Vor knapp einem Jahr, einem Monat vor Weihnachten, während der Pandemie, aber vor dem Krieg in der Ukraine, erschien Werner Herzogs Roman «Das Dämmern der Welt». Ein schmales Buch, 100 Seiten lang. Am Radio«Das Dämmern der Welt» sei reine Poesie. Ich wurde neugierig. Werner Herzog ist mir selbstverständlich ein Begriff. Seine Filme («Fitzcarraldo», «Nosferatu», «Jeder für sich und Gott gegen alle») sind aber wuchtig, wenn nicht ein wenig verrückt. Werner Herzog als lyrischer Romanautor?
Inhaltlich geht es um keine lyrischen Höhenflüge: Hiroo Onoda, ein japanischer Offizier, ist während des 2. Weltkrieges auf einer der philippinischen Inseln stationiert und erhält den Befehl, die Stellung zu halten, passiere was wolle. (Während des 2. Weltkrieges waren die Philippinen zwischenzeitlich vom kaiserlichen Japan besetzt, zuvor wurden sie von den USA kontrolliert.) Als der Krieg 1945 endet, bleibt Onoda auf dieser Insel (Lubang Island) und «hält seine Stellung» bis 1974. Bis zu diesem Zeitpunkt weiss er nicht, dass der Krieg zu einem Ende gekommen ist. Er weiss nichts vom Abwurf der beiden Atombomben, die Japan zwangen, ihre Expansionspläne zu begraben. Zwar sieht er immer wieder amerikanische Flugzeuge am Horizont vorbeifliegen, aber er kann nicht wissen, dass die USA in Vietnam und Korea einen weiteren Krieg führen. Im Februar 1974 wird er von einem «Hippie», Norio Suzuki, gefunden, nachdem Onoda schon 1959 für tot erklärt worden war.
Was mit dem Kaiser anfangen?
Was «Das Dämmern der Welt» auszeichnet ist das beobachtende Auge des Autors, das sich immer wieder mit Hiroo Onoda vereint. Der Erzähler wird zum Protagonisten, dann löst er sich wieder und nimmt die Urwaldumgebung mit allen Sinnen auf. Das Poetische am Text sind die Momente des Seins. Es tropft aus den Wipfeln der Urwaldriesen, ein Vogel kreischt, die Sonne bricht durch die Baumkronen und spiegelt sich im Nass des Unterholzes. Dies sind Herzogs Momente. Onoda nimmt das so nicht wahr. Er ist Krieger. Er hat seinen Auftrag. Der Erzähler schlüpft nun in seine Haut und erlebt eine Welt, fern eines militärischen Befehls, fern amerikanischer Bomber, er erlebt sie hier und jetzt, während Onoda sich versteckt, Ausschau hält, ob ihn ein Feind bemerkt hat, rückwärts geht, um allfällige Späher in die falsche Richtung zu schicken.
Herzog gelingt es, diese Spannung auszuhalten: Hier der Krieger – da der Erlebende. Diese Spannung dürfte das Anziehende gewesen sein, das ihn zu Hiroo Onoda trieb. 1997 inszenierte Herzog in Tokio die Oper Chushingura (Komponist Shigeaki Saegusa), als er vom japanischen Kaiser zu einer Audienz eingeladen wird. Fast aggressiv antwortet er: «Um Himmels willen, ich weiss überhaupt nicht, was ich mit dem Kaiser anfangen könnte, das würde nur ein leerer Austausch formeller Floskeln.» Alle Anwesenden verfallen in ein schockiertes Schweigen, bis jemand fragt, wen er denn sonst treffen möchte. Ohne zu denken antwortet Herzog: «Onoda. Hiroo Onoda.» Eine Woche später trifft er ihn. Onoda ist zu diesem Zeitpunkt schon seit vor 24 Jahren zurück.
