Zwei von drei Lehrpersonen erlebten Gewalt, diagnostiziert eine repräsentative Studie. In Auftrag gegeben hat sie der LCH. Aggressivität bedeute in den Schweizer Schulzimmern ein tägliches Phänomen, sagt der Verband – sei es in physischer oder in psychischer Form, sei es als Gewalt gegen das Eigentum oder gar als sexuelle Bedrohung. Das geht aus einer Umfrage unter 5’400 Lehrerinnen und Lehrern der Deutschschweiz hervor. Ein (Er)Klärversuch.
Es sind Konflikte zwischen Lehrpersonen und ihren Schülern, zwischen Pädagoginnen und Eltern; genannt werden auch binnenschulische Differenzen wie Mobbing im Team; zur Sprache kommen zudem Spannungen zwischen Lehrpersonen und Schulleitungen.[1]
Die Schule hat ihre Aura verloren
Warum aber die Zunahme dieser Widerstreite und Kontroversen? Davon ist kaum etwas zu hören; die Rede ist lediglich von präventiven Massnahmen, von der Hilfe für betroffene Lehrkräfte und einer unabhängigen Ombudsstelle. Ob das genügt?
Der rasante gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte bleibt auch für die öffentliche Schule und ihre vielen Funktionen nicht ohne Folgen. Das führt – wie in manch anderen Bereichen – zum spürbaren Verlust an gesellschaftlicher Autorität. Mit allen Konsequenzen. Dass die Schule viel von ihrer Aura verloren hat, ist seit Langem erkannt und bekannt. Sie hat ein wichtiges Privileg eingebüsst: Sie ist nicht mehr exklusiver Hort des Wissens, der Bildung und der Kultur. Neue und selbstgesteuerte Wege führen zum Wissenserwerb und zu kulturellen Fähigkeiten. Sogenannte «Gratiskräfte», von denen Lehrerinnen und Lehrer lange zehren konnten, erodieren und fallen weg.[2] Die Lehrperson ist zunehmend auf sich selbst gestellt.[3]
Abkehr von der inhaltlichen Bildungsidee
Die Schule profitierte von der «Gratiskraft» des Bildungskanons, dieser inhaltlich verbindlichen Richtschnur. Jedermann wusste, was die Schule lehrte und welche Wissens- und Könnensbestände sie praktisch im Monopol vertrat. Die Lehrperson war professionelle Sachautorität. Der Wegfall dieser unentgeltlichen Vorleistung, die sogenannte Ent-Kanonisierung des Wissens und des Bildungsgutes, hat auch mit der neuen Kompetenzorientierung zu tun. Die Kompetenzen relativieren den Kanon. Es kommt heute eben weniger darauf an, was eine Schülerin weiss und was ein Schüler kann, sondern wie der Lernende es herausfindet und wie er sich etwas beibringt. Der ehemals formale Bildungsbegriff entwindet sich der inhaltlichen oder materialen Bildungsidee.[4] Darum die Abkehr vom Bildungskanon. Im vorherrschenden pädagogischen Diskurs bezeichnen Kompetenzen die Fähigkeit, sich die Welt auf dem Weg des Lernens anzueignen. Es kommt also vielmehr auf das Lernen und weniger auf die Lerninhalte an.
Als Folge werden nun auch die Lernprozesse bewertet. Und das in immer mehr Fächern. Jugendliche stehen so unter Dauerbeobachtung; die Möglichkeiten des Versagens nehmen zu. Bereits Kindergärtnerinnen beurteilen ihre Schützlinge mit fünfseitigen Rasterbögen und «Kreuzchen im Kästchen» – anhand von 26 Kompetenzen zu je drei Stufen. An erster Stelle steht die Analyse der Selbstkompetenz. Das führt vermehrt zu Disputen zwischen Lehrpersonen und Eltern. Konflikte sind vorprogrammiert. Das zeigt die Praxis, das bekommen Lehrerinnen und Lehrer zu spüren.
Wenn die Selbstdisziplin schwindet
Die zweite «Gratiskraft» war jene des traditionellen Generationenverhältnisses. Was ist damit gemeint? Der Lehrer, wie auch immer er wirkte, ob professionell oder als didaktischer Albtraum, ob als pädagogische Leitfigur oder als fachlicher Dilettant, war zunächst einmal Repräsentant der Erwachsenenwelt. Am Lehrer als Autoritätsperson und als Türhüter zu dieser Erwachsenenwelt kam man nicht vorbei. Diese Funktion ist weggefallen und mit ihr viel Selbstverständliches. Die Lehrperson muss heute verstärkt begründen; gleichzeitig wird sie vermehrt hinterfragt, nicht nur als Person, sondern auch in didaktisch-methodischer und in pädagogischer Hinsicht. Auch das führt zu Kontroversen.
