Brexit und Trexit haben die westlichen Demokratien aus einer Art Dornröschenschlaf gerissen. Das eigene Volk hat die Briten aus der EU geschubst, Trump-Fans das Politestablishment in den USA abgestraft. In beiden Ländern gelten fortan neue Regeln zur Bändigung der Globalisierungs- und Technologisierungswellen.
Marschhalt ist angesagt
Niemand kann nach diesen millionenfachen Ausbrüchen des Volkszorns beschwichtigend zur Tagesordnung übergehen wollen. Die Flurschäden sind angerichtet, sie zu unterschätzen wäre leichtsinnig. Es sind jetzt Reflexion und ein Marschhalt angesagt. Die Welt wird gerade umgepflügt. Die stilleren Stunden zum Jahresende bieten Gelegenheit, sich „ins Bild“ zu setzen. Einfach ist das nicht, guter Rat teuer.
Das aktuelle Bild der Globalisierung
Führen wir uns doch kurz vor Augen, was wir unter Globalisierung überhaupt verstehen, wie sie sich auswirkt und wo sie aktuell steht. Sie umfasst ja an erster Stelle die Wirtschaft, die von einer steigenden Verflechtung der Länder und sinkenden Transportkosten stark profitiert. Grundsätzlich führen die dadurch ermöglichten komparativen Kostenvorteile zu blühendem Handel und steigendem Wohlstand.
In jenen Ländern (Beispiel China), die neu als Billiglieferanten auftreten, werden Millionen von Menschen aus ihrer Armut erlöst. Gleichzeitig bekommen Länder, die solche Güter importieren und sogar ihre eigene Güterproduktion auslagern oder verlieren (Beispiel USA), mit Verzögerung die negativen Seiten zu spüren: Millionen von Arbeitnehmern verlieren hier ihren angestammten Job. Bleiben sie arbeitslos, entwickelt sich die vieldiskutierte Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Verlierern und Profiteuren. Relativ junge Begriffe wie „Wutbürger“ und „Abzocker“ stehen dafür.
Gewinner und Verlierer
Weitere Bereiche unseres Lebens werden vom Sog dieser Trends erfasst und durchgeschüttelt – am augenfälligsten Politik und Gesellschaft. Nationale Politiker, aber auch jene in Brüssel, wurden durch den rasanten Wandel in Wirtschaft und Kommunikation überrascht und wirken überfordert. Grosse Teile der Gesellschaft wissen zu wenig über Gesetze und Mechanismen dieser epochalen Umwälzungen.
Stehen wir möglicherweise im Moment vor einer entscheidenden Weichenstellung? So weiter wie bisher mit der „freundlichen“ Globalisierung und ihrer effizienteren Arbeitsteilung, der steigenden Mobilität von Menschen, Kapital und Wissen und Wohlstandszuwachs für die einen? Oder aber die andere Globalisierung und in deren Folge Jobverlust, Migrationsströme, „Steueroptimierung“ der Grosskonzerne, Abstieg in die Armut für die anderen? Oder gäbe es sowas wie ein goldener Mittelweg?
Verlierer gegen Gewinner, Abschottung oder Öffnung, Kampf oder Kooperation – das Ausspielen polarer „Lösungen“ ist der falsche Weg und er ist zudem gefährlich.
Eine neue Geschichte der Globalisierung
Nach sieben Jahrzehnten des weltweiten Aufschwungs, praktisch linearer Aufwärtsbewegungen des wirtschaftlichen Wachstums und einer gewissen Freihandelseuphorie melden sich immer lautstärker die desillusionierten Verlierer dieser Trends. Da sind offensichtlich persönliche Schmerzgrenzen überschritten worden und das diffuse Gefühl des Abgehängt- und Vergessenwordenseins liess revolutionäres „We-want-Change“-Verhalten überhandnehmen – unversöhnlich, unkritisch, unbelehrbar. Aus der Optik dieser Globalisierungsverlierer ist diese Reaktion sogar nachvollziehbar.
Doch nicht nur sie begehren auf. Breite Kreise der Bevölkerung werden durch die immer bedrohlicheren Bilder der Digitalisierung, Automatisierungsfolgen und freundlicher Roboter aufgeschreckt. Das Silicon Valley in Kalifornien koppelt sich ab vom Rest der Welt – um das mal etwas drastisch zu sagen. Sogar das Selbstverständnis der Unternehmer- und Politikerelite wird infrage gestellt. Fluch oder Fortschritt, fragen sie sich?
Plötzlich sehen sich nicht nur Niedrig-, sondern auch Höherqualifizierte durch ungewohnte Szenarien bedroht. Klassenunterschiede verblassen, der Ruf nach dem starken Führer und sofortigen, einfachen Lösungen trübt da und dort die Sehkraft. Die Stunde der Demagogen und Populisten ist angebrochen. Doch so einfach ist die Welt ja nicht. Und Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber.
Heilsversprechen oder Knochenarbeit?
Mit den Fragen konfrontiert, wie wir am cleversten auf die globalen Einflussfaktoren reagieren sollen, welche Rezepte wieviel taugen, wozu regulatorische Massnahmen hilfreich sein könnten, um mittel- und langfristig erfolgreich bestehen zu können, oder ganz banal, wie das alles weitergehen soll – es scheinen mehrere Wege gangbar.
