Was als ethisch vertretbar gilt, hängt auch vom Zeitgeist ab. Innert kurzer Zeit wandelt sich Undenkbares zu Selbstverständlichem. Gestern noch empört abgelehnt, ist vieles heute gängig. Steigt das Neue über den Wahrnehmungshorizont, scheucht es das Vertraute auf und provoziert vorerst Ablehnung. Dann breitet es sich allmählich aus, und man gewöhnt sich daran. Schliesslich etabliert es sich als akzeptiertes Handeln.
Innerhalb einer Lebensspanne kann der gesellschaftliche Konsens um 180 Grad umschwenken. Wer lange genug lebt, erfährt die Vorläufigkeit vieler Wertungen. Das relativiert das gegenwärtig als Wahrheit Aufgefasste. Viele alte Menschen haben denn auch eine gesunde Skepsis entwickelt gegenüber den eifrigen Verfechtern der jeweils jüngsten moralischen Überzeugungen.
Bevormunden geht nicht mehr
Der gesellschaftliche Konsens ist immer im Fluss, er strömt manchmal schneller und manchmal träger. Bestimmte Themen erhöhen plötzlich ihre Fliessgeschwindigkeit, und dann kommt der grosse Wasserfall eines eigentlichen Paradigmenwechsels. Die Selbstbestimmung am Lebensende, einst als Sünde wider den Glauben tabuisiert, gewinnt an Boden.
Seit der Neuzeit geht der Trend in Richtung Individualisierung. Die Säkularisierung schreitet fort, Autoritäten verlieren Macht, und der Einzelne beansprucht mehr Selbstbestimmung. Die 68er beschleunigten diese Entwicklung mit ihren antiautoritären Forderungen. Älter geworden, treffen sie auf den Anachronismus der Fremdbestimmung am Lebensende – und stossen sich daran. Und stellen erneut die Autorität der Bestimmenden in Frage. Ein Arzt, der entscheidet, wieviel jemand vor dem erlösenden Tod leiden muss, ist nicht mehr akzeptabel; ebenso wenig der Priester, der einem selbstbestimmt Sterbenden gemäss den Geboten seiner unbarmherzigen Kirche die Sakramente verweigert.
Selbstbestimmung in der Schweiz
Verschiedene Faktoren haben dazu beigetragen, dass die Selbstbestimmung am Lebensende in der Schweiz eine grössere Akzeptanz geniesst als in den meisten europäischen Ländern. Im Gegensatz zu Deutschland etwa hatte die Schweiz nach dem zweiten Weltkrieg kein Euthanasietrauma zu verarbeiten. Der Einfluss der katholischen Kirche hält sich hierzulande in Grenzen. Schon früh wurde in der Schweiz die Sterbehilfeorganisation Exit gegründet, eine Pionierleistung zu einem Zeitpunkt, als Sterbehilfe in Europa noch kein Thema war.
Die Organisation ist etabliert und einflussreich. Sie zählt über hunderttausend Mitglieder und besitzt ein von dankbaren Mitgliedern und ihren Angehörigen gespendetes Vereinsvermögen von über acht Millionen Franken. Exit ist ein Leuchtturm für das Anliegen der Selbstbestimmung. Die Mitgliederzahl steigt ständig. Selbstbestimmung am Lebensende ist eine Bewegung von unten nach oben, ganz im Sinne der Schweizerischen Form der direkten Demokratie. Das Stimmvolk hat sich für Exit ausgesprochen.
Selbstbestimmung braucht Mut
Die neue Wahlfreiheit am Lebensende ist anspruchsvoll. Sie ist nur zu haben unter der Voraussetzung, dass man sich der Vergänglichkeit des eigenen Lebens stellt. Zur Auseinandersetzung mit seiner Sterblichkeit muss der Mensch innere und äussere Hindernisse überwinden. Der Tod macht Angst. Das Ende lässt sich in unserer Kultur leicht verdrängen. Pflegeheime und Spitäler verbergen das Sterben. Viele Erwachsene haben noch nie einen Toten berührt. Wissenschaftsgläubigkeit verführt dazu, sich unsterblich zu wähnen. Jugendlichkeitskult behindert die Reifung und das Einverständnis mit dem grossen Stirb und Werde.
Alte Menschen verpassen die Erntephase ihres Lebens, weil sie glauben, sich jung und dynamisch geben zu müssen. Das gegen Selbstbestimmung am Lebensende gerichtete kirchliche Selbsttötungs-Tabu spiegelt sich auch im Bewusstsein jüngerer und modern eingestellter Menschen, und der alten Generation sitzt noch die moralische Verurteilung des Freitodes im Nacken. Zwar kämpft auch sie sich zu neuen ethischen Normen durch, doch es braucht Einsicht und Mut, sich für die Selbstbestimmung zu entscheiden.
Selbstbestimmung birgt wie alle Rechte auch Pflichten in sich. Geht es um Selbstbestimmung am Lebensende, so müssen Entscheide von grösster Tragweite getroffen werden. Es geht um finale Selbstverantwortung, um Rücksichtnahme gegenüber Angehörigen, gesellschaftliche Solidarität und – für Gläubige – auch um die Verantwortung vor Gott.
Zweifache Selbstverantwortung
Der fundierte eigene Standpunkt in Sachen selbstbestimmtes Sterben verlangt als Grundlage eine persönliche Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Sie bildet sich durch Informationen, Gespräche und gründliches Nachdenken. Selbstverantwortung kann nicht heissen, den im Moment vorherrschenden eigenen Willen rücksichtslos gegen den vielleicht nicht zu jeder Zeit überblickbaren Gang des Lebens durchzudrücken. Gefordert ist vielmehr eine Demut vor den Grundgesetzmässigkeiten des Daseins. Sie erst macht es möglich, zu erdulden, was zu erdulden ist, aber auch zu entscheiden, was entschieden werden muss.
