Die zahlreichen unterschiedlichen Milizen, die den Ostteil der geteilten Grossstadt Aleppo halten, sind seit Juli umzingelt. Ihre Führer haben eingesehen, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Je länger die Belagerung dauert, desto schwächer werden die Milizen. Einerseits erleiden sie täglich kleinere Verluste im Abnützungskrieg mit dem Gegner, anderseits werden sie immer wieder bombardiert. Zudem gehen ihnen langsam die Munition und Lebensmittel aus.
Die Anführer und ihre Mannschaften wissen auch, wenn sie sich den Kräften Asads und seiner Verbündeten ergeben, werden sie in Gefängnisse geworfen, wo ihnen ein langsamer qualvoller Tod droht. Sie haben sich daher entschlossen, all ihre Kräfte zu sammeln und zu versuchen, den Belagerungsring zu durchbrechen - koste es was es wolle.
Angriff im Südwesten
Ihren wichtigsten Vorstoss haben sie an einer Stelle des Belagerungsrings im Südwesten der Metropole lanciert. Falls es ihnen gelingt, den dortigen relativ dünnen Korridor zu durchbrechen, könnten sie in die Provinz Idlib gelangen, die vom Widerstand beherrscht wird. Doch ein solcher Durchbruch würde auch die westliche Stadthälfte isolieren; den Regierungstruppen würde dann der Weg abgeschnitten.
Gleichzeitig mit dieser Offensive haben die Rebellenmilizen versucht, an allen anderen Fronten rund um ihren Stadtteil aktiv zu werden. Ziel ist es, möglichst viele Regierungstruppen zu binden. Damit wäre die Asad-Armee nicht in der Lage, die Front an der Stelle des Hauptvorstosses zu verstärken.
Fassbomben gegen Zivilisten
Die grosse Schwäche der Widerstandsgruppen ist, dass die Gegenseite - die Regierung und die Russen - über eine Luftwaffe verfügt. Die Aufständischen jedoch haben keine Flugzeuge und kaum Flugabwehrgeschosse. Die Regierung nützt dies rücksichtlos aus. Pausenlos bombardieren die Regierungstruppen von Kampfflugzeugen und Helikoptern aus die Widerstandskämpfer. Ziele sind die östlichen Stadtteile und die eigentlichen Kampffronten.
Als allgemeine Regel gilt: die Russen fliegen hoch und arbeiten mit zielsuchenden Geschossen und Raketen. Die Luftwaffe Asads fliegt tiefer und setzt neben Kampfflugzeugen und Kampfhelikoptern auch Flugzeuge ein, die die berüchtigten Fassbomben abwerfen. Dies sind Metallfässer, vollgestopft mit Explosivstoffen und scharfen Metallsplittern, die beliebig über Wohnblöcken und Menschenansammlungen abgeworfen werden. Mit solchen Fassbomben spart die Asad-Armee Munition. Es besteht wenig Zweifel darüber, dass Spitäler und Kliniken im östlichen Teil der Stadt absichtlich angegriffen werden. Die seit Wochen andauernde, systematische Bombardierung und Ausschaltung aller Spitäler und Kliniken zwingt zu diesem Schluss.
Anfangserfolge
Die grossangelegte Gegenoffensive der in Aleppo eingeschlossenen Kämpfer hat in der Nacht des 31. Juli begonnen. Sie scheint zunächst zu einigen Geländegewinnen geführt zu haben. Doch ein eigentlicher Durchbruch wurde nicht erreicht. Die syrische Armee meldete, sie habe den Ansturm abgeschlagen.
Doch die Kampfgruppen setzten am Donnerstag, 4. August, erneut zur Offensive an. Sie meldeten, sie seien bis zu jener feindlichen Artilleriebasis durchgedrungen, von der aus die Widerstandskämpfer regelmässig beschossen wurden. Am gleichen Ort befinden sich auch Militärschulen, die Kommandoposten von Asads Belagerungstruppen beherbergen. Ebenso seien dort Kämpfer der Hizbullah und irakische Milizen stationiert.
Luftherrschaft der Asad-Truppen
Die dortigen Kommandanten erklären, ihre Truppen hätten den Angriff der Widerstandskämpfer zurückgeschlagen. Diese hätten grosse Verluste erlitten. Eine Quelle nannte 250 gefallene Feinde, eine andere sprach sogar von gegen Tausend. Solche Aussagen von Offizieren sind erfahrungsgemäss oft nur dazu da, die eigene Seite zu ermutigen.
