Wir bearbeiten unsere Felder noch immer mit Ackergaul und Pflug wie vor 100 Jahren. Zumindest, wenn wir mit den Feldern jene des demokratischen Ackers unserer politischen Landschaft – die föderalistische Schweiz - meinen.
Symptombekämpfung
Man kann kratzen und reiben so viel man will, der Juckreiz bleibt. Er ist ja auch nur ein Symptom der inneren Erkrankung, einer Funktionsstörung. Die Ursache liegt tiefer.
Wenn also mit dem Patient die Schweiz mit ihren föderalistischen Strukturen gemeint ist, scheint Vorsicht angebracht. Der Aufschrei der wahren Eidgenossen ist gewiss. Dennoch: wer unser Land liebt, kann seine Augen nicht davor verschliessen, dass viele unserer gelobten Eigenschaften und Vorzüge im globalen Hagelsturm Schlagseite bekommen haben. Zu vieles ist nicht mehr zeitgemäss. Als würden wir beim Wandtelefon mit Wählscheibe verharren, als hätten wir etwas gegen Smartphones. Natürlich haben wir das nicht. Doch zu gewohnheitsmässig bewegen wir uns auf schadhaften Strassen ohne zu realisieren, dass nicht nur ihr Belag, sondern auch der Unterbau saniert werden müssen.
Die Schlaglöcher im Asphalt sind vergleichbar mit den Volksinitiativen in der Schweiz. Je mehr es gibt, desto verärgerter reagieren wir. Die Initiativenflut ist die Folge einer veränderten Mentalität: Wer eine Abstimmung verliert, kontert sofort mit einer Initiative, um das „falsche“ Resultat zu korrigieren. Doch das ist nur die Oberfläche. Spätestens dann, wenn mit einer neuen Initiative versucht wird, das Resultat der vorangegangenen umzukehren, dämmert es vielen, dass diese Spielchen nicht mehr viel gemeinsam haben mit dem bodenständigen eidgenössischen Gefüge, das uns so „sonderfällig“ macht.
Könnte es sein, dass wir überfordert sind?
Mit Volksinitiativen „denen da oben“ den richtigen Weg zu weisen, war lange Zeit ein hervorragendes Ventil, um Dampf abzulassen, wenn „sie“ nicht kapieren wollten. Während Jahrzehnten blieb diese Warnfingergeste die Ausnahme. Inzwischen erleben wir eine wahre Flut von solchen Symbolinitiativen. Stellvertretend, um die Thematik zu vertiefen, zwei Beispiele: Zuwanderung und Völkerrecht. Beiden ist gemeinsam, dass sie – über den kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Ebenen - die europäische und schliesslich die globale Dimension wahrzunehmen haben.
Die Globalisierung ist Tatsache
Ob es uns gefällt oder nicht, die Schweiz ist Mitglied dieser globalisierten Welt, in der immer mehr Probleme nicht mehr national ein für alle Mal gelöst werden können. Da diese an den Landesgrenzen nicht Halt machen, braucht es den europäischen, oft sogar den weltweiten Effort. „Nationales Recht vor Völkerrecht“ mag zuverlässig nationale Streitfälle lösen helfen. Die Idee erfährt am Stammtisch Zustimmung. Die Devise ist jedoch bei allen anderen Irritationen unbrauchbar. Die bedrohlichsten unserer Zeit gehören allesamt in diese Kategorie.
„Stop the world, I want to get out!” Wer das Rad der Zeit zurückdrehen will, um vermeintlich Zustände “wie früher” wiederherzustellen, verschliesst seine Augen vor der realen Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Nationales Recht im Einklang mit dem Völkerrecht
Wenn in der Schweiz in letzter Zeit Volksinitiativen angenommen wurden, die verbindlichen internationalen Abmachungen widersprechen, haben wir ein Problem. Dieses ist nicht mit markigen Worten und viel Geld zu lösen. Schliesslich haben wir selbst als Stimmvolk diesen Vereinbarungen zugestimmt. Wir profitieren davon in grossem Ausmass. Rechtssicherheit ist in unserem Land ein hohes Gut. Wir brauchen – anstelle von unsinnigen Volksinitiativen – neue Lösungsansätze.
„Fremde Richter“ sind hierzulande ein Reizwort. Besonders der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist ins Visier der SVP geraten. Dabei wird verschwiegen, dass diese Rechtsprechung für den Rechtsschutz in der Schweiz eine deutlich positive Bilanz aufweist. Statt mit dem Feuer zu spielen, sollten wir die Tatsachen betrachten: Von 1974 – 2013 hat der EGMR 5‘611 Beschwerden aus der Schweiz beurteilt. In 86 Fällen (1,5%) hat er eine Verletzung der Konvention festgestellt.
Umstrittene Zuwanderung
Die Migration ist ein Phantomschmerz. Sie steht, wie im Herbst 2014 Walter Leimgruber, Professor an der Uni Basel ausführlich in der NZZ erklärte, für die verpassten Reformen in unserem Land. Wie einfach ist es doch – und wie erfolgreich lässt sich das bewirtschaften – die Migranten für die Vielzahl verdrängter, hausgemachter Probleme verantwortlich zu machen. Tatsächlich: unsere politischen Führungskräfte haben vor lauter drängender Tagesproblem(ch)en zu oft keine Zeit für die Hausaufgaben, für die strategische Planung der Zukunft unseres Landes. „Eine verheerende Diagnose für eine Gesellschaft, die das grosse Potenzial, das sie sich um das 19. und 20. Jahrhundert herum aufgebaut hat, für das 21. nutzen und den neuen Entwicklungen anpassen sollte“, diagnostiziert Leimgruber.