Dieser inneren Seite der Selbstverantwortung steht eine äussere gegenüber: Es wäre fahrlässig, die Verantwortung für das eigene Lebensende vorzeitig aus der Hand zu geben. Wer nicht Spielball von Gewissensentscheidungen anderer und von Interessen der Gesundheitsindustrie werden will, muss mit Blick auf sein Ende selbstverantwortlich denken und handeln.
Rücksicht gegenüber Angehörigen
Ein schlecht vorbereiteter Freitod kann im Umfeld traumatische Auswirkungen haben. Wenn immer möglich, sollte das Gespräch mit den Angehörigen früh gesucht und aufrechterhalten werden, nicht erst, wenn Sterbensentscheidungen anstehen. Ein klarer Konsens der Beteiligten ist gerade bei überraschenden Bedrohungen durch Unfälle oder Krankheit Gold wert. In akuten Notsituationen ist eine Verständigung oft nicht mehr möglich. Unaufgeräumte Beziehungen erschweren das Sterben.
Die Vergänglichkeit kann aber auch zur Entwicklungschance werden. Der bevorstehende Tod beleuchtet die Beziehung nochmals anders und ermöglicht vorher Undenkbares. Im besten Fall tragen die Angehörigen einen Altersfreitod mit. Ein anfänglicher Widerstand kann sich durch Gespräche auflösen. Dann wird die Unterstützung des Freitodes gewissermassen zur letzten liebevollen Gabe.
Gesellschaftliche Solidarität
Die Todesverdrängung in unserer Gesellschaft macht uns zu irrationalen, verführbaren Todesignoranten. Zu den Folgen gehören falsche Anreize im Gesundheitswesen, die zu unnötigen Eingriffen und einem verlängerten Sterben auf Kosten der Betroffenen und der Allgemeinheit führen.
Alte Menschen, die ihre Vergänglichkeit akzeptiert haben, treffen bessere Entscheidungen als solche, die ihre Sterblichkeit verdrängen. Sie bringen den Aufwand von Eingriffen nicht nur mit möglichen Gewinnen an Lebensqualität, sondern auch mit allfälligen Belastungen der Gesellschaft in Verbindung. Die Ressourcen sind begrenzt und sollten fair verteilt werden. Der steile Anstieg der Gesundheitskosten in den letzten zwei Lebensjahren gibt zu denken. Es ist an den Betroffenen, unvernünftige Behandlungen zu verhindern. Sie müssen sich über die sozialen Auswirkungen ihrer Entscheidungen im Klaren sein.
Verantwortung vor Gott
Religionen können dem Menschen beim Umgang mit seiner Sterblichkeit helfen. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod oder eine positive Sicht der Vergänglichkeit mildern die Todesangst. Religiöse Rituale umhüllen das Unbegreifliche, trösten und lenken ab.
Freitod und Glaube sind kein Widerspruch. Ein Freitod in verantwortungsvoller Selbstbestimmung ist mit dem christlichen Glauben vereinbar. Der Katholik Hans Küng, gegenwärtig eine der wichtigsten theologischen Stimmen im deutschsprachigen Raum, befürwortet die Selbstbestimmung des Menschen am Lebensende.
Ein verantwortungsvoller Freitod kann sowohl das Gebot der Selbst- wie auch der Nächstenliebe erfüllen. Der barmherzige Gott, der seine Geschöpfe liebt, will nicht, dass sie unnötig leiden. Wenn seine Zeit gekommen ist, darf der Mensch die Verantwortung übernehmen, seinen ihm von Gott gegebenen freien Willen einsetzen und handeln. Ehrfurcht vor dem Leben vollzieht sich im Respekt vor dem freien Willen des Menschen und nicht in seiner Bevormundung.
Verbesserte Lebensqualität
Noch bestimmt der Zufall, ob jemand selbstbestimmt sterben darf. Ärzte gehen mit ihrem Ermessensspielraum sehr unterschiedlich um. Adressen von hilfsbereiten Ärzten kursieren in der ältesten Generation. Spitäler und Pflegeheime arbeiten mit Sterbehilfeorganisationen zusammen – oder eben nicht.
Der gesellschaftliche Konsens entwickelt sich langsam. Das ist angesichts der Schattenseiten von Sterbehilfe nicht verwunderlich und vielleicht auch notwendig. Selbstbestimmtes Sterben als neue Option bräuchte flankierende schützende Massnahmen, damit schwache, kranke und ungeliebte Menschen nicht unter Druck kämen, „freiwillig“ zu gehen.
Doch bei sorgfältiger Abwägung möglicher Zugewinne und Probleme schwingt die Befreiung durch die Möglichkeit von Selbstbestimmung weit obenaus. Dabei geht es sogar weniger um den eigentlichen Akt des Sterbens als darum, wie sich der Entscheid, im gegebenen Fall über das eigene Ende selber zu bestimmen, auf das Leben in den Jahren und Jahrzehnten davor auswirkt. Alle hoffen auf einen natürlichen Tod. Nur ein verschwindend kleiner Anteil aller Exit-Mitglieder nimmt die Dienste der Organisation in Anspruch. Aber die Sicherheit, nötigenfalls selbstbestimmt sterben zu können, verbessert die Lebensqualität alter Menschen gewaltig und vermindert ihre Angst vor dem Sterben.