Berlusconi hatte sich in den letzten Tagen in seiner Villa San Martino in Arcore bei Mailand verschanzt. Er und die Seinen hofften, der 88-jährige Staatspräsident würde ihm entgegenkommen und Milde walten lassen.
Am Dienstagabend, früher als erwartet, veröffentlichte Napolitano eine Erklärung. "Ein rechtskräftiges Urteil und die daraus folgende Verpflichtung es umzusetzen, muss berücksichtigt werden", heisst es.
Eine Begnadigung schloss der hochgeschätzte und moralisch integere Staatspräsident zwar nicht grundsätzlich aus. Die Möglichkeiten dazu seien jedoch beschränkt. Zudem habe er kein formelles Begnadigungsgesuch von Berlusconi erhalten. Das erstaunt, denn er und seine Partei hatten in den letzten Tagen immer wieder von Begnadigung gesprochen. Artikel 681 des „Codice di Procedura Penale” hätte auch eine Begnadigung ohne formelles Begnadigungsgesuch erlaubt.
Die Falken schweigen
Berlusconi reagiert perplex auf die Worte von Napolitano. Es gebe Punkte in der Erklärung, denen er zustimme, andere lehne er ab und wieder andere verstehe er nicht. „Ich weiss wirklich nicht, was ich sagen soll“, erklärte Berlusconi am Dienstagabend. Erstaunlich ist, dass die Falken in der Partei noch nicht aufheulen. Berlusconi hat ihnen Weisung gegeben, vorerst zu schweigen.
Berlusconis Freunde sehen in der Erklärung einen Lichtblick. Die Zeitung „Il Giornale“, die von Berlusconis Bruder herausgegeben wird, titelt: „Napolitano öffnet Berlusconi den Weg“. Das Blatt meint, wenn jetzt Berlusconi das Gnadengesuch formell einreiche, würde es Napolitano wohlwollend prüfen.
Kluger Schachzug
Die meisten Beobachter sehen das anders. Sie werten die Erklärung des Staatspräsidenten als klugen Schachzug. Mit milden Worten weist der Jurist Napolitano Berlusconi darauf hin, dass er seine Strafe verbüssen müsse, und dass eine Begnadigung eher aussichtslos ist.
Berlusconis vierjährige Strafe ist wegen eines früheren Amnestie-Beschlusses auf ein Jahr reduziert worden. Da Berlusconi älter als 70 Jahre ist, muss er diese einjährige Strafe nicht im Gefängnis absitzen, sondern kann sie im Hausarrest verbüssen. Oder er wird ein Jahr lang dem Sozialdienst übergeben und muss Sozialarbeit leisten.
Napolitano bekräftigt nun, dass Berlusconi nicht ins Gefängnis müsse. Es gebe „alternative Möglichkeiten“. Die sanften Worte des Staatspräsidenten haben offensichtlich den Zweck, Zeit zu gewinnen und den Wutausbruch der Berlusconi-Treuen nach dem Urteil des Kassationsgerichts abklingen zu lassen.
Kein politisches Amt
Da Berlusconi zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde, darf er kein politisches Amt mehr ausüben. So sieht es ein Gesetz vor, dass die Juristin und Hochschullehrerin Paola Severino eingebracht hatte. Severino war unter Mario Monti Justizministerin. Das Gesetz wurde auch von der Berlusconi-Partei angenommen. Es sieht vor, dass jemand kein politisches Amt ausüben darf, der mehr als zu zwei Jahren verurteilt wurde.
Das Berlusconi-Lager argumentiert nun, ihr Parteiführer sei zwar zu vier Jahren verurteilt worden, doch diese vier Jahre seien wegen der Amnestie auf ein Jahr reduziert worden. Es würde also nur das eine Jahr gelten. Berlusconi dürfe also weiter politisch tätig sein. Zudem seien die Vergehen, die ihm vorgeworfen werden, zu einem Zeitpunkt geschehen, als das Severino-Gesetz noch nicht in Kraft war.
Voreingenommener Gerichtspräsident?
Für einigen Wirbel sorgt ein Interview, das der Richter Antonio Esposito der Zeitung „Il Mattino“ gewährt hatte. Der Wortlaut des Gesprächs wird noch unter Verschluss gehalten. Esposito ist der Präsident jener Kammer des Kassationsgerichts, die Berlusconi verurteilt hat. Im Interview soll sich – laut den Berlusconi-Anwälten – Esposito unschön über Berlusconi geäussert haben. Die Anwälte schliessen daraus, dass der Gerichtspräsident von Anfang an befangen und gegen Berlusconi eingestellt war. Die Berlusconi-treue Zeitung „Il Giornale“ trommelt seit Tagen gegen den Richter und fordert eine Annullierung des Urteils.
All das ändert nichts daran, dass Berlusconi die Justiz respektieren muss. La legge è uguale per tutti. Vor wenigen Tagen hiess es noch, wenn er nicht begnadigt würde, werde er die Regierung stürzen. Im Moment scheint man im Berlusconi-Lager eher ratlos zu sein.
Ein Sturz der Regierung wäre "fatal"
Vielleicht wartet man bis Anfang September. Dann entscheidet eine Senatskommission, ob Berlusconi seinen Sitz im Senat verliert. Die Mehrheit dieser Kommission ist Berlusconi eher feindlich gesinnt.
Wird Berlusconi tatsächlich aus dem Senat verjagt, könnte es für die grosse Koalitionsregierung von Enrico Letta ernst werden. Dann könnte Berlusconis Partei aus der Regierung austreten und sie stürzen.
Napolitano weist in seiner Erklärung eindringlich darauf hin, dass ein Sturz der Regierung im jetzigen Zeitpunkt „fatal“ wäre. Der Staatspräsident ruft die Berlusconi-Leute dazu auf, die Interessen des Landes zu respektieren.
Der Märtyrer
Ein Sturz der Regierung des Linkspolitikers Enrico Letta käme im Land nicht nur gut an. Meinungsumfragen zeigen, dass die Regierung Letta beliebter ist als die meisten Vorgänger-Regierungen. Zudem zeichnet sich am Horizont eine zaghafte wirtschaftliche Erholung ab. Wird Berlusconi die Verantwortung übernehmen, in einem solchen Moment die Regierung zu stürzen?
Sicher ist, dass die Falken im Berlusconi-Lager auf einen solchen Sturz und auf Neuwahlen hinarbeiten. Meinungsumfragen zeigen, dass das Gezerre um den Richterspruch Berlusconis Beliebtheit gesteigert hat. Für seine Freunde wird er immer mehr zum Märtyrer. Eigentlich hat der Wahlkampf schon begonnen.
Berlusconi im Altersheim?
Was aber, wenn Berlusconi tatsächlich seinen Senatssitz verliert und seine Strafe im Hausarrest oder mit Sozialarbeit verbüssen muss? Wer folgt auf ihn? Wer wird die Partei in die Wahlen führen? Seine älteste Tochter Marina, die letzte Woche von einflussreichen Berlusconi-Treuen als seine Nachfolgerin gehandelt wurde, lehnt ab.
Bereits spricht man vom 24. Oktober als Datum für Neuwahlen. Berlusconi selbst könnte sie dann im Hausarrest in seiner Villa San Martino verfolgen. Oder als Sozialarbeiter und Pfleger in einem Altersheim.