Am 22. Juni ist es eingeweiht und am vergangenen Wochenende dem Publikum vorgestellt worden. Das Kunstmuseum in Chur hat eine geradezu atemberaubende Aufwertung erfahren. Früher war es ein Geheimtipp für Liebhaber, die es schätzten, Werke der Giacomettis und anderer Künstlerinnen und Künstler mit Bündner Bezug im fast familiären Rahmen der Villa Planta sehen zu können. Heute spielt das Churer Kunsthaus in einer ganz anderen Liga; es präsentiert sich auf dem Niveau der bedeutendsten Museen der Schweiz.
Schenkung als Initialzündung
Wie so viele Häuser litt das Kunstmuseum Chur an einem embarras de richesses. Der Umfang der Sammlung stand in keinem vernünftigen Verhältnis zu den Präsentationsmöglichkeiten. So schlummerten allzu viele bedeutende Werke im Depot. Für Wechselausstellungen, die für die aktive Rolle eines Museums im Kunstgeschehen heute unverzichtbar sind, gab es in den beengten Verhältnissen wenig Spielraum. Die lange gehegte Idee einer Erweiterung konnte jedoch erst zum Projekt werden, als eine generöse Schenkung Bewegung auslöste.
Henry (Harro) Bodmer, Nachfahre einer Zürcher Seidenfabrikanten-Familie, Financier und langjähriger CS-Verwaltungsrat, war teilweise in Graubünden aufgewachsen und fühlte sich dem Kanton zeitlebens verbunden. Er spendete zwanzig Millionen Franken für die Erweiterung des Museums – und äusserte die Hoffnung, dessen Eröffnung noch erleben zu können. Obschon die Bündner das Projekt, das samt Restauration des Altbaus auf 34 Millionen Franken zu stehen kam, sehr zügig realisierten, hat Bodmer die Einweihung nicht mehr erlebt; er starb im vergangenen Jahr.
Überzeugender Neubau
Im zweistufigen Architekturwettbewerb siegte das junge Estudio Barozzi/Veiga aus Barcelona mit dem Entwurf eines markanten, aber nicht auftrumpfenden Kubus und der Idee, das Hauptvolumen unter den Boden zu verlegen. Die Erweiterung des Museums überzeugt heute als deutlich lesbarer Bau, der in der kleinteiligen Struktur der Churer Innenstadt selbstbewusst seinen Platz einnimmt, als hätte er immer dort gestanden.
Villa Planta und Barozzi/Veiga-Bau stehen bezüglich Ausstrahlung und Abmessungen gleichwertig beieinander. Zwar geht das neue Haus in Stil und Material kompromisslos den eigenen zeitgemässen Weg, aber auf den zweiten Blick finden sich dennoch Korrespondenzen. Die Formensprache der Palladio-Villen gibt dem 1874-76 errichteten Bau Johannes Ludwigs die Fasson. Überraschend findet sich das palladianische Ideal auch bei Barozzi/Veiga wieder. Ihr Neubau reflektiert es mit mediterraner Grazie, kraftvoller Symmetrie und stolzem Auftritt.
Einziger Zweck des hoch aufragenden Kubus scheint die monumentale und ornamentale Aufwartung für das Museumsportal zu sein. Dieses empfängt die Besucher und leitet sie durch ein grosszügiges Foyer, das sich mit einem riesigen Fenster zur Villa Planta hin öffnet. Weiter geht’s zur Sammlung im ersten Untergeschoss. Augusto Giacometti (ein entfernter Verwandter der berühmten Malerfamilie), Ernst Ludwig Kirchner und weitere Künstler mit Graubünden-Bezug wie der zu wenig bekannte Lenz Klotz werden in einer Suite von Sälen mit hervorragenden Stücken präsentiert.
Intime Begegnungen in der Villa Planta
Von diesem Sammlungsbereich führt eine lange schmale Treppe wie eine Himmelsleiter ins Helle des von den Churer Architekten Gredig Walser sorgfältig restaurierten Neurenaissance-Baus. Die prächtige Villa Planta löst nach wie vor das Versprechen einer intimen Begegnung mit den Stars Giovanni und Alberto Giacometti sowie mit Giovanni Segantini, Ferdinand Hodler und anderen ein.
Der Direktor des Kunstmuseums Chur, Stephan Kunz, rückt die nun über genügend Raum verfügende Sammlung seines Hauses ins beste Licht. Letzteres ist übrigens keine blosse Metapher, denn sämtliche Ausstellungsräume profitieren von hervorragender LED-Lichttechnik. Neben der vergrösserten Sammlungspräsentation hat Kunz ausserdem mit zwei temporären Ausstellungen eröffnet, mit denen er die neue Bedeutung seines Hauses für die Schweizer Kunstszene nachdrücklich unterstreicht.
