Der Auftakt hätte nicht erfolgreicher sein können. Mitgebracht hat Aviel Cahn «Einstein on the beach», einen Klassiker der modernen Oper, der aber zum ersten Mal in der Schweiz gezeigt wurde. Philip Glass und Robert Wilson haben das Stück vor mehr als 40 Jahren in New York herausgebracht. Damals in der coolen, unterkühlten Wilson-Aesthetik. In Genf war es ein poetisch-magischer Bilderzauber, verspielt und zart, absurd und verträumt, dem man sich nicht entziehen konnte. Staunend folgte man Einsteins Büchergestell, dass unmerklich immer höher wächst, man staunte noch mehr, als Artisten darauf und darin herumturnten, man staunte über die Seejungfrau, die sich tollkühn durch die Lüfte schwingt, oder über die schöne Dame, die ins Wasserglas eintaucht und ihre Unterwasserpirouetten dreht. Man staunt über den Schimmel, der im Wolkennebel der Kaleidoskop-Spiegel-Welt die Ruhe bewahrt und man staunt – zu guter Letzt – auch über das Orchester, das vier Stunden lang (ohne Pause!) die hypnotisierenden, (fast) immer gleichen Klänge spielt, die einen total einlullen…
Von einer Baustelle zur anderen
Nun sitzt Aviel Cahn in seinem neuen Büro, hoch oben unter dem Dach des Grand Théâtre. Ein bisschen kahl wirkt es noch. Die Möbel sind provisorisch. «Nicht mal ein Bildschirm ist hier, damit man sieht, was auf der Bühne vor sich geht …» Aviel Cahn nimmt es locker. Die vorläufig noch rudimentäre Einrichtung ist noch das kleinste Problem. «Als ich vor zwei Jahren meinen Vertrag unterschrieben habe, hiess es: ‘Ah, Herr Cahn, sie kommen in ein wunderbares fixfertig renoviertes Haus’ … und voilà, das Haus ist zwar eröffnet, aber man läuft hinter den Kulissen von einer Baustelle in die andere. Das ist mühsam. C’est partout la même chose … und auch in der Schweiz eine Realität.» Allzu sehr ereifern mag er sich allerdings nicht. «Es ist nicht ideal, aber es ist auch nicht schlimm. Es ist einfach so …» Dann sagt er noch: «Wenn man ein Haus umkrempeln will wie ich, macht es die Sache allerdings zusätzlich schwierig.»
Das Umkrempeln hat schon mit «Einstein on the beach» begonnen. Was hat ihn bewogen, dieses Werk wie einen Wegweiser an den Anfang seiner Direktionszeit zu setzen? «Weil es ein Stück der Öffnung ist. Es markiert den Willen zum Zeitgenössischen, es ist ein Stück, das mit der Tradition dieser Kunst und Form stark bricht und Platz für das Visuelle schafft. Oper ist ja gerade im nördlichen Europa, im deutschsprachigen Raum, sehr verkopft durch das sogenannte Regietheater. Demgegenüber hat gerade Daniele Finzi Pasca mit seiner Inszenierung eine sehr sinnliche Art gefunden, mit der Oper umzugehen.» Durch seine Arbeit mit dem Cirque du Soleil und den grossen Eröffnungsshows bei olympischen Spielen und zuletzt beim Fête des Vignerons hat der Tessiner Regisseur einschlägige Erfahrungen einbringen können.
Zum Umkrempeln gehört natürlich auch die Musik von Philip Glass. «Man kann sie sperrig nennen, aber eigentlich ist sie sehr sinnlich», sagt Cahn. «Sperrig ist sie vielleicht in ihrer Sturheit … one, two, three, four, one, two, three, four … wenn man sich da nicht auf den meditativen Aspekt einlässt, wird man nervös, bekommt Herzklopfen und rutscht auf dem Stuhl hin und her. Aber der Event-Charakter ist auch wichtig, es ist ein Happening.»
