall drängte die Schliessung sich leider auf. Das kleine Museum blieb in seinem 44jährigen Bestehen ein unentdecktes Juwel und fand neben den lokalen Schwergewichten nie seinen Platz. Ende Oktober war Dernière – erstaunlicherweise mit durchaus mässigem Bedauern, wie das Lokalblatt «Der Landbote» berichtete.
Seit langem ist vorgesehen, dass die Schätze der Stiftung Jakob Briner – vor allem niederländische Bilder aus dem «goldenen» 17. Jahrhundert – im benachbarten Haus am Stadtgarten eine Bleibe bekommen. Doch die dafür vorgesehenen Räume konnten bis jetzt nicht hergerichtet werden. Finanzielle Engpässe auch hier.
Prächtige und informative Schau
Nun aber richtet, gewissermassen als Vorgeschmack auf das noch unsicher Geplante, das Museum Oskar Reinhart eine temporäre Ausstellung mit dem durch Leihgaben ergänzten Kernbestand der Briner-Stiftung aus. So ist eine prächtige Schau zustande gekommen, die trotz des Fehlens der ganz grossen Namen – mit Rembrandt, Hals und Vermeer kann sie nicht aufwarten – einen äusserst sehenswerten Überblick über das «Goldene Zeitalter» der holländischen Malerei gibt.
Mit dem Ausstellungstitel «Oranje!» versucht man offenbar populär zu sein. Ob der Anklang an holländischen Fussball die von Kulturveranstaltern immer und überall gesuchten «neuen Zielgruppen» ins Museum holt? Glücklicher als die Affiche ist das Konzept der Schau. Es zeigt die Gemälde nach Bildgattungen gruppiert und begleitet sie grosszügig mit Informationen. So erfährt man viel über die wirtschaftlichen und soziokulturellen Hintergründe dieses «Goldenen Zeitalters», über die zu Unternehmern gewordenen Maler, den damaligen Kunstmarkt und seine Auswirkungen auf die Kunstproduktion. Auch zu den Bildgattungen und den einzelnen Werken gibt es Aufschlüsse, die zu einem historischen Verständnis des Gezeigten anleiten. Man fühlt sich davon nicht didaktisch gegängelt, sondern kundig begleitet. Breitere und vertiefende Informationen bietet der Ausstellungskatalog mit dem ausgezeichneten Text von Tabea Schindler und den erfreulich guten Reproduktionen.
Kunstfertigkeit auf höchstem Niveau
Wie ein Motto der Ausstellung liest sich der vom Historienmaler und Kunsttheoretiker Karel van Mander (1548 – 1606) geprägte zweigliederige Grundsatz «Nae t’leven – uyt den gheest». Dessen erster Teil war zu jener Zeit eine Selbstverständlichkeit: Kunst hatte sich nach der Natur oder eben «nach dem Leben» zu richten, die Realität zu imitieren, zu spiegeln, sodass die Bilder als «täuschend echt» erschienen.
Namentlich bei Porträts und Stillleben erklomm die handwerkliche Kunstfertigkeit in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts immer neue Höhen. Der Schimmer von Seide, die Zartheit textiler Spitzen, Haut und Fleisch von Früchten oder Meerestieren, Gefieder, Porzellan, Perlen, Gold und Glas: es wurde vor Augen gestellt, dass man es ertasten und riechen zu können glaubte.
Doch das Spiegeln der Natur allein machte noch nicht die Kunst. Erst gepaart mit dem zweiten Teil des Grundsatzes, wonach ein Bild auch aus der Vorstellungskraft des Künstlers hervorzugehen habe, konnte ein Werk dem ästhetischen Ideal genügen. Dieses «uyt den gheest» (aus dem Geist) meinte bei van Mander zunächst prosaisch das visuelle Erinnerungsvermögen, aus dem der Maler einen im Augenblick unvollständig sichtbaren Gegenstand ergänzt oder eine nicht direkt beobachtbare Szenerie gestaltet.
