Nach einem Jahrzehnt im Ruhestand wurde dem Lausanner Jacques Dubochet 2017 zusammen mit zwei Fachkollegen der Nobelpreis für Chemie für die bahnbrechende Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie verliehen. Mehr Ehre geht für Wissenschaftler nicht. Doch was macht die daraus erwachsende Popularität mit einem 75-Jährigen, der mit seiner Familie, in Erwartung eines Enkelkinds und im Freundeskreis verankert, eher zurückgezogen lebt?
Diese Frage hat den Lausanner Fimschaffenden Stéphane Goël interessiert. Besonders jetzt, im Zeitalter des digitalen Social-Media-Hypes und eines Journalismus, der oft weniger von erhellenden Recherchen und seriöser Einordnung zehrt als von pseudoinformativer und schnelllebiger Beliebigkeit.
Des Professors neue Fans
Jacques Dubochet hat erlebt, was das heisst. Nach der Berichterstattung über seinen noblen Auftritt in Stockholm wurde er auf der Strasse erkannt, von wildfremden Menschen um ein Selfie gebeten, schrieb Autogramme, beantwortete Fragen. Das hat den weltgewandten Senior zwar nicht aus der Bahn geworfen, aber zum intensiven Nachdenken bewegt.
Fazit dieses Denkprozesses? Der Professor entschloss sich, die unverhoffte Bekanntheit zugunsten einer guten Sache zu nutzen. Gut, dass sich die Wege des etwas schrulligen, von Eitelkeit nicht freien, aber erfrischend unkomplizierten, dynamischen Dubochet und des sensiblen welschschweizerischen Filmers Stéphane Goël kreuzten.
Letzterer wurde so zu seiner Chronik der laufenden Ereignisse inspiriert und hatte dafür einen perfekten Protagonisten. Weil sich Jacques Dubochet seit langem für hochaktuelle Themen wie Klimaschutz, Migration oder den sozialen Zugang zur Spitzenmedizin stark macht und dazu etwas zu sagen hat.
Stéphane Goël (*1965) wiederum hat sich als Filmer über die Schweiz hinaus einen Namen gemacht. 1987 bis 1993 lebte er in New York, war dort am „Global Village Experimental Center“ tätig, kam mit Grössen wie dem südkoreanischen Komponisten und bildenden Künstler Nam June Paik zusammen. Wobei spannende und poetische Experimental-Videos entstanden. Seit der Rückkehr nach Europa widmet sich Goël dem Dokumentarfilm fürs Kino und Fernsehen.
„Citoyen Nobel“ ist ein formal solides, unaufgeregtes, mit (Selbst-)Ironie gewürztes Porträt eines prominenten Zeitgenossen. Weil Jacques Dubochet ein Mann ist, der intellektuelle Würde ausstrahlt und zudem im Lokalen verwurzelt ist. Oft hemdsärmelig, proletarisch anmutend, immer engagiert. Zudem ist er mit Passion Sozialdemokrat und gilt als couragierter Genosse im Gemeinderat des waadtländischen Städtchens Morges. Der Nobelpreis hat dazu geführt, dass sein Einsatz für eine bessere globale Zukunft verstärkter wahrgenommen wird.
Greta Thunberg trifft den „Citoyen Nobel“
Was dabei herauskommt, zeigt Stéphane Goël im Film nuanciert. Ein Highlight sind die Passagen, wo Professor Dubochet im August 2019 als Referent und Gruppendynamiker im Kreis vorwiegend junger Umwelt-AktivistInnen auftritt. Er sitzt mit der sechzehnjährigen Schwedin Greta Thunberg auf dem Podium anlässlich des Klimagipfels „Smile for Future“ in Lausanne, wo rund 450 Teilnehmende aus 37 europäischen Ländern die Problematik des globalen Klimawandels auf offene Weise und mit Verve verhandeln.
Greta Thunberg, die juvenile Ikone der Klimabewegten, lauscht den klugen, emotional vorgetragenen Ausführungen Dubochets zwar mit einem Anflug von Skepsis im Blick, aber konzentriert. Und schon ist man berührt, weil man ahnt, dass sich hier ein konstruktiver Dialog zu komplexen Themen über alle Generationenschwellen hinweg anbahnt.
Gelehriger Gelehrter mit Unterhaltungswert
Professor Jacques Dubochet, der Film macht das deutlich, ist jedenfalls ein umsichtiger Mentor. Er versprüht dosiert eingesetzte Intellektualität, wirkt wie von einem inneren Feuer angetrieben. Dass er die Herzen anderer erreicht, erstaunt nicht. Auch, weil er sich beim Publikum nicht anbiedert, sondern es respektvoll einlädt, mit ihm auf Augenhöhe zu kommunizieren. Und, besonders beeindruckend: Er bringt seine Lebenserfahrung ohne Überheblichkeit ins Spiel und legt seine Zweifel offen, geht auf sein Gegenüber ein.
„Citoyen Nobel“ ist die auf höherem Niveau unterhaltsame Begegnung mit einem gelehrigen Gelehrten. 1987 bis 2007 forschte er an der Universität Lausanne, seit der Pensionierung ist er dort Ehrenprofessor. Als Nobelpreisträger spielt er quasi in der Champions League seiner Zunft und ist weiterhin eine gefragte Instanz: Stéphane Goël begleitet Dubochet bei einem Besuch der englischen Universität Oxford, wo ihn ein Kollege durch die Ahnengalerie mit den zahlreichen Nobelreisträgern führt. Ein paar launige Sprüche sind zu vernehmen und man ist amüsiert, wie die Herren dem nostalgiebehafteten Rundgang die Schwere des akademischen Elfenbeinturms nehmen. So entsteht eine Tonalität, die dem „Citoyen Nobel“-Film eine angenehme Unverkrampftheit verleiht.