Gehen als condition humaine
Da ist zunächst «Solo Walks – eine Galerie des Gehens». Stephan Kunz hat sie mit Juri Steiner und Stefan Zweifel klug kuratiert. Das zweite Untergeschoss wird für diese Schau als offener Raum ohne Zwischenwände bespielt. Ausgangspunkt ist die ikonische Skulptur «L’homme qui marche» von Alberto Giacometti. Sie exponiert das Gehen – auch das Vorbeigehen und Vergehen – als existenzielle Gegebenheit, als condition humaine. Zugleich verweist das Thema im einer Region der Alpenübergänge und Verbindungstäler auf das Reisen und Transportieren, den Handel und Tourismus. Vieles davon vollzog sich bis vor historisch kurzer Zeit im Modus des Gehens; in der heutigen Freizeitgesellschaft wird er wieder neu hochgehalten.
«Solo Walks» offeriert einen in der Kürze nicht darstellbaren Reichtum an künstlerischen Bezügen und thematischen Anregungen. Bestechend, dass hier nicht einfach ein Thema visuell und kunstgeschichtlich durchbuchstabiert wird, sondern dass die Exponate je für sich zu fesseln vermögen und zugleich in vielfältige offene, nicht didaktisch vorgespurte Dialoge mit anderen Werken eintreten.
Hochkarätig und eigenständig
Namen wie Paul Klee, Joseph Beuys, Cy Twombly, Markus Raetz, Louise Bourgeois, Bruce Nauman, Marina Abramovic, Francis Alÿs und Roman Signer mögen andeuten, dass hier nicht thematische Illustration betrieben, sondern eigen-sinnige hochkarätige Kunst präsentiert wird. Neben malerischen, zeichnerischen, skulpturalen, foto- und videografischen sowie objektkünstlerischen Werken sind mit Dokumenten von Jean-Jacques Rousseau und Robert Walser auch literarische Reflexe des Spazierens und Wanderns bezeugt.
In der Tat zeigt «Solo Walks» Literatur und bildende Kunst in produktiver Verschränkung. Damit schlägt das Kunstmuseum Chur einen eigenständigen Weg ein. Das zur Ausstellung erschienene Buch unterstreicht diesen Ansatz. Es bietet neben dem einführenden Essay sowie den Abbildungen der Werke und Exponate eine ausgedehnte Collage literarischer Texte zum Thema Gehen. Der Kompilator Stefan Zweifel breitet mit dieser «Textschlaufe» die bei seinen Recherchen und Konzeptarbeiten zutage geförderten Funde aus. Mit dem Einblick in seine Kuratorenwerkstatt gestattet er den Lesern, ihr individuelles Erlebnis des Ausstellungsbesuchs anzureichern.
Vom Provinzmuseum zum Leuchtturm
Mit dem «Labor» genannten Raum über dem Foyer im Neubau verfügt Chur nun über eine, wie Stephan Kunz das nannte, «Kunsthalle im Kunstmuseum». Hier bekommen Kunstschaffende die Gelegenheit, im Rahmen von Auftragsarbeiten diesen gegebenen Raum auszuloten und darin mit ihren eigenen Ausdruckmöglichkeiten zu experimentieren.
Als Erste zeigt die in Zürich lebende Bündner Künstlerin Zilla Leutenegger hier ihren Werkzyklus «Tintarella di luna», grossformatige und -flächige Monotypien, mit denen sie das Motiv des nächtens von aussen in dunkle Räume fallenden Lichts variiert. Die Bilder leben von einer zwischen Beklemmung und Geborgenheit changierenden Stimmung und der hinreissend schönen Materialität der aufgepressten Farbflächen.
Es ist erstaunlich: Mit vier Jahren Planungs- und Bauzeit und einer Investition, die – Schenkung Bodmer inbegriffen – etwa dem Aufwand für die Sanierung der Zürcher Tramstation Bellevue im vergangenen Jahr entspricht, hat der Kanton Graubünden sein Kunstmuseum Chur von einem (durchaus kostbaren) Provinzmuseum in einen kulturellen Leuchtturm verwandelt. Mit seinem Ensemble von Villa Planta und Barozzi/Veiga-Bau sowie mit der endlich angemessen präsentierten Sammlung und den intelligent genutzten Möglichkeiten für Wechselausstellungen gebührt dem Churer Museum unzweifelhaft das klassische Michelin-Prädikat «vaut le voyage».