Die dritte «Gratiskraft» lag in der Selbstdisziplin; viele Schülerinnen und Schüle brachten sie aus dem elterlichen Haus und aus dem Lebenskontext mit. Dazu gehörte auch der Umgang mit den eigenen Affekten: Mit Bedürfnisaufschub, mit eigener Unlust, sogar mit innerer Härte und Selbstdisziplin zu leben gehörte zum familiären Identitätsentwurf – und zählte im Arbeitsalltag. Die Schule profitierte von dieser Haltung. Davon ist manches entschwunden. Doch Lernen ist nach wie vor ein Bergauf-Prozess und darum auch strapaziös; Lernen ist mit dem Ethos des Sich-Anstrengens, des Bemühens und Übens verbunden. Das leuchtet heute weniger ein, auch vielen Eltern nicht. Dazu beigetragen hat auch die Idee, dass Lernen vor allem «Spass machen» soll und wie «von alleine geht». Wer von Kindern Anstrengung und Ausdauer verlangt, wird nicht selten hinterfragt. Das ergibt Spannungen.
Zwischen Gesamtauftrag und Einzelinteresse
Die vielen verschiedenen Reformen der vergangenen Jahre haben die Institution Schule nicht zwingend gestärkt, eher belastet. Die Schule hat sich inhaltlich entgrenzt. Das vergrössert die Unsicherheit und minimiert die Erwartungssicherheit. Dazu kommt, dass die heutige Bildungspolitik ganz stark auf die Integration mit dem Ziel der Inklusion ausgerichtet ist. Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner stilisiert Integration zum Menschenrecht. Alle Schulpflichtigen gehören mit gleichem Recht in die gleiche Schule. Völlig unterschiedliche Fähigkeiten und Leistungen erhöhen die Heterogenität. Als Folge nehmen Verbindlichkeit und Effizienz der Lernprozesse ab. Die Migration verstärkt diesen Prozess.
Eltern dagegen, vor allem bildungsambitionierte, sind ganz auf ihr Kind und seine schulische Karriere zentriert. Das Gymnasium muss es sein. Notfalls hilft der Anwalt. Ihre partikuläre Logik erwartet darum eine optimale Förderung. Nicht wenige sehen Schule gerne als niedere Serviceleistung des Staats, berappt aus ihren Steuergeldern. Gemäss dieser Kioskmentalität haben Lehrer den Nachwuchs fit zu trimmen für den globalen Wettbewerb. Das kann die Institution Schule in ihrer Konstellation nicht konsequent bieten. Sie hat auch andere Aufgaben. Doch die Ansprüche bleiben.
Das Ganze sehen – bei aller Widersprüchlichkeit
Der Druck auf die obligatorische Schule ist gestiegen. Gesamtgesellschaftlich wie partikulär aus dem Elternhaus. Das zeigt sich vielseitig und hat Folgen: von der Flucht vieler Lehrpersonen in Teilpensen, über den Exodus aus der Schule bis zu den Gewalterfahrungen im Alltag. Eine Einzelmassnahme genügt nicht. Eine gute Bildungspolitik kann darum nicht mit einer Ombudsstelle allein reagieren. Das schulische Gebilde ist zu komplex. Nötig ist eine Gesamtsicht. Das aber ist bei den Grundwidersprüchen im Bildungssystem höchst anspruchsvoll. Und doch wäre sie nötig. «Wissen in Teilen macht [zwar] eine schöne Geschichte, aber Weisheit entsteht, wenn wir das Ganze sehen», heisst es im klugen Kinderbuch von den sieben blinden Mäusen.[5]
[1] Die Medien berichteten ausführlich: vgl. u. a. Erich Aschwanden: Zwei von drei Lehrpersonen erfahren Gewalt – oft von Eltern. In: NZZ, 17.01.2023, S. 7; Kari Kälin: 1000 Lehrer mussten wegen Gewalt zum Arzt. In: CH Media, 17.01.2023, S.3; Die Studie: Martina Brägger, Gewalterfahrungen von Lehrpersonen im schulischen Kontext. Bericht zuhanden des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Msc. publ. Website LCH, 2022.
[2] Thomas Ziehe, Herbert Stubenrauch: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Ideen zur Jugendsituation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1982, S. 130f.
[3] Roland Reichenbach: Warum eine pädagogische Theorie der Schule?, in: Ders./Patrick Bühler (Hrsg.), Fragmente zu einer pädagogischen Theorie der Schule. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf eine Leerstelle. Weinheim-Basel: Beltz Juventa, 2017, S. 16.
[4] Vgl. Heinz Bude: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Carl Hanser Verlag, 2011, S. 75f.
[5] Ed Young: 7 blinde Mäuse. Weinheim-Basel: Beltz & Gelberg, 2007, S. 39.