Bildbotschaften entschlüsseln
Darüber hinaus meint das «uyt den gheest» aber auch die Bedeutungen, die der Künstler mit dem Bild oder einzelnen Bildelementen verknüpft. Die Malerei begnügte sich nicht mit ihrer vordergründigen Kunstfertigkeit, sondern stellte sich in den Dienst von Botschaften, die es für die Betrachter zu entschlüsseln, im Zusammenhang zu deuten und in ihrer Relevanz für sie selbst zu verstehen galt.
Zur Kunst des Betrachtens von Bildern gehörte gewissermassen als visuelle Alphabetisierung die Kenntnis der Symbolik von Bildgegenständen. Wer beispielsweise nicht weiss, dass Musikinstrumente und Notenblätter auf die Flüchtigkeit der Musik in der vergehenden Zeit und damit das vergängliche Leben – ein religiöses oder philosophisches Motiv – gemünzt sind, kann sie als Elemente von Stillleben nicht «lesen».
Zugang über historisches Verstehen
Die Ausstellung im Oskar Reinhart Museum ist darauf angelegt, die historischen Bedeutungen der Bilder zu vermitteln und so eine werknahe Betrachtung zu ermöglichen. Neben der Entschlüsselung visueller Symbole erklärt sie, was in dieser Malerei kunstgeschichtlich neu ist: die realistische Darstellung von Landschaften etwa, oder die «wissenschaftliche» Sichtweise bei Stillleben. Dass die fröhlich-derben Genrebilder von zechenden Bauern oder schäkernden Bediensteten neben dem Alltagskolorit zugleich moraltriefende Ermahnungen zu gottgefälligem Lebenswandel sind, würde ein heutiges Publikum ohne den historischen Hinweis kaum vermuten.
Über solche Interpretationshilfen hinaus informiert die Ausstellung auch über die Zeitumstände, aus denen das «Goldene Zeitalter» hervorgegangen war. Nach der Befreiung von der spanischen Herrschaft erlebten die Niederlande ein Wirtschaftswunder. Seefahrt und Kolonialhandel brachten einen voll entwickelten Kapitalismus hervor mit Börsen, Banken und Aktiengesellschaften. Kulturell waren der Calvinismus und ein erstarktes, breite Teile der Gesellschaft prägendes Bürgertum dessen treibende Kräfte.
Im freien Wettbewerb zur Hochblüte
Die Maler verloren durch den bilderfeindlichen Calvinismus die klerikalen und durch die Verbürgerlichung der Gesellschaft die adligen Auftraggeber. Sie wurden zu selbständigen Handwerkern, vielfach zu eigentlichen Unternehmern. Die zu Wohlstand gekommenen Schichten schmückten ihre Bürgerhäuser mit Gemälden; es entstand ein florierender Kunstmarkt, der einer erstaunlichen Zahl von Malern (und sogar einigen wenigen Malerinnen) ein gutes Auskommen bot.
Die Konkurrenz unter den freien Kunstproduzenten führte zu einem so noch kaum dagewesenen Qualitätswettbewerb, zugleich aber auch zu stetiger Anpassung an Geschmack und Präferenzen der Käufer. Letzteres erklärt etwa das Verschwinden der in der damaligen Kunsttheorie als Krone der Malerei gepriesenen Historienbilder. Die Bürger hatten an derart erhabenen Sujets kaum Interesse. Sie bevorzugten Bilder mit Bezug zu ihrer Umwelt, ihrem Alltag, ihrem privaten Leben.