Bei der Ankunft eine Sensation
Als er 1974 in Japan ankam, war er eine Sensation. Alle wollen ihn sehen, alle wollen ihn vor die Kamera bringen. Er verfasst eine Autobiografie («Niemals aufgeben: Mein dreissigjähriger Krieg»), ist aber bald des Rummels müde und zieht zu seinem Bruder nach Brasilien. 1984 kehrt er nach Japan zurück, um eine Naturschule zu gründen, 1997 trifft er Herzog. 24 Jahre nach ihrer Begegnung veröffentlich Herzog «Das Dämmern der Welt».
Die Faszination der «Auferstehung» dürfte nach dieser langen Periode verblasst sein. Vielmehr interessiert sich Herzog für die Empfindungen des zurückgebliebenen Mannes im Urwald, und so gleitet er im Text zurück. Das erste Kapitel ist mit 20. Februar 1974 überschrieben. Es ist der Moment, als Norio Suzuki Hiroo Onada trifft. Die Begegnung liegt mitten auf dem Spannungsbogen des poetischen Erwachens – dem Dämmern – eines Regentages: «Die Nacht wälzt sich in Fieberträumen, und schon beim Erwachen, wie ein kaltes Frösteln, ist die Landschaft ein zum Tag verwandelter, statisch knisternder Traum, der nicht vergehen will …» Das Auge des Autors sieht, hört, nimmt teil, stellt sich vor und findet eine Sprache.
Natürlich interessiert auch die Handlung. Auch, dass Norio Suzuki drei Ziele im Leben hat: Er muss Onada finden, er möchte den Yeti auskundschaften und er will einen Pandabären aufstöbern. 1974 hat er das erste Ziel erreicht. Er wird auch auch einen Pandabären entdecken, den Yeti, so behauptet er, hätte er von Weitem gesichtet. 1986 stirbt er in einer Lawine.
Renommierter englischer Übersetzer
Warum, so mag man sich fragen, veröffentlicht Herzog diesen Text? Und warum kümmert sich ein angesehener englisch schreibender Poet mit deutschen Wurzeln um die Übersetzung, die eben unter dem Titel «The Twilight World» erschienen ist?
Michael Hofmann ist kein Unbekannter. Er hat viele deutsche Autoren wie zum Beispiel Brecht, Fallada, Roth und Kafka ins Englische übersetzt. Er selber schreibt in englischer Sprache und hat sich einen Namen als Lyriker gemacht. Mutig stellt er sich der ambitiösen Aufgabe. Schon der Titel ist herausfordernd. «Das Dämmern der Welt» -- ein weiträumiger Titel. Die Welt dämmert dahin. Wir erahnen etwas, das (noch) schlummert. Die Welt beginnt zu erwachen oder umgekehrt, die Welt ist am Einschlafen, ist am Wegtreten, am Erblinden, am sich Sich-Vergessen. Wie gut dieses substantivierte Verb auch die Erfahrungen der ausgebrochenen Pandemie umfasst!
«The Twilight World» kann das so nicht ausdrücken. Vielmehr kommt da eine gewisse Aktivität zum Vorschein, die schon/noch im Verborgenen ist. Das Deutsche «zwielichtig» spielt mit. Etwas wird auf uns zukommen. Übersetzen eröffnet eine eigene Welt, gebunden an das Original, aber doch anders. Wird es gelingen, die Sprache, die Identität des Autors wiederzugeben? Leider nein. Das Knisternde der deutschen Sätze bleiben im Englischen stecken. Hofmann hält sich an die Wörter, eins nach dem anderen und so bleiben die Wörter in der Satzfolge stecken. Im ersten Satz spürt man die Anstrengung des Übersetzers, aber schon bald ist er dem Dschungel der Wörter ausgesetzt. Auch die spannenden Längen der Sätze brechen auf: «Die Nacht wälzt sich in Fieberträumen, und schon beim Erwachen, wie ein kaltes Frösteln, ist die Landschaft ein zum Tag verwandelter, statisch knisternder Traum, der nicht vergehen will …». «The night coils in fever dreams. No sooner awake than with an awful shudder, the landscape reveals itself as a durable daytime version of the same nightmare … “.