Statt Initiativenflut – Reformtraktanden
Es gilt, sich an dieser Stelle zu fragen, wie wir denn in unserem dreistöckigen Schweizerhaus (Gemeinde, Kanton, Bund) jene grossen Fragen beantworten wollen, die uns unter dem Nagel brennen. Wir realisieren doch tagtäglich, dass es aus der antiquierten Perspektive der letzten 150 Jahre nicht mehr klappt: Bildung, Asylwesen, Integrationsfragen, Sozialthematik, Rentenreform, Steuerrecht, Bauvorschriften, Infrastrukturfinanzierung, Energiewende, Korruption, – die Liste ist lang und lässt sich noch erweitern. Seien wir doch ehrlich. Die versuchte Lösung mit drei föderalen Stufen ist so nicht zukunftstauglich.
Damit das nicht falsch verstanden wird: Nicht der Föderalismus ist unzeitgemäss, sondern die veralteten Strukturen. Soviel Kompetenz wie möglich, so tief angesiedelt wie möglich – richtig. Das heisst aber gleichzeitig: Was unten nicht lösbar ist, weil sich Zeit und Raum nicht mehr wie 1848 darstellen, ist nach oben zu verlagern.
Konfusion herrscht
„Freude herrscht!“, rief einst ein populärer Bundesrat in die Runde. „Konfusion herrscht!“; niemand sorgt heute mit diesem Aufruf für zustimmendes Gelächter. Warum eigentlich? Die immer komplexeren Folgen der Globalisierung und der digitalen Revolution müssen uns dort überfordern, wo sie sich direkt in unserem Alltag auswirken. Die systemischen Bedrohungen nehmen laufend zu (Bsp.: Internationale Finanzkrise). Die Deregulierung vieler Lebens- und Wirtschaftsbereiche zieht sozialistischen und neoliberalen Exponenten den Teppich unter den Füssen weg. Eine grundsätzlich andere als bisher experimentierte Kommunikationsusanz drängt bis zuhinterst in Wohnstuben, Arbeitsfelder, politische Sitzungszimmer. Expertenwissen ist überlebensnotwendig – und wenn es fehlt?
Immer öfter müssen die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik solches Expertenwissen, das sich zudem unter dem Einfluss globaler Verwerfungen laufend ändert, extern beschaffen. Während dies in KMU und Konzernen zwar teuer, aber sinnvoll erscheint, gilt es nicht unbedingt in der Politik. Präsident Obama verfügt über ein Heer von Experten. Die Führungstroika der EU sichert sich fortwährend und übervorsichtig ab, bevor sie beschliesst. Und natürlich hat auch unser Bundesrat seinen Stab für solche Entscheide.
Gemeinden unter Druck
Aber wie steht es in unseren 2400 Gemeinden? Gemeindeversammlungen oder Exekutiven beschliessen zwar souverän – doch wer hat die Grundlagen geliefert? Niemand wirft im Einzelfall Entscheidungsträgern vor, da und dort die Rechtslage nicht zu kennen. Doch alle sollten dies klar kommunizieren und nicht den Anschein erwecken wollen, autonom gehandelt zu haben. Aktuelle Thematik: Viele Gemeinden sind überfordert mit einzelnen Verwaltungsaufgaben. Sie schliessen sich zusammen zu Zweckverbänden und hebeln damit Teile der einstigen kommunalen Zuständigkeit aus. Brisantes Beispiel aus jüngster Zeit: Eine Gemeinde hat die ganze Verwaltung ausgelagert an ein Privatunternehmen. Wo bleibt die direkte Demokratie hier? Sie verkommt zur Illusion.
Kantonale Direktorenkonferenzen
16 kantonale Direktorenkonferenzen „koordinieren“ den laufenden Handlungsbedarf ihrer Gebietshoheiten. Dabei ist wohl eine Hundertschaft kantonaler Direktoren involviert. Alle mit Sekretariatsdiensten. Auch eine Konferenz der Kantonsregierungen und ein eigenes Haus der Kantone in Bern zählen zur Infrastruktur. Argwöhnisch wachen diese Politikerinnen und Politiker darüber, dass der Bund ihnen nicht dreinredet. Ein Diktat aus Bern ist – wie im November 2014 im Fall Pauschalsteuer – unerhört unerwünscht.
Die Zukunft beginnt morgen
Ob die Entzauberung der Demokratie (als die beste aller schlechten Staatsformen, Churchill) durch die globalen Umwälzungen tatsächlich systemgefährdende Qualität erreicht hat – wie einzelne Beobachter diagnostizieren (Willke) – ist ungewiss. Die Bedrohung der Demokratien durch einfache, aber falsche Antworten ist allerdings nicht wegzudiskutieren. Nicht zu übersehen ist auch die Konfusion, entstanden durch Globalisierung, Wissensgesellschaft und Komplexität der grenzüberschreitenden Fragen. Personen und Gremien sollten sich damit auseinandersetzen. In der Schweiz auch das Volk.
Stillstand ist unschweizerisch
Schon immer tat sich die Schweiz schwer mit Reformen. Letztmals wurde eine grosse angeschoben durch Napoleon. Seither ist unser Land sehr erfolgreich in die Zukunft gestürmt. Die Kombination kleinräumiger Wirtschafts- und politischer Strukturen und pragmatischer Weltoffenheit hat sich bewährt. Jetzt stehen wir erneut vor einer „Quasi-Revolution“. Statt uns rückwärtsblickend über abhandengekommene Konkordanz im Bundeshaus zu ärgern, wie René Zeller das in der NZZ tut, sollten wir 2015 zupacken. Wir dürfen uns die Reformthemen nicht von aussen aufdrängen lassen. Kritische Geister verändern die Welt – auch die Schweiz?
Literatur
„Demokratie in Zeiten der Konfusion“, Helmut Willke (2014)
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