Skurrile Sammlerfigur
Anscheinend hat diese «bürgerliche» Ästhetik der niederländischen Meister den Sammler Jakob Briner begeistert. Dieser Mann ist unter seinesgleichen ein Unikum. Ihm fehlten alle Voraussetzungen für das Sammeln bedeutender Kunstwerke: Weder war er reich noch verfügte er über kunsthistorisches Wissen oder sonstige höhere Bildung. 1882 in Winterthur als Sohn eines Bahnbeamten geboren, machte er eine Elektrikerlehre in der Maschinenfabrik Oerlikon. Von 1902 bis 1907 arbeitete er als Freileitungsmonteur für Trambahnen in Frankreich und Italien. Danach war er vierzig Jahre lang Zollbeamter, zuerst in Basel und ab 1915 in Zürich.
Der Junggeselle sammelte. Er tat es mit Leidenschaft und vorerst ohne klares Konzept, und so kam denn neben Kunst alles mögliche an Kunstgewerbe, Antiquitäten, Büchern, Urkunden, Textilien und auch Ramsch zusammen. Briner reiste quer durch Europa, kaufte ohne Beratung wild zusammen, was seinen Sammlertrieb weckte und führte penibel über alles Buch.
Vom Spleen zur bedeutenden Kunstsammlung
Vieles, was er zusammentrug, war in den Augen von Fachleuten wertlos, seine Leidenschaft aus der Sicht von Verwandten ein Spleen. Je mehr sich unter all den Dingen Kunstgegenstände ansammelten, ging Briner dann doch dazu über, Experten zu konsultieren. Ein renommierter Kenner lenkte seine Aufmerksamkeit auf die niederländischer Malerei des 17. Jahrhunderts, die in Briners Sammlung wohl eher zufällig mit einigen Stücken vertreten war. Der Autodidakt fing Feuer für diese Bilderwelt, arbeitete sich ein, legte eine umfangreiche Fachbibliothek an und schulte mit den Jahren sein Urteilsvermögen. Seine Reisen konzentrierten sich fortan auf Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Amsterdam und London, wo die von Briner nunmehr bevorzugte Kunst in Galerien und auf Auktionen zu kaufen war.
Seit den fünfziger Jahren machte Jakob Briner sich Gedanken über die Zukunft seiner Sammlung. 1960 widmete ihr das Kunstmuseum Winterthur eine Ausstellung. Als Briner 1967 starb, fand sich ein Testament, das der Stadt Winterthur eine Stiftung zueignete, die nicht nur die Kunstsammlung umfasste, sondern auch eine grosse Landparzelle in Herrliberg. Briner hatte sie in den unsicheren Jahren 1939-45 als Geldanlage gekauft, wohl ohne zu ahnen, wie deren Wert in der Nachkriegszeit explodieren würde. Mit diesem Grundstock erweiterte die fortan professionell geführte Stiftung die Sammlung in dem von Briner vorgezeichneten Sinn zu einer bedeutenden Kollektion mit Schwerpunkt «Goldenes Zeitalter».
Highlight für die Stadt der Kunstsammler
Diese heimatlos gewordene Sammlung hat zurzeit im Oskar Reinhart Museum einen prachtvollen Auftritt. So es denn gelänge, ihr in diesem Haus eine würdige Bleibe einzurichten, könnte man von einem Glücksfall reden. Zum einen würde die Briner-Sammlung mit ihrem Schwerpunkt beim 17. Jahrhundert sich bestens einfügen neben der Stiftung Oskar Reinhart mit ihrer deutschen, österreichischen und schweizerischen Malerei aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Und zum andern kämen zwei Winterthurer Sammlerpersönlichkeiten zusammen, die bei ihrer gemeinsamen Leidenschaft gegensätzlicher kaum sein könnten: reicher Grossbürger mit einer Welthandelsfirma im Rücken der eine, kunstbegeisterter Arbeiter und Beamter aus bescheidenen Verhältnissen der andere. Ihre Vermächtnisse vereint unter dem Dach der ehemaligen Industrieschule – das wäre doch wohl das Richtige für Winterthur.
Die Ausstellung «Oranje! Meisterwerke holländischer Malerei» ist im Museum Oskar Reinhart (Stadthausstrasse 6, 8400 Winterthur) noch bis 5. April 2015 zu sehen.