Aus den USA kennen wir den Begriff „Tipping Point“. Er bezeichnet jenen Moment, in dem eine gradlinige Entwicklung abrupt die Richtung wechselt. Oder bei einer positiven Errungenschaft überraschenderweise plötzlich die negativen sichtbar werden oder zu überwiegen beginnen.
Die Personenfreizügigkeit
Seit dem 9. Februar 2014 ist der Begriff „Personenfreizügigkeit“ das Wort des noch jungen Jahres. Innerhalb der EU – des europäischen Binnenmarktes - ist sie eine der vier nicht verhandelbaren Grundfreiheiten, eine Errungenschaft aus dem Jahr 1993. Die Schweiz hat 2002 im Rahmen der Bilateralen I freiwillig ja gesagt zu dieser Interpretation. Sie hat sich an der Urne dafür entschieden.
Am 10. Februar 2014 erklärte Toni Brunner, Präsident der SVP, der Welt und der Schweizer Bevölkerung, die das glauben wollten, das Resultat sei „ein Wendepunkt in der Zuwanderungspolitik. Es sei ein Signal für ganz Europa“. Worauf die populistischen Rechtsparteien unserer Nachbarländer begeistert applaudierten. Nicht allen war nach frenetischem Jubelausbruch zu Mute. Das Unbehagen im Kleinstaat und das Befremden im befreundeten Europa waren mit Händen zu greifen.
Blocher’s Triumpf ist das Ergebnis seines über dreißigjährigen, unermüdlichen Kampfs gegen alle Andern. Das Unbehagen der 49,7% Abstimmungsverlierer und weiter Teile der europäischen Bevölkerung hat für sein Welt- und Menschenbild keine Relevanz. Endlich hat er den Wendepunkt („Tipping Point“) geschaffen. Er hat schon immer gewusst, was für unser Land das einzig richtige ist.
Das Cleverle
Am Abstimmungstag selbst erschien in der NZZ am Sonntag ein Beitrag, in dem sich der Präsident des EU-Parlaments Martin Schultz zu den Befürchtung großer Teile der Schweizer Bevölkerung äußerte, ihre Besonderheiten zu verlieren, rückten sie näher zur EU. Er versuchte, diese Ängste zu zerstreuen. Gleichzeitig charakterisierte er Blocher wie folgt: „Blocher ist ein Cleverle. Er ist zum Milliardär geworden, weil er die Globalisierung verstanden hat, und er nutzt seine politische Macht, um seinen Reichtum abzusichern. Dafür macht er glauben, die Globalisierung lasse sich bremsen, indem man sich auf Wilhelm Tell zurückzieht.“
Wenn es unserem Cleverle gelungen ist, 50,3% der Abstimmenden zu überzeugen, ist das weder ein Grund, in Melancholie zu verfallen, noch Siegeshymnen anzustimmen. Vielmehr sollten wir uns fragen, wie mit der neuen Realität umzugehen ist.
Gefährliche Sturheit, unflexibles Taktieren, unkluges Schweigen
Gute Lösungen und erfolgreiche Strategien haben ein Verfalldatum. In einer Zeit, in der sich die Welt mit großem Tempo verändert, werden vormals profitbringende Produkte („Cash Cows“) - eh sich’s deren Erfinder bewusst werden - durch neue Trends zu Ladenhütern degradiert. Politische Rezepte und Strukturen, die in der Schweiz noch vor kurzem als sakrosankt galten, werden immer drängender durch den Zeitenwandel infrage gestellt. In der EU brodelt es vernehmlich, nachdem sich große Teile der Bevölkerung der Nationen durch das Prinzip der Freizügigkeit in die Enge getrieben sehen.
Diesen Ängsten mit den immer gleichen Belehrungen entgegentreten zu wollen, führt zu nichts. Dieses Grundprinzip der Freiheit innerhalb der EU ist nicht unverhandelbar, sondern die Bruchstellen des Konstrukts sind zu reparieren, bevor es zum Auseinanderbrechen kommt. Einer Neudefinition der Personenfreizügigkeit kann nicht mit taktischem Schweigen begegnet werden. Von „Alternativlosigkeit“ - aus dem Begriffsareal der deutschen Kanzlerin – zu reden ist schwer verständlich.
Der große Irrtum
Wie wir seit Nassim Taleb wissen, sind wesentliche Ereignisse in der Zukunft nicht voraussehbar. Akribische, rational begründete Voraussagen erweisen sich plötzlich als Makulatur. Die Welt ist anders, als wir denken. Sie ist chaotisch, unberechenbar. Die Schätzungen über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit entpuppen sich als grobe Fehlprognosen. In der Schweiz, wie auch in der EU. Die Zuwanderer kamen nicht nur in vorgesehener Anzahl, sondern in Massen. Zudem kamen Menschen, nicht statistische Größen.
Diese Entwicklung bedroht eine ganze europäische Strategie und mit ihr die Einwanderungs- und Auswanderungsländer. Hier verlassen zu viele kluge und kreative Köpfe ihre Heimat und führen zu einem „Brain Drain“, dort, wo sie Arbeit finden, verdrängen sie je länger je mehr einheimische Arbeitssuchende. Dies ist mit ein Grund der unerträglichen Jugendarbeitslosigkeit in Italien, Spanien, Frankreich, England und anderswo.
Das Katastrophenrezept
Paul Watzlawick hat in seinem Bestseller „Anleitung zum Unglücklichsein“ schon vor 25 Jahren eindringlich vor „dem sturen Festhalten an Lösungen, die irgendwann einmal durchaus ausreichend, erfolgreich oder vielleicht sogar die einzig möglichen gewesen waren“ gewarnt. „Mehr desselben. Hinter diesen beiden Worten verbirgt sich eines der erfolgreichsten und wirkungsvollsten Katastrophenrezepte“, schrieb er.
„The Tipping Point“
Nüchtern betrachtet sind am 9. Februar 2014 zwei „Umkipp-Punkte“ eingetreten. In der Schweiz hat der Spaltpilz der Nation erfolgreich taktiert, die Folgen waren vor der Abstimmung bekannt und wurden von 50,3% der Abstimmenden in den Wind geschlagen. Ob zu Recht oder Unrecht wird sich zeigen. Doch das System der erfolgreichen Kooperation mit der EU, das sich zögerlich und misstrauisch beobachtet über 20 Jahre entwickelt hat, ist abrupt gekippt. Jetzt soll auf Kampf umgestellt werden. Unser „Trio-Grande“ (BloKöMö) steht für diese veraltete Strategie aus dem letzten Jahrhundert.
In der EU hat über Nacht – als Folge des „ungebührlichen“ Verhaltens der Eidgenossen – ein unantastbarer Pfeiler des großartigen Friedensprojektes feine Haarrisse bekommen. Zumindest ist virulent geworden, was unter der Oberfläche in vielen europäischen Staaten brodelt. Statt mehr, wird weniger gefordert, von der Personenfreizügigkeit.
Es ist zu hoffen, dass hier wie dort rechtzeitig die schadhaften Stellen der „einzig möglichen“ Konzepte erkannt und saniert werden, bevor das Ganze noch mehr Schaden nimmt.