Opernwüste Genf
Aviel Cahn kann jetzt bei seinem Antritt in Genf auf zehn Jahre Opern-Erfahrung in Antwerpen und Gent zurückblicken. «Antwerpen und Flandern sind Pioniere oder Vorreiter einer Avantgarde und von einer Weiterentwicklung der Genres im Theater, im Ballett und in der Mode», sagt Cahn. «Da gibt es in Genf nichts Vergleichbares, hier befindet man sich sozusagen in der Wüste. In Antwerpen habe ich mit sehr provokativen Projekten angefangen, hier in Genf ist es vielschichtiger. Es gibt in meinem Programm Politisches, gerade mit der Opern-Uraufführung ‘Reise der Hoffnung’, oder mit ‘Entführung aus dem Serail’, wo die türkische Autorin Asli Erdogan neue Sprechtexte schreibt.» Die Musik von Mozart werde aber nicht gross angetastet, beruhigt Aviel Cahn. «Also Politisches gibt es in diesem Spielplan, und Religiöses ist ganz stak vorhanden mit ‘Saint François d’Assise’ und ‘Les Huguenots’. Aber sehr bald kommt auch Barockes: ‘Orfeo’ von Monteverdi und ‘Les Indes Galantes’ von Rameau. Immer mit Dirigenten, die aus der Barock-Szene kommen, also Mark Minkowski etwa oder Stefano Montanari.» Und gleich als nächstes wird «Aida» im Oktober aufgeführt. «Ein guter Spielplan», so Cahn, «bezieht seine Qualität aus der Vielfalt.»
Nicht ohne Stolz erzählt Cahn, dass verschiedene Zuschauer – ganz mutig – ein Abonnement speziell für die zeitgenössischen Produktionen genommen haben. «Es gibt ja auch grosse intellektuelle Kreise in dieser Stadt, denen die Oper immer ein bisschen suspekt ist und die sie als eher langweilig und behäbig ansehen. Gerade Leute, die sich – wie in Genf – stark mit zeitgenössischer Kunst befassen, können zu unserer Programmierung sagen: oh, da wollen wir dabei sein …»
Peking, Helsinki, Bern, Antwerpen …
Mit seinen 45 Jahren ist Aviel Cahn vergleichsweise noch jung als Opern-Intendant. Erfahrung auf diesem Gebiet hat er allerdings schon mehr als mancher Ältere. Aufgewachsen ist er in Zürich, ausgebildet als Jurist und Sänger, und von Anfang an zog es ihn zur Musik. Und in die grosse Welt. Schon 2001 organisierte er im Konzertsaal des Kaiserpalastes in Peking einen italienischen Arienabend mit einem chinesischen Orchester und einer italienischen Primadonna, nebst zugehörigem Tenor. Kalt war es im Saal und das chinesische Orchester damals war noch nicht über jeden Zweifel erhaben, wenn es um das italienische Repertoire ging. Aviel wuselte zwischen sämtlichen Fronten hin und her, die italienische Diva klagte: «è un desastro il maestro», liess sich dann aber doch auf den chinesischen Dirigenten Muhai Tang ein … und das Konzert fand schliesslich zur allgemeinen Zufriedenheit statt. Aviel Cahn wusste schon damals mit schwierigen Situationen umzugehen.
Es folgten drei Jahre als künstlerischer Planungschef an der finnischen Oper in Helsinki, weiter ging es ans Stadttheater Bern und anschliessend wurde er Direktor des Zürcher Kammerorchesters. 2009 berief man ihn an die Spitze der Flämischen Oper in Antwerpen. Und jetzt Genf … An Erfahrung fehlt es Aviel Cahn also nicht. An Fingerspitzengefühl auch nicht, an Leidenschaft und Liebe zu Oper und Musik erst recht nicht – gute Voraussetzungen also, um Genf in den kommenden Jahren spannende Opern- und Konzertabende präsentieren zu können, abseits der ausgetretenen Wege, aber durchaus mehrheitstauglich.
«Für mich ist es eine Reise, die wir mit dem Publikum machen. Es geht darum, neue Handschriften und neue Dinge auszuprobieren. Es geht um Innovationen, und, ja … es geht auch darum, die Leute aufzufordern, mitzudenken. Ich sage immer, wenn man in die Oper kommt, muss man mit dem Mantel nicht gleich auch noch das Gehirn an der Garderobe abgeben. Man soll in der Oper schwelgen, sich zutiefst berühren lassen – und auch denken …»