Rémy Zaugg (1943–2005) ist ein Solitär in der Kunst des späten 20. Jahrhunderts. Seinen Werdegang und seine Bedeutung zeigen nun drei Museen im Kanton Jura. „Voici“ heisst die Schau im Musée de l’Hôtel-Dieu in Pruntrut. „Voilà“ titelt das Musée d’art et d’histoire in Delsberg. „Voyez“ ist das Motto im Musée jurassien des Arts in Moutier.
Als Spross einer mennonitischen Familie wächst Rémy Zaugg in jener protestantischen Minderheit auf, die auf entlegenen Höfen des katholischen Jura ihrer Täufertradition und damit der Linie der radikalen Reformation treu bleibt. Karge Versammlungsräume, eindringliche Predigten, aus dem Bibeltext schöpfende Alltagsfrömmigkeit und die starken Bande der religiösen Gemeinschaft prägen die Welt, in welcher Rémy aufwächst. Schon als Jugendlicher beginnt er ernsthaft zu malen. Nachdem er mit siebzehn einen Malwettbewerb der Stadt Porrentruy gewinnt, stellt er als 18-Jähriger ebenda eine Serie von Linolschnitten aus, die stark vom deutschen Expressionismus beeinflusst sind.
Das kleine Kunstmuseum im wunderschönen Hôtel-Dieu in Pruntrut evoziert Rémy Zauggs Herkunft und seine Anfänge als Künstler. Zunächst noch ohne solide Grundlage erprobt er das malerische Darstellen von Landschaften, Figuren, Porträts und versucht sich bald auch in abstrakten Malweisen. 1967/68 dann der erste Durchbruch zu einer kraftvollen Bildsprache: In „Sisyphos“, einer Serie von Linolschnitten, begleitet von eigenen, existenzphilosophisch inspirierten Texten, findet Zaugg zu einer heute noch überzeugenden Gestaltung. Bereits zeigt sich auch die für sein späteres Werk typische Reduktion der Sprache auf einzelne Wörter.
Verstehen, was ein Bild ist
Anstoss zur künstlerischen Entwicklung gibt die Begegnung mit Gegenwartskunst. Im Kunstmuseum Basel sieht Zaugg das Gemälde „Day Before One“ von Barnett Newman – ein tiefer Schock für den jurassischen Autodidakten. Er findet zunächst keinen Zugang, lässt aber nicht darin nach, diese Kunst verstehen zu wollen. Sie erschliesst sich ihm erst über die Beschäftigung mit der Kunstgeschichte. Rembrandt, Goya, Cézanne, Matisse, der Kubismus und besonders Mondrian öffnen ihm die Augen. Über Arte povera, Pop Art findet er wieder zu Barnett Newman.
Rémy Zaugg will immer verstehen, was er als Künstler macht, wie bestimmte Bilder funktionieren, und schliesslich: was das überhaupt ist, ein Bild. Seine Essays und theoretischen Schriften sind kaum weniger bedeutend als seine malerischen und konzeptuellen Werke. Diesem Aspekt des Künstler-Philosophen und systematisch experimentierenden Gestalters widmet sich die zweite Ausstellung der Zaugg-Trias, die Schau im Musée jurassien d’art et de l’histoire in Delsberg.
Zaugg setzt sich mit Spitzenwerken der Kunstgeschichte analytisch-intellektuell in einer fast manischen Detailversessenheit und Vielschichtigkeit auseinander – und gleichzeitig entwickelt er als Künstler eine radikal eigenständige Position. Beides ist durch seine theoretisch-philosophischen Reflexionen über das Wesen des Bildes verbunden. Die Art, wie er zum Beispiel das Gemälde „La maison du pendu“ von Paul Cézanne „liest“ – nämlich in minutiöser Inventarisierung und Kartographierung sämtlicher Farbflecke – läuft auf eine Dekonstruktion des Bildes hinaus und rückt mit der Umkehr des Malvorgangs dessen Elementarteilchen in den Fokus.
