Gut zwei Wochen nach Vollendung seines 93. Lebensjahres ist Hans Küng am 6. April 2021 in Tübingen gestorben. Mit ihm nimmt ein katholischer Theologe Abschied von dieser Welt, der wie kaum ein anderer die wechselvolle Geschichte seiner Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts miterlebt und durchlitten, sie aber auch mit kritischem Feuer begleitet und mitgeprägt hat. Dabei war er ganz und gar beseelt vom Willen, die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden für das 21. Jahrhundert weltfähig zu machen und auf einen fruchtbaren Dialog mit den Weltreligionen ebenso wie mit Atheisten und Agnostikern zu verpflichten, um für eine gemeinsame Friedensarbeit gerüstet zu sein.
Frommer Katholik und tapferer Eidgenosse aus Sursee
Als die Schweizer Männer 1939 mit einer Generalmobilmachung zur Abwehr gegen Hitlers Krieg an die Grenze gerufen wurden, war Hans Küng 11 Jahre alt, ein wacher Bub, der aufmerksam verfolgte, was sich in der Schweizer und in der Weltgeschichte zusammenbraute. Nach dem Krieg entschied er sich, Philosophie und Theologie zu studieren, und zwar in Rom bei den Jesuiten, im Zentrum der katholischen Kirche. Der tapfere Eidgenosse und fromme Katholik war von hehrem Idealismus getragen, der seinen Lebensentwurf trotz aller Brüche bis zum Schluss prägte. Sein Freiheitswille widerstand klerikaler Unterwerfung, und sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein konnte trotzig und widerspenstig, ja verletzend sein, nicht nur für seine Gegner im Vatikan.
Vor allem aber hatte er einen sicheren Instinkt für Fragestellungen, die an der Zeit waren. Dass der unzeitgemässe Streit zwischen Katholiken und Protestanten überwunden werden konnte, wenn man nur an die Wurzeln ging, bewies er schon 1957 mit seiner Doktorarbeit: Karl Barth, der grosse protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts, und das als gegenreformatorisch verschriene Konzil von Trient im 16. Jahrhundert folgen denselben Spuren, wenn sie von Gottes Versöhnung mit den Menschen reden. Damit waren die Gräben zwischen den konfessionellen Kulturen gewiss nicht überwunden, aber die dogmatischen Prinzipienreiter auf beiden Seiten in die Schranken gewiesen. Am Reformationsfest 2017 in Speyer – 500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag in Wittenberg – zog Wolfgang Thierse daraus den zutreffenden Schluss: «Die Gründe – die theologischen wie die politischen –, die damals zur Kirchenspaltung führten, können heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen … Wir alle sind Kinder der Reformation.»
Seine Theologie erschüttert die Fundamente des katholischen Systems
Mit seiner theologischen Neuauslegung eines kirchentrennenden Dogmas legte Hans Küng die Axt an die Wurzeln des katholischen Systems. Für viele kam ein solches Denken wie gerufen, als Johannes XXIII. 1959 das Zweite Vatikanische Konzil einberief. Mit seinen Büchern «Konzil und Wiedervereinigung» (1960) und «Strukturen der Kirche» (1962) schrieb Hans Küng sozusagen das Skript zu den Verhandlungen auf dem Konzil von 1962 bis 1965. Für den sprachbegabten und redegewandten Konzilsberater war dies ein Lernprozess erster Güte und ein Vernetzungswerk für sein ganzes Leben. Die Einsichten fanden in seinen theologischen Welt-Bestsellern in 30 Sprachen ihren Niederschlag und gereichten bald vielen Katholikinnen und Katholiken in den Frostzeiten der nachkonziliär zerstrittenen Kirche zum Trost und zur Ermutigung.
Doch wer an den Fundamenten der katholischen Kirche rüttelt, kommt an einer Fixierung des 19. Jahrhunderts nicht vorbei: am Primat des Bischofs von Rom und am Fragezeichen hinter dem Wort «Unfehlbar?». So hiess Hans Küngs Buch 1970. Ausgangspunkt war eine Frage des Seelsorgers, der er sein Leben lang blieb: die Familienplanung. Das Konzil hatte ein Beratungsgremium beschlossen, das dieses Problem vertieft beraten sollte. Es empfahl schliesslich in seiner Mehrheit die Möglichkeit auch einer «künstlichen» Empfängnisverhütung. Aber der sonst aufgeklärte Papst Paul VI. sprach sich in seiner sog. Pillenenzyklika 1968 dagegen aus. Warum? Weil er der Lehre seines Vorgängers Pius XI. nicht widersprechen wollte. Der Aufschrei war gewaltig, Küngs Frage schien mehr als berechtigt. Doch das System blieb in sich selbst gefangen. Der nächste Papst, der rückwärtsgewandte Pole Johannes Paul II., auferlegte Hans Küng 1979 ein Berufsverbot. Hans Küng hat darunter lange Zeit sehr gelitten, er blieb der fromme Idealist, der an die Kirche glaubte und sie mit seinem Tun in ihrem eigenen Interesse reformieren wollte.
Kämpferisch auch ausserhalb der Mauern des katholischen Lehrgebäudes
Doch Hans Küng war auch politischer Kopf genug, um an der Universität Tübingen mit Hilfe des Landes Baden-Württemberg einen Sonderlehrstuhl und ein Institut für ökumenische Forschung zu bekommen. Sein Lebensabenteuer konnte weitergehen, ausserhalb der engen Mauern des katholischen Lehrgebäudes, sehr zum Missfallen Roms. Dessen altrömische Devise der «Damnatio memoriae» hat in Küngs Fall gründlich versagt: Dem Vergessen anheimgestellt sind schon eher lebensfremde Katechismus-Antworten, gegen die er anrannte.
In welche Richtung Hans Küng gehen sollte, war jedoch längst nicht klar – so wie schon sein bisheriger Werdegang mehr Suchprozess als gradlinige Strategie war. Nicht zuletzt die weltpolitische Zäsur von 1989 brachte eine Fragestellung hervor, die zündete: Wie können nach dem Fall der Mauer des Kalten Kriegs Menschen und Völker in Frieden zusammenleben? Welche Werte teilen Gläubige mit Atheisten? Wo vertreten die Weltreligionen ein Ethos, das die Menschheit nicht spaltet, sondern weiterbringt?
Das Parlament der Weltreligionen in Chicago 1993 wurde sozusagen Hans Küngs zweite grosse Konzilserfahrung. Man bat ihn, dafür die geistige Grundlage zu erarbeiten. Sein Buch «Projekt Weltethos» (1990) wurde von dieser Weltversammlung aller namhaften Religionsführer schliesslich als verbindliche «Erklärung zum Weltethos» verabschiedet. Es war das Gegenkonzept zum verqueren «Clash of Civilisations», mit dem Samuel Huntington 1996 einen Kampf der religiös unterfütterten Zivilisationen heraufbeschwor. Spätestens der Einsturz der New Yorker Türme im September 2001 zeigte, wie gerne religiöse Fundamentalisten und engstirnige Fanatiker den Fehdehandschuh aufnehmen.
Hans Küng – ein Global Player
Hans Küng wurde damit zum Global Player (Alois Riklin). Es war nur konsequent, dass das InterAction Council ehemaliger Staats- und Regierungschefs unter der Führung von Helmut Schmidt und Tony Blair ihn einluden, zum 50. Jahrestag der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» der Vereinten Nationen eine «Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten» zu verfassen, mit dem Grundgedanken: Wer Menschenrechte einfordert, muss auch bereit sein, Menschenpflichten zu erfüllen. Die neunzehn Artikel zu einem menschenfreundlichen Handeln wurden 1998 publiziert, jedoch von der Uno-Vollversammlung nicht angenommen, wohl aber in die Afrikanische Charta der Menschenrechte und in die Amerikanische Menschenrechtskonvention aufgenommen. 2001 sprach Hans Küng auf Einladung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kofi Annan vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen über den Dialog der Kulturen, und 2009 war er Mitverfasser des «Manifests für ein globales Wirtschaftsethos».
Erkämpfte Freiheit, umstrittene Wahrheit
Nach seiner Emeritierung schrieb Hans Küng seine Erinnerungen und Erfahrungen nieder unter den programmatischen Titeln: «Erkämpfte Freiheit» (2002), «Umstrittene Wahrheit» (2007) und «Erlebte Menschlichkeit» (2013). Wer die drei voluminösen Bände in Händen hält, mag denken: Er bleibt auch am Ende seines Lebens der biblischen Aufforderung treu, man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Die Bücher sind absolut faszinierend zu lesen als eine Theologie-Geschichte des 20. Jahrhunderts mit all den grossen Figuren in Kirche und Welt, mit denen er sich auseinandersetzte und immer wieder auch stritt.
Zuletzt konnte er es nicht lassen, ein letztes Tabu christlichen Selbstverständnisses in Frage zu stellen: das Verbot eines selbstbestimmten Todes. Mit dem Buch «Glücklich sterben?» (2014) empörte er Christinnen und Christen weit über den katholischen Raum hinaus. Als Christ jedoch, der sich sein Leben lang den Fragen der Welt stellte, fühlte sich Hans Küng gedrängt, sich auch dieser Frage zu stellen. Er selber jedoch hat in den letzten Jahren erfahren, wie die biologischen Gesetze des Alterns – eine schwere Zunge, ein schwindendes Augenlicht, zittrige Finger, unsichere Bewegungen – die Kräfte eines erfüllten Lebens allmählich aufzehren. So spürte er seinen Tod nahen und empfing ihn in grosser Zufriedenheit (Hermann Häring).
50 Jahre nach Küngs grundsätzlicher Infragestellung des absolutistischen römischen Systems steht die kirchliche Autorität am Abgrund: Kleriker haben Tausende von Menschen sexuell missbraucht, Bischöfe haben lange Zeit die Aufdeckung verhindert, der moralische Zerfall kommt vor aller Augen ans Licht. Wer es damals nicht glauben wollte, muss sich heute fragen, ob ein lernunfähiges System nicht implodieren muss. Hans Küng war überzeugt, dass der Klerikalismus tödlich ist und einstürzen muss. Doch er fügt hinzu: Der Kern der Kirche, die Botschaft Jesu, ist damit nicht korrumpiert und bleibt liebenswert trotz allem.