Am Anfang steht wohl das gründliche Analysieren dessen, was „Globalisierung“ meint. Rationale, theoretische Modelle taugen in diesem Fall wenig. Vielmehr könnte es nicht schaden, aufzuzeigen, dass Globalisierung weder von Politikern, noch von Managern verordnet oder gar gestoppt werden kann. Der Vorgang ist die Fortsetzung der schon Jahrhunderte andauernden Ausweitung des weltweiten Handels und des konstanten technologischen Fortschritts. Globalisierung geschieht.
Diese ehrliche Erkenntnis öffnet die Türe zu der etwas verstörenden Einsicht, dass wohl niemand mit Sicherheit sagen kann, wie diese Entwicklung weitergehen wird. Dieses Nichtwissen steht im augenfälligen Kontrast zu den weltweit aufgelegten, verführerischen Rezepten der Populisten. Somit sollte für die Mehrheit der Bevölkerung in demokratischen westlichen Staaten diese durchschaute Variante der einfachen Lösungen der wortgewaltigen Heilsbringer ausscheiden.
Sieger und Verlierer sitzen im gleichen Boot
Diese Feststellung mag auf den ersten Blick überraschend tönen. Betrachtet man jedoch die heute schon sichtbare Unrast zufolge steigender Ungleichheit, so ahnt man, dass diese sich über kurz oder lang gesamtgesellschaftlich sehr negativ auswirken könnte. Spätestens dann werden auch jene aalglatten Protagonisten der unanständigen Boni-Kultur einzelner Grosskonzerne unter Druck geraten. Somit ist rechtzeitig zu fragen: Wie lassen sich die frustrierten Globalisierungsverlierer besänftigen?
Eine bedenkenswerte Antwort kommt in der Zeitschrift „Schweizer Monat“ von Stefanie Walter, politische Ökonomin an der Uni Zürich: mit klassischer Kompensation. „Die Gewinne lassen sich einsetzen, um Verlierer zu kompensieren.“ Ein gutes Beispiel liberaler Markkräfte im Verbund mit regulatorischen Massnahmen. Abgesehen vom finanziellen Aspekt einer Kompensation (anderes Beispiel: die flankierenden Massnahmen im freien Personenverkehr) hat diese auf Kooperation basierende Idee eine gesellschaftspolitische Seite: „Die Idee ist, dass mit Kompensation der Verlierer die Unterstützung für eine Öffnung wächst.“
„Fitnessstudios“ an den Schulen
Einmal mehr stellt sich in dieser Situation die Frage, ob sich die Schweiz mit dem durch rechtsbürgerliche Kreise geforderten rigorosen Sparkurs nicht im Nebel verirrt. Kurzfristiges Denken (Steuern senken) hat wenig mit langfristiger strategischer Planung (Ansprüche der Zukunft an die nächste Generation) zu tun. Wenn die Leute fit gemacht werden sollen für die digitalisierte Zukunft, dann brauchen wir für unsere Jugendlichen neue „globalisierungskompatible“ Schulfächer. Vielleicht wäre es sogar ratsam, Jugendliche länger, breiter und entscheidungskompetenter auszubilden?
Falsche und sinnvolle Lehren
Bereits sind wir wieder Zeugen sich ankündigender überholter, weiter polarisierender politischer Massnahmen, die auf verengter, rückwärtsgerichteter Optik basieren. „Öffnung vs. Abschottung statt links gegen rechts“, lesen wir etwa. Oder: „Strafzölle gegen Dumpingpreise“. Das Entweder/oder-Denken ist nicht auszurotten. Dass damit erneut Gewinner und Verlierer geschaffen werden, sollte doch mittlerweile bekannt sein.
Was wären konstruktivere Vorschläge zur Bewältigung der drastischen Herausforderungen der Gegenwart? Wenn wir schon mal akzeptieren, dass als Folge der Globalisierung die Nationen dieser Welt konstant und in spektakulärer Weise miteinander verzahnt werden, könnte das durchaus auch als Hoffnungsschimmer für eine stabilere Welt verstanden werden?
Kooperation statt Kampf
Die Wirtschaft steht mitten in einem Totalumbau, verbindliche Nachhaltigkeits- und Transparenzregeln können nicht mehr ignoriert werden. Die neuen Technologien pflügen weltweit die Äcker der traditionellen Märkte um: Robotik, Automatisierung, Digitalisierung basieren auf der weltweit gleich funktionierenden Technik. Je länger je mehr erfordert dies grenzüberschreitende Zusammenarbeit und weltumspannende Logistikketten. Mit anderen Worten: internationale Zusammenarbeit und Kooperation. Die neuen Spielregeln der Globalisierung basieren – so ist zu hoffen – auf Kooperationsmodellen anstelle von Handelskriegen.
Die amerikanische (Fed) und die europäische (EZB) Zentralbank betrieben in den letzten Jahren eine desaströse Politik, deren negativen Auswirkungen sichtbar, die positiven aber ausgeblieben sind. Da stellt sich je länger je dringender die Frage, ob dieses System – gesteuert von den Interessen und Weltanschauungen einiger weniger – noch tragbar ist ohne öffentlichen Diskurs. So jedenfalls fragt sich Dirk Helbling, Professor en der ETH Zürich besorgt. (Die Schweizerische Nationalbank SNB steht nicht im Fokus, sie kann nur nach bestem Wissen und Gewissen reagieren.)
Im medial aufgeheizten Aufmerksamkeitsraum der Spitzenpolitiker, Spitzenbanker und Spitzendemagogen siegt kurzfristig die schrillste Stimme. Im Wirkungsraum der westlichen Nationen des Alltags im Jahr 2017 gewinnen langfristig hoffentlich jene leiseren Töne, die für Konsens statt Konflikt eintreten.