Ob wir Menschen über so etwas wie einen freien Willen verfügen, darüber kann man trefflich streiten. Wer das verneint, muss sich z.B. fragen, ob ein Verbrecher je für seine Tat verantwortlich gemacht und verurteilt werden kann. Wer für die Existenz des freien Willens eintritt, zieht ganz andere Schlüsse. Selbststeuerung ist lernbar, einen eigenen freien Willen zu entwickeln somit auch.
Die Wiederentdeckung des freien Willens
Joachim Bauer ist ein Autor, der schon zahlreiche wissenschaftliche Sachbücher zum besseren Verständnis des Menschen geschrieben hat. Als Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut forscht er seit vielen Jahren an der Universität Freiburg (D). Bauer gibt in seinem neuesten Buch „Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens“ klare Hinweise: „Die Verneinung der menschlichen Entscheidungsfreiheit ist nicht nur in der Sache irrig und unhaltbar.“ Diesen Satz sollte man zweimal lesen.
Einen freien Willen zu entwickeln, ist u.a. das Resultat intakter, menschlicher Selbststeuerung. Diese Tatsache „lässt den Menschen zu sich selbst finden und sein wirkliches Leben zu leben“. Die Voraussetzungen, dies zu „erlernen“ und entwickeln müssen jedoch gegeben und intakt sein.
Im Trainingscamp der Selbstkontrolle
Diese Fähigkeit ist uns nicht angeboren. Genetisch mitgegeben ist nur die Möglichkeit, sie zu erwerben. Die parallele