Old School trifft auf Fridays-For-Future-Bewegung
Man schaut Monsieur Dubochet gerne zu, der etwas Beschwingtes an sich hat. Sich aber nicht scheut, im Diskurs mit forschen JungaktivistInnen auch mal eine „Old School“-Karte auszuspielen. Zum Beispiel, wenn er dafür plädiert, für erfolgversprechende Aktionen alle Energiekräfte zu bündeln. Und weil Dubochet das Anekdotische liebt, erwähnt er eine Episode aus dem Zweiten Weltkrieg. Er verweist auf den Luftangriff der kaiserlich-japanischen Luftwaffe auf den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor 1941; ein Schockerlebnis, das die Vereinigten Staaten enger zusammenrücken liess. Unschwer zu erkennen, dass die jugendlichen Zuhörenden von dieser Mini-Geschichts-Lektion überfordert wirken, aber dennoch fasziniert sind von der beherzten Ansprache Dubochets.
Dubochet privat
Den Professor als Privatmann zeigt uns Stéphane Goël immerhin in Ansätzen. Im ländlichen Feriendomizil oder zu Hause, wo er mit seiner Frau Christine lebt, mit der er zwei Kinder hat. Archiv-Aufnahmen aus den 1970er-Jahren zeigen das Paar (es hatte sich erst kurz vorher kennengelernt) bei einer Demonstration gegen den Bau des Atomkraftwerks im aargauischen Kaiseraugst.
Einmal kommt auch Madame Dubochet ausführlicher zu Wort. Sie berichtet von ihrer Passion, der Malerei. Und ihrer Freude darüber, eine eigene Ausstellung bestücken zu können. Was hat der Professor dazu beigetragen? Er war für die korrekte Rahmung der Gemälde zuständig. Und so stellt man sich die Frage, was es für eine Familienfrau bedeutet haben muss, mit einer Wissenschafts-Koryphäe verheiratet zu sein, die zumeist in Labors, Hörsälen, an Kongressen zugange war, mit einer Materie befasst, die man mit dem Umfeld weniger teilen konnte.
Ein paar weitere Blicke hinter die Kulissen der Dubochet-Karriere hätte man durchaus goutiert im Film. Aber auch so wird klar, dass man es mit einer schillernden Persönlichkeit mit Ecken und Kanten zu tun hat. Die aber, weil von einem hintergründigen Humor umflort, nie unsympathisch wirkt. Einmal wird Dubochet durch ein eher bildungsfernes Grüppchen von Autogramm- und Selfie-Jägern belagert und befragt, was ihn etwas nervt. Doch er bewahrt die Contenance und verrät den Fans, dass er nicht nur ein schlechter Schüler gewesen sei, sondern sogar ein Legastheniker. Das kommt gut an!
Stéphane Goël ist es gelungen, mit Jacques Dubochet ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und ihm erstaunlich nahe zu kommen. Da haben sich zwei starke Charaktere mit Ansprüchen gefunden: Der sensible Filmgestalter und ein auf Ergebnisse fokussierter Protagonist. Der sich in seiner neuen Rolle als streitbarer Anwalt einer guten Sache wohlfühlt. Dabei benutzt er seinen Nobelpreis-Status nicht als Deckmäntelchen für eine „Guru“-Kampagne auf dem Feld der Klimabewegung, sondern wirbt mit Enthusiasmus um Unterstützung für das grosse Ganze. Ohne etwas zu beschönigen, wissend, dass die Ziele nicht von heute auf morgen erreicht werden können. Und wenn überhaupt, dann wohl erst nach seinem Abgang von der Lebensbühne.
Mehrwert in Zeiten der Pandemie
„Citoyen Nobel“ ist ein Dokumentarfilm, in dem sich weder Autor noch Hauptakteur in den Vordergrund drängen, sondern eine Allianz bilden, gar eine Art Komplizenschaft. Diese Anmutung – es mag paradox erscheinen – verleiht dem Werk in der aktuellen Corona-Pandemie-Phase sogar einen Mehrwert.
Die Auswertung dieses Films wurde aus gegebenem Anlass unterbrochen, doch jetzt kommt „Citoyen Nobel“ ins Kino. Wer sich darauf einlässt wird erkennen: Es wird künftig mehr ältere, erfahrene Zeitgenossen wie Jacques Dubochet brauchen, die über ihre angestammten Fachbereiche hinaus mithelfen, eine bessere Weltordnung zu schaffen – nicht nur als Klimaaktivisten. Selbstredend im Schulterschluss mit Gleichgesinnten jeden Alters. Mit Zivilcourage und etwas Demut, so wie der Nobelpreisträger, Citoyen und Genosse Dubochet.
Nach der Nobelpreis-Verleihung 2017 wurde der Professor von seiner Universität Lausanne angefragt, womit man ihm eine Freude machen könnte. Der Jubilar wünschte sich einen ständig reservierten Parkplatz auf dem Gelände. Nun markiert eine kleine Ehrentafel den kleinen Stellplatz. Passt doch zu einer Berühmtheit, die jahrelang zwischen Wohnsitz und Arbeitsplatz pendelte – mit dem Velo!
„Citoyen Nobel“ startet am 6. August in den Kinos