Kommandanten des Widerstandes erklären ihrerseits, sie beherrschten die Artilleriebasis teilweise und kämpften jetzt weiter um die dortigen Armeeschulen. Sie hofften, einen Durchbruch bei Ramoussa, südwestlich von Aleppo zu erzielen. Gewiss ist, dass diese Kämpfe verlustreich sind, wahrscheinlich blutiger als die meisten vorausgegangenen. Wie sie endgültig ausgehen werden, bleibt offen. Doch wegen ihrer Lufthoheit besitzen die Asad-Truppen die Übermacht. Deshalb könnten die Durchbruchversuche scheitern. Ob und wie lange die Widerstandstruppen ihren verzweifelten Ansturm aufrechterhalten können, bleibt offen.
Mehr Bomben als je zuvor
Immer noch sind Hunderttausende Zivilisten in den belagerten Stadtteilen Aleppos verblieben. Laut allen vorliegenden Aussagen werden sie ständig bombardiert. Diese Bombardements sind intensiver als alles, was die Stadt bisher erlitten hat. Die humanitären Fluchtkorridore, von denen - aus diplomatischen Gründen - in Damaskus und in Moskau geredet wird, sind mit Skepsis zu betrachten. Dies gilt auch für die Fernsehbilder, die zeigen, wie Zivilisten über diese Korridore die Stadt verlassen.
Die eingeschlossenen Zivilisten in Aleppo erklären, diese Sicherheitskorridore seien unbrauchbar, weil sie von Scharfschützen beschossen würden. Ausserdem wisse man nicht, wie die Zivilisten von den Regierungssoldaten empfangen würden und was mit ihnen geschehe.
Eine zweite Schlacht in Membij
Es ist bezeichnend für den syrischen Krieg, dass gleichzeitig mit dem Ringen um Aleppo, keine 80 Kilometer von Aleppo entfernt eine zweite Schlacht stattfindet, die nichts mit jener von Aleppo zu tun hat. Dort haben die von syrischen Kurden geleiteten „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (SDF) eine Offensive gegen Kämpfer des „Islamischen Staats“ (IS) gestartet. Es geht um die bisher vom IS beherrschte Stadt Membij, die nordöstlich von Aleppo liegt.
Membij war der erste grössere syrische Ort jenseits der türkischen Grenze, die der IS kontrollierte. Von dort aus fand ein Austausch zwischen dem IS und der Türkei statt – mit und ohne Zustimmung der türkischen Regierung. In der Stadt werden auch Ausländer empfangen, die über die Türkei gelangen und sich als Kämpfer für den IS anheuern lassen.
Gemischt kurdisch-arabische Milizen
Der Vorstoss gegen Membij kam aus dem Osten, aus der benachbarten und kurdisch beherrschten Provinz Kobane. Zu den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) gehören arabische Kämpfer, die mit den Kurden gemeinsame Sache gegen den IS machen. Doch geleitet werden diese Kräfte von den kurdischen Milizen der kurdischen Randprovinzen oder Enklaven an der syrisch-türkischen Grenze, das heisst der YDP, die der PKK nahestehen. Die PKK steht ihrerseits in einem bitteren Krieg mit den türkischen Streitkräften.
Die SDF-Kämpfer rund um Membijs werden von den Amerikanern aus der Luft unterstützt. Um die Gefühle der Türken zu schonen, haben die Verantwortlichen dieser Einheiten erklärt, wenn Membij erobert sei, würden die kurdischen Einheiten aus der Stadt abziehen und die Verwaltung den arabischen Verbündeten überlassen.
Den Euphrat überschritten
Membij liegt westlich des Euphrats. Erdoğan hatte früher gewarnt, sein Land werde nicht zulassen, dass die syrischen Kurden über den Euphrat nach Westen vorrückten. Dies, weil eine Lücke zwischen den kurdischen Grenzenklaven von Kobane im Osten und Afrin im Westen besteht. In dieser Lücke übt teilweise der IS und teilweise die syrische Regierung die Macht aus. Ankara möchte unbedingt vermeiden, dass diese Lücke geschlossen wird und die syrischen Kurden dadurch ein zusammenhängendes Territorium längs der syrisch-türkischen Grenze erhalten.
Membij scheint nach langen und zähen Kämpfen zu grossen Teilen dem IS entrissen zu sein. Die SDF sagen, sie stünden im Zentrum der Stadt. Jedenfalls bedeuten die Kämpfe um und in Membij, dass die pro-kurdischen Einheiten trotz den Warnungen aus Ankara den Euphrat überschritten haben und im Begriff sind, die erwähnte Lücke zu verengern, wenn auch noch nicht völlig zu schliessen.