Es muss so sein, dass das Musée jurassien d'art et d'histoire in der Delsberger Rue du 23-Juin liegt, die an jenen Tag des Jahres 1974 erinnert, an dem die jurassische Bevölkerung der Schaffung eines eigenen Kantons zustimmte. Damit erhielt das Ringen um die Identität einen neuen und für die Zukunft existenziellen Anstoss. Seiner Verstärkung und folgerichtig der historischen Rückbesinnung dient das Museum. Es nimmt den Auftrag leidenschaftlich, doch ohne Pathos wahr, selbstbewusst, aber in einem Esprit, der Selbstzweifel gestattet. Das Museum in der spätbarocken Maison Bennot will auf der Suche nach der historischen Wahrheit eine unvollendete Baustelle sein und gewinnt dadurch Bedeutung, Einzigartigkeit und – ja auch – Charme.
Der Traum von der Unabhängigkeit
Nur nicht hohl werden. Lieber das Understatement als die Überheblichkeit. Ein Detail veranschaulicht die ernsthafte Leichtigkeit des Umgangs mit der Geschichte und mit der Dramatik, sich zunächst für die Utopie, dann für die Vision eines Kantons Jura zu engagieren und ihn endlich mit der Trennung vom Kanton Bern als Wirklichkeit zu erkämpfen.
Es sei ein Traum gewesen, notierte das Museum bei der Neueröffnung nach dem baulichen und konzeptuellen Umbau 2011, aus dem heraus der Jura entstand: „für mehr soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Vorteile” und „eine kulturelle Identität" in der legitimierten Unabhängigkeit.
Das erwähnte Detail ist der Prospekt, mit dem das Museum für sich wirbt. Es handelt sich um ein kleines Halbkarton-Quadrat, in Farbe doppelseitig bedruckt mit Fotos von Exponaten aus längst und weniger lang verflossener Zeit, die durch Drehen und Wenden jeweils andere Verbindungen ergeben und die Geschichte als unberechenbaren Wandel vor Augen führen. Wortlos. Als spielerische Einladung, den Dingen im Museum auf den Grund zu gehen und den historischen Prozess der Ursachen und Wirkungen zu begreifen.
Vorurteile als Ausgangspunkt
Das von Nathalie Fleury kundig und umsichtig geleitete Museum löst das Werbeversprechen ein. Die Besucher werden in informierender Absicht dort abgeholt. wo sie sich am sichersten fühlen, nämlich bei den Klischees, die einen Kanton landläufig charakterisieren, und bei den vagen Mutmassungen über die Vergangenheit. Wer ahnungslos ist, wird nicht für dumm verkauft, sondern aufmunternd an der Schulter berührt, um vom Heute ins Gestern zu flanieren und die Fakten zu erfahren.
In einem Dutzend kleinerer und grösserer Säle nimmt die Dauerausstellung das gängige Halbwissen samt schiefer Vorurteile mit Stichworten auf – z. B. mit dem Tête-de-Moine-Käse, den Pferden als den angeblich einzigen Weidetieren oder dem Jura als dem Ende der Welt – und rückt mit historischen Objekten und Dokumenten den Kanton ins differenzierende und Hintergründe ausleuchtende Licht.
Vitales Forum
Die Ausstellung beschäftigt sich frei von jedem geschwellten Patriotismus mit der jurassischen Identität und versteht darunter „eine Orientierungshilfe für sich selbst und für die Öffnung gegenüber dem Anderen“. Die Antworten sind immer wieder zu suchen und zu revidieren.
Das Museum ist ein vitales Forum, das dem zum eigenen Kanton führenden Querdenken nicht in Vitrinen nostalgisch huldigt, sondern kritisch Raum bietet zur aktuellen und künftigen Entfaltung. Das Gelingen ist etwa nach jedem eidgenössischen Urnengang an den jurassischen Resultaten aussagekräftig ablesbar.
Einem Geheimnis auf der Spur
Jährlich einmal richtet das Museum eine Wechselausstellung ein. Sie gilt jetzt zwei peruanischen Mumien, die irgendwann und irgendwie im 19. Jahrhundert nach Delsberg gelangten, im Collège der Schülerschaft als grauslicher Unterrichtsbehelf zugemutet und später von einer behutsameren Pädagogik über Estriche ins Museumsdepot verbannt wurden. Vor einigen Jahren begann nach allen Regeln der Kunst die Restaurierung, begleitet von einer intensiven wissenschaftlichen Erforschung der Mumien.
Das spannende Bemühen, den rätselhaften Weg der Mumien zu klären und ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen, kann in der sensibel und geschickt gestalteten Ausstellung eindrücklich nachvollzogen werden.
Brückenbau
Trotz Räumen, die sich wegen ihrer Kleinteiligkeit nicht als ideal bezeichnen lassen, und trotz eines Budgets, das zu Beschränkungen zwingt, entwickelt das Musée jurassien d'art et d'histoire seine eigene Identität, spricht Jahr um Jahr weit über zehntausend Neugierige jeden Alters an und wurde vom Schweizer Heimatschutz in die Liste der schönsten Museen unseres Landes aufgenommen. Konsequent wäre es, die Resonanz belohnen zu können mit häufiger wechselnden Ausstellungen und mehr Rahmenveranstaltungen.
Schlagworte für einen Museumsbesuch auch aus der Ferne sind die Mumien, der wahrscheinlich älteste Krummstab der Welt oder das vor über hundert Jahren konstruierte Klapptrottinette, das seinen modernen Nachfolgern verblüffend ähnlich sieht. Und nicht zuletzt ist Delsberg eine Reise wert. Der kantonale Hauptort wurde „für seine klare raumplanerische Strategie zu Gunsten einer behutsamen, qualitätsorientierten Stadtentwicklung” mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet.
Der wichtigste Grund indessen besteht in der Chance, dem Jura als unserem einzigen Kanton, der auf ein zeitgeschichtliches Ereignis zurückgeht, in einer kompakten und souveränen Selbstdarstellung zu begegnen. Sie rüttelt an den Vorurteilen und fördert die Urteilsbildung. Insofern ist das Museum, das sich eine Baustelle nennt, eine Brückenbaustelle.
Musée jurassien d'art et d'histoire, Delémont, www.mjah.ch