Israel war nach seiner offiziellen Staatsgründung am 14.Mai 1948 gerade einmal sechs Tage alt, als am 20. Mai der schwedische UN-Vermittler Graf Folke Bernadotte den neuen Staat betrat. Er war von den Vereinten Nationen geschickt worden, um im Krieg, den arabische Staaten gegen Israel begonnen hatten, zu vermitteln. Schon seine Ankunft in Jerusalem stand unter keinem günstigen Vorzeichen. Mitglieder der terroristischen Stern-Bande kurvten in ihren Autos durch die Stadt und riefen „Stockholm gehört Ihnen, Jerusalem ist unser.“ Damit nicht genug: „Sie arbeiten vergeblich“, riefen sie Bernadotte zu, „solange es einen einzigen Feind unserer Sache gibt, haben wir eine Kugel für ihn in unserem Magazin.“
Es dauerte nur knapp vier Monate, bis eine Kugel den schwedischen UN-Vermittler traf. Am 17. September 1948, vor siebzig Jahren also, ermordeten Mitglieder der Stern-Bande Folke Bernadotte in Jerusalem. Die Stern-Bande war eine Abspaltung der Irgun-Bande. Diese hatte am 22. Juli 1946 einen Flügel des King-David-Hotels in Jerusalem in die Luft gesprengt, wo sich Teile der britischen Mandatsregierung und Abteilungen des britischen Generalstabes für Palästina befanden. Die Irgun unter Befehl des späteren israelischen Premierministers Menachem Begin tötete 91 Soldaten und Zivilisten. Ein knappes Jahr später, am 9.April 1947, schlug ein Kommando der Irgun wieder zu. Bewaffnete Zionisten überfielen das arabische Dorf Deir Yassin an den Aussenbezirken Jerusalems und ermordeten etwa 100 Zivilisten. Die Botschaft der Angreifer: den Palästinensern sollte das Massaker Warnung sein, im Falle der Staatsgründung Israels von jedem Widerstand abzusehen.
Die Drohung, welche die Zionisten gleich nach der Ankunft auch gegenüber Folke Bernadotte ausgesprochen hatten, zeigte in dieselbe Richtung: Auch der Uno-Mann werde eine Kugel bekommen, sollte er sich den politischen Zielen und der Politik Israels entgegenstellen. Diese rüde Warnung traf einen Mann, der höchste humanitäre Referenzen mit nach Palästina brachte. Von 1943 bis 1948 war er erst Vizepräsident, dann Präsident des schwedischen Roten Kreuzes. In dieser Funktion verhandelte er mir keinem anderen als Heinrich Himmler. Bernadottes Ziel: die Freilassung skandinavischer KZ-Häftlinge; etwa 8’000 kamen frei. Etwa 10’000 bis 12’000 Häftlinge anderer Nationen wurden durch die Bemühungen von Bernadotte gerettet. Unter diesen befreiten Häftlingen waren nach vorsichtigen Schätzungen auch etwa 5’000 Juden.
„Gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit“
Verständlicherweise war Bernadotte aufgrund seiner beruflichen Biographie der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina nicht abgeneigt. Er kannte die Gräuel der Nationalsozialisten zu gut, um nicht der Überzeugung zu sein, dass den Juden nach dem Holocaust ein eigener, sicherer Staat zustehe. Den Arabern stand er zunächst skeptisch gegenüber. Auch war er der Meinung, dass zum Zeitpunkt seiner Ankunft das palästinensische Nationalbewusstsein ebenso wenig ausgeprägt sei wie der Wunsch nach einem eigenen Staat.
Doch im Verlaufe seiner kurzen, nur vier Monate dauernden Vermittlertätigkeit veränderte sich seine Meinung. Eine seiner Hauptsorgen galt den palästinensischen Flüchtlingen. Bernadotte forderte die Rückkehr der etwa 700'000 von Israel vertriebenen Palästinensern. Das Schicksal der Flüchtlinge, schrieb Bernadotte in einem Bericht an die Vereinten Nationen, sei eines der Haupthindernisse für die Beilegung des israelisch-arabischen Konfliktes. Es sei nicht zu widerlegen, schrieb Bernadotte, dass eine Lösung „nicht gerecht und vollständig“ sein könne, „welche die Rechte der arabischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimat nicht anerkenne“. Der folgende Satz, den Bernadotte an die UN in New York schrieb, könnte auch heute geschrieben sein:
„Es wäre ein Vergehen gegen die Prinzipien elementarer Gerechtigkeit, wenn den unschuldigen Opfern des Konfliktes das Recht der Rückkehr in ihre Häuser verwehrt würde, während jüdische Einwanderer nach Palästina fliessen“, und dadurch, wie Bernadotte sich ausdrückte, die andauernde Vertreibung der arabischen Flüchtlinge verursachten, „die für Jahrhunderte in diesem Land verwurzelt sind“.
„Haltung von Arroganz und Feindschaft“
Das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge wurde zum Hauptanliegen von Bernadotte. Nach einem Besuch in einem Flüchtlingslager in Ramallah schrieb Bernadotte:
„Ich habe sehr viele Flüchtlingslager gesehen; aber niemals zuvor habe ich eine grauenhaftere Szene in meinen Augen gesehen als in Ramallah. Unser Auto wurde von aufgeregten Massen geradezu gestürmt, die mit orientalischer Leidenschaft schrien, dass sie Essen wollten und dass sie in ihre Häuser zurückkehren wollten. Es gab eine Menge von erschrockenen Gesichtern in diesem Meer einer leidenden Menschheit. Ich erinnere mich nicht zuletzt an eine Gruppe abgerissener und hilfloser alter Männer mit ungepflegten Bärten, die ihre eingefallenen Gesichter in das Auto drängten und Fetzen von Brot zeigten, welche mit Sicherheit von normalen Leuten als nicht geniessbar angesehen würden; aber es war ihre einzige Nahrung.“
Alle Bemühungen Bernadottes, bei den Israelis eine humane Lösung des Flüchtlingsproblems zu erreichen, waren vergeblich. Bernadotte bekam den Eindruck, dass, wie er sagte, der erste Feind der Israelis die Araber seien und dass die Beobachter der Vereinten Nationen gleich an zweiter Stelle kämen. Bernadotte informierte den israelischen Aussenminister Moshe Sharett, dass die Beobachter der UN um 300 neue Offiziere verstärkt werden würden, die, wie Bernadotte sagte, bei ihrer Ankunft der jüdischen Sache durchaus sympathisch gegenüberstehen würden. Doch er wusste, dass die schrecklichen Verhältnisse ihre Meinung bald ins Gegenteil verkehren würden. „Ich konnte nicht verstehen ..., warum die jüdische Regierung gegenüber dem Vertreter der UN eine solche Haltung von Arroganz und Feindschaft annahm.“
Feind Nummer eins
Nachdem die arabische Seite zu verstehen gegeben hatte, dass sie jede Verhandlung mit Israel ablehnen würde, wenn nicht die Flüchtlinge in ihre angestammte Heimat zurückkehren könnten, und nachdem Bernadotte diese Haltung auch zu seiner eigenen gemacht hatte, hatte er, wie er schrieb, die Araber als Feind Nummer eins der Israelis abgelöst.
Dann kam der verhängnisvolle 17. September 1948. Bernadotte reiste nach Jerusalem, um ein Gebäude zu besichtigen, in welchem er sein neues Hauptquartier einrichten wollte. Sein persönlicher Berater, General Aage Landström, warnte Bernadotte und riet ihm, angesichts der Kämpfe an der Front rund um Jerusalem ein Risiko für sein Leben zu vermeiden und eine Umgehungsstrasse nach Jerusalem zu nehmen. Bernadotte aber antwortete, er habe dieselben Risiken einzugehen wie alle anderen UN-Beobachter.
Während der Passage durch die jüdischen Linien wurde Bernadottes Konvoi aufgehalten. Ein Mann, berichtete Aage Landström später, habe sein Gewehr direkt durch das Fenster geschoben und auf Graf Bernadotte gezielt und den ebenfalls im Auto sitzenden Colonel Serot getroffen. Serot sei sofort tot gewesen, Bernadotte sei schwer verwundet worden. Bernadotte starb kurz darauf.
Kommandant Jitzhak Shamir
Später berichtete Landström, dass der Ort des Anschlages sorgfältig ausgesucht worden sei und dass die Attentäter nicht nur genau gewusst hätten, in welchem Auto des Konvois Bernadotte gefahren sei, sondern auch, auf welchem Sitz er gesessen habe.
Die Attentäter identifizierten sich später als „Vaterländische Front“, eine Untergruppe der Stern-Bande, deren Kommandant Jitzhak Shamir war, der spätere Ministerpräsident. Shamir verschwand zunächst im Untergrund. Kurz bevor Shamir 1986 Premierminister Israels wurde, schrieb Benny Morris, einer der so genannten „Neuen Historiker“ und Autor mehrerer Bücher, welche auch die Vertreibung der Palästinenser behandeln, in der „Jerusalem Post“, man gehe davon aus, dass Shamir der Hauptorganisator des Mordes an Graf Bernadotte gewesen sei.
Gleich nach dem Mord meldeten sich die Attentäter in einem Brief an die Nachrichtenagentur Agence France Press und erklärten, dass ihrer Meinung nach „alle UN-Beobachter in Palästina Mitglieder einer ausländischen Besatzungsmacht sind, welche kein Recht haben, in unserem Land zu sein“. Zwei der Attentäter, unter ihnen Yalin-Mor, wurden vor Gericht gestellt. In der Verhandlung bezeichnete Yalin-Mor Bernadotte – man erinnere sich: Bernadotte hatte 5’000 Juden das Leben gerettet – als Feind des jüdischen Volkes, der sowohl die Übernahme des Königreiches Transjordanien durch die Zionisten als auch die Besetzung ganz Palästinas durch die Zionisten verhindern wolle. Yalin-Mor wurde 1949 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber schnell wieder frei, weil er bei den Knesset-Wahlen im Januar 1949 einen Parlamentssitz gewonnen hatte. Für die Attentäter entspannte sich die Lage derart, dass Yitzhak Shamir aus dem Untergrund wieder auftauchen konnte.
„Die Eiserne Mauer“
Die Ermordung Graf Bernadottes war keine bedauerliche Einzeltat, vielmehr zeigt sie ein Kontinuum der zionistischen Besetzung Palästinas.
Ein Blick in die Geschichte und eine Analyse der jüngeren Vergangenheit beweisen diese traurige Tatsache. Im Jahre 1923 veröffentlichte Wladimir Jabotinsky, ein in Odessa geborener und nach Palästina eingewanderter Jude, einen Aufsatz unter dem Titel „Die Eiserne Mauer“. Seine These: da sich die palästinensischen Araber verständlicherweise gegen die jüdische Landnahme wehren würden, müssten die Zionisten so stark sein, dass jeder einheimische Widerstand an ihnen wie an einer „eisernen Mauer“ abpralle. Das eingangs erwähnte Massaker von Deir Yassin, verübt durch die Irgun-Bande und der Anschlag auf das King-David-Hotel in Jerusalem sind Indizien für diese zionistische Macht, an der jeder Widerstand abprallen solle wie an einer eisernen Mauer. Die Ermordung Graf Bernadottes reiht sich nahtlos in diese Kette der Gewalt ein.
Um eine solche Entwicklung in Zukunft zu verhindern, warnte die jüdische Philosophin Hannah Arendt nach dem zweiten Weltkrieg, der neue Staat Israel dürfe sich von seiner arabischen Umgebung nicht abschotten, andernfalls er eine „Wagenburgmentalität“ entwickeln werde. Und ein anderer früher Zionist, Asher Ginsberg (1856–1927) schrieb unter seinem angenommenen jüdischen Namen Ahad Ha’am, die jüdischen Einwanderer müssten den einheimischen Arabern mit Respekt begegnen. Aber, schrieb er: „Was tun unsere Brüder in Palästina? Knechte waren sie in den Ländern der Diaspora“, in Palästina aber behandelten sie „die Araber mit Feindschaft und Grausamkeit, berauben sie ihrer Rechte, beleidigen sie grundlos und prahlen obendrein mit ihren Taten …“
Gewalt gegen Gewalt
So war der Mord an Folke Bernadotte vom 17.September 1948 nicht das Ende der Gewalt in Palästina; die andauernde israelische Besatzung stiess bald auch auf palästinensischen gewaltsamen Widerstand. Zunächst einmal: das von Bernadotte beklagte erbärmliche Los der palästinensischen Flüchtlinge und Vertriebenen führte 1949 zur Gründung der UNWRA, der „United Nations Work and Reliief Agency“, des bisher einzigen Flüchtlingshilfswerkes, das auf eine spezielle Gruppe zielt – auf die von Israel vertriebenen Palästinenser. Bis heute leistet es wertvolle Hilfe für die 1948 und dann im Sechstagekrieg von 1967 vertrieben Palästinenser. Israel war die UNWRA stets ein Dorn im Auge, erinnerte es doch täglich an die Ereignisse von 1948/49. Jetzt hat US-Präsident Trump, sehr zur Erleichterung der israelischen Regierung, die US-Mittel für die UNWRA gestrichen. So wird die Not der Flüchtlinge und ihrer Nachkommen noch grösser.
Geblieben ist auch die Gewalt. Immer wieder brachen, zum Beispiel, palästinensische Freischärler nach Israel ein und töteten manche der Zugewanderten. Als israelische Vergeltungsmassnahme ist das Massaker von Qibya in Erinnerung. Nach einem Überfall aus dem Dorf auf israelische Bürger sammelte Ariel Sharon eine Streitmacht, überfiel das Dorf Mitte Oktober 1953, tötete 69 Palästinenser, zerstörte eine Schule, eine Moschee und 45 Häuser. Schon früh hatte Jassir Arafats Fatah-Bewegung zum gewaltsamen Kampf gegen Israel aufgerufen – bis der Palästinensische Nationalkongress 1988 in Algier die Existenz Israels anerkannte.
Die Gewalt ging bald auch von der internationalen Ebene aus. 1956 besetzte eine Allianz aus England, Frankreich und Israel die Suezkanalzone, nachdem Gamal Abdel Nasser, der ägyptische Präsident, den bis dahin in vornehmlich britischem Besitz befindlichen Kanal verstaatlicht hatte. 1967 eroberte Israel in einem von ihm so genannten Präventivschlag die Halbinsel Sinai, den Rest des Westjordanlandes, Ost-Jerusalem und die syrischen Golanhöhen. 1972 überfielen bewaffnete Palästinenser die israelische Olympiamannschaft in München, elf israelische Geiseln fanden den Tod, fünf Geiselnehmer wurden getötet, ein Polizist starb. 1973 griffen Ägypten und Syrien Israel an, sie verfolgten das Ziel, die 1967 verlorenen Gebiete wiederzugewinnen. 1982 liess Verteidigungsminister Ariel Sharon seine Truppen in den Libanon einrücken und Jassir Arafat aus Beirut nach Tunis vertreiben.
Auge um Auge
1994 erschoss Baruch Goldstein in Hebron 29 betende Muslime, 150 wurden verletzt. 1995 ermordete der aus einer jüdisch-orthodoxen Familie stammende Yigal Amir den israelischen Premier Yitzhak Rabin. Sein Motiv: Amir sah die Friedensverträge von Oslo als nationalen Verrat an. 1996 liess Israels Premier Shimon Peres im Kampf gegen die Hisbollah abermals Truppen in den Libanon einrücken, bei einem Angriff auf einen UN-Posten bei der Stadt Kanaa kamen 106 Menschen ums Leben, darunter viele Kinder. 2008/2009, 2012 und 2014 führte Israel im Gazastreifen Krieg gegen die „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas). Und von 1997 bis 2003 sowie von 2000 bis etwa zum Tod von Jassir Arafat 2004 lehnten sich die Palästinenser in der ersten und zweiten Intifada gegen die israelische Besatzung auf.
Zahlreiche palästinensische Attentate auf israelische Zivilisten veranlasste Israel Anfang der Zweitausender Jahre, zum Bau eines Trennzaunes und einer bis zu acht Meter hohen Trennmauer. 2002 verübte die Hamas in der israelischen Stadt Netanja ein Attentat, bei dem dreissig Israelis getötet und 140 verletzt wurden. Premier Sharon liess daraufhin israelische Truppen in einer gross angelegten „Sicherheitsoperation“ ins Westjordanland einmarschieren, wobei auch Jassir Arafat in der Mukataa, seinem Amtssitz in Ramallah, belagert wurde. Dort hielten sich auch jene Attentäter auf, die zuvor den israelischen Tourismusminister Rehavom Zeevi ermordet hatten.
Die Spur der Gewalt hat alle Friedensbemühungen – etwa die Verträge von Oslo 1993 und 1995 zunichtegemacht. Vorläufiger Schlusspunkt dieser durch Jahrzehnte führenden – hier sicher nicht vollständig verfolgten – Trasse der Gewalt ist ein nur scheinbar gewaltloser Akt – die Verabschiedung des israelischen Staatsbürgerschaftsgesetzes im Sommer 2018, das den Palästinensern nun auch ganz offiziell den Status einer Minderheit mit minderen Rechten zuschreibt.
Wie hatten doch die Mitglieder der Stern-Bande bei der Ankunft Graf Folke Bernadottes auf ihre Fahnen geschrieben? „Solange es einen einzigen Feind unserer Sache gibt, haben wir eine Kugel für ihn in unserem Magazin.“
Das Magazin, aus dem jetzt geschossen wurde, ist zwar das gewählte israelische Parlament. Aber für die Palästinenser im Land, immerhin ein Fünftel der Einwohner Israels, bedeutet diese politische Salve den Stoss in die politische Verbannung innerhalb ihrer angestammten Heimat, in der sie, wie Folke Bernadotte 1948 an die UN geschrieben hatte, „für Jahrhunderte ... verwurzelt sind“.
Quellen:
David Hirst: The Gun and the Olive Branch. The Origins of Violence in the Middle East. London 1977
Lenni Brenner: The Iron Wall. Zionist Revisionism from Jabotoinsky to Shamir. London 1984.
lan Pappe: The Ethnic Cleansing of Palestine. Oxford 2006.
Rolf Verleger: Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus. Frankfurt am Main 2017.
Siehe auch Ilan Pappe: The Biggest Prison on Earth: A History of the Occupied Territories. Oneworld, 2017.