Herzog identifiziert sich mit beiden
Das feinfühlige Empfinden, mit dem Herzog dem ausharrenden Soldaten nachspürt, geht schon im ersten Satz verloren. Dramaturgisch sind diese ersten Sätze und Episoden aber von grosser Wichtigkeit, denn sie leiten das erste Zusammentreffen mit Norio Suzuki ein. Hier ein wild-romantischer Draufgänger, dort der skeptisch-starre Soldat. Die emotionale Spannung, die der empfundene Dschungel aufbaut, entlädt sich in der Begegnung der beiden Japaner.
Sie sprechen lange miteinander und es gelingt Suzuki, dass Onoda ihm zuhört. Auch in diesem Gespräch schwingen feine Töne mit, die schwierig sind, im Englischen zu erfassen. Die Episode endet mit einer Fotoaufnahme. Onoda besteht darauf, dass sie beide auf dem Bild sind. Man merkt, dass Herzog schon viele Film-Szenen inszeniert hat und dass ein «Selfie» zu dieser Zeit noch weit in der Zukunft liegt. So lässt er Suzuki die Kamera auf dessen zerschlissenen Rucksack stellen und ab geht der Blitz und das Bild erfasst die beiden knienden Männer. Herzog identifiziert sich mit beiden. Am Ende vertraut Onoda seinem Gegenüber sein Gewehr an: «’Hold my rifle,’ says Onoda. ‘That can be proof that I trust you.’ Both men are bathed in the flash. Onoda frowns at Suzuki. ‘Partly anyway. Partly.’»
In Herzogs Sprache klingt das Kapitel so aus: «’Halten Sie mein Gewehr … es wird Ihr Beweis sein, dass ich Ihnen traue. – Teilweise. Zumindest teilweise.’» Das fast liebevolle «zumindest» wird vom «anyway» verdrängt. Ich hätte mir auch «maybe» oder «perhaps» vorstellen können, aber auch diese Vorschläge sind ungenügend. Hofmann macht einen guten Job, der aber nicht wirklich ausführbar ist. Es mag auch an den Erwartungen des Verlags liegen, der «The Twilight World» in der englischsprechenden Welt gross angekündigt hat. Die Werbung hatte anderes vor, als Lesende für Poesie zu begeistern: Werner Herzog, einmal mehr auf der Suche eines vergessenen Kriegers. Man hofft, dass dem Buch ein weiterer Film folgen wird. Es geht um die Story, die einen herrlichen Männerfilm abgeben könnte. Aber darum geht es Herzog kaum. Für ihn steht die Begegnung mit Onoda im Zentrum. (Auch ist eine erste Verfilmung bereits erschienen: «Onoda: 10’000 Nächte im Dschungel», 2021. Regie: Arthur Harari.)
Die Rückblende
Nach der Begegnung mit Suzuki, kommt, wie in so vielen Filmen, die Rückblende überschrieben als Kapitel: Flugfeld Lubang, Dezember 1944. Die Geschichte rollt ab, die Sprache bleibt, sie ist wunderbar deutsch, für mich eine Entdeckung. Ganz am Schluss gleiten wir in die Gegenwart zurück, in der Herzog an einer Zeremonie mit Onoda teilnehmen darf – auch diese letzten Sätze in einer Poesie, die trägt: «Das Dämmern der Welt. Ameisen, wenn sie aus rätselhaften Gründen innehalten, bewegen die Fühler. Sie haben prophetische Träume. Zikaden schreien das Weltall an. In den Schrecken der Nacht war da ein Pferd mit glühenden Augen …».
Werner Herzog: Das Dämmern der Welt. München: Carl Hanser Verlag. 2021