Mit den so isolierten Teilchen nun arbeitet der Gestalter, indem er sie in reiner Form handhabt: als monochrome Flächen und Bildelemente. Zugleich bringt er als der Maler-Denker das Element Text ins gestalterische Spiel. – So oder ähnlich wird der Prozess abgelaufen sein, der schliesslich die zu Rémy Zauggs Markenzeichen gewordenen diachrom oder in Graustufen gehaltenen Textbilder hervorgebracht hat. Zaugg ist an diesem Punkt seines Schaffens gleichermassen Poet, Typograph, bildender Künstler. Seine Bilder haben Objektcharakter. Als Serien gehängt, wirken sie sogleich als raumgreifende Installationen. Und sie werden, wenn öffentlich an oder in Bauwerken appliziert, zu herausfordernden Eingriffen.
Bilder lesen, Texte schauen
Ob Zauggs Artefakte als einzelne Wörter an der Oberhafen-Eisenbahnbrücke in Hamburg oder an der Staumauer beim Lavoir des Dorfes Blessey im Burgund erscheinen, ob sie in Form grösserer Wandtexte in Gebäuden der Forschungsabteilung von Roche in Basel oder der Bundesverwaltung in Bern angebracht sind: Die Buchstaben haben den Charakter von Bildern, die im übrigen auch Texte sind. Für Rémy Zaugg gilt es, Bilder zu lesen und Texte zu schauen.
„Voyez“ heisst denn auch die dritte der Ausstellungen, diejenige im Musée jurassien des Arts in Moutier. Sie dokumentiert das serielle, das experimentierende Vorgehen Zauggs, der mit seinen in Farben und Formaten variierten Stücken auch den Betrachter zum Forschenden macht: Was ist es, das bei der einen Farbkombination die Wörter gleichsam vom Hintergrund aufspringen lässt? Wie weit darf der Kontrast ausbleichen, dass man gerade eben noch lesen will? Wie ändert sich die unterschwellige Bedeutung von Wörtern mit dem Wechsel der Farben? Wie mit Veränderungen des Layouts? Wie durch Übertragungen in andere Sprachen?
Die berühmten Textbilder sind nicht etwa gedruckt, sondern mit enormer Sorgfalt von Hand auf aufwendig präparierte Leinwände gemalt. Rémy Zaugg hätte sein umfangreiches Œuvre mit den ausufernden Versuchsreihen niemals schaffen können ohne diverse Assistenten; am wichtigsten war seine Frau Michèle, die neben dem ganzen Management des Atelier- und Ausstellungsbetriebs vor allem auch die Feinarbeit beim Malen der Schriften zu leisten hatte. Die von Zaugg verwendete Schrift ist übrigens die Univers 85, eine vom weltberühmten Schriftengestalter Adrian Frutiger entwickelte Type.
Zurück in den Jura
Zaugg hat nach der Jugendzeit im Jura eine Zeitlang in Basel gelebt, später in Pfastatt im Elsass, wo er sich mit Herzog & de Meuron ein Atelierhaus baute. Dies war übrigens nur eine von mehreren Kooperationen mit den berühmten Architekten, so etwa beim Erweiterungsbau des Kunstmuseums in Aarau. Seine jurassische Herkunft scheint Zaugg in späteren Jahren wieder interessiert zu haben. So kaufte und renovierte er die Maison Turberg in Porrentruy mit dem Ziel, dort dereinst ein Schaulager der an die Stiftung Rémy und Michèle Zaugg übereigneten Werke einzurichten. Das grosse Haus ist schön renoviert, aber die Stiftung gibt es nicht mehr. Ein weiteres Grossprojekt ist Papier geblieben: die Schaffung eines Auditoriums (Konzertsaals) auf einem Hügel bei Courgenay, Zauggs Geburtsort. Ein paar Leute im Kanton träumen von der Wiedererweckung des eingeschlafenen Vorhabens.
Immerhin eine Spur des Zaugg’schen Schaffens ist im Jura präsent. Der Künstler hat die Textmarke für das Erscheinungsbild des Kantons Jura gestaltet, natürlich in Univers 85. Ein hübsches Detail dabei: Der jurassische Gestalter verwendet für die Corporate Identity seines 1979 von Bern befreiten Kantons die vom Berner Adrian Frutiger kreierte Schrift.
Die drei Ausstellungen über Rémy Zaugg sind noch bis 28. Januar 2018 zu sehen. Die Museen:
Musée de l’Hôtel-Dieu, Porrentruy
Musée jurassien d’art et d’histoire, Delémont
Musée jurassien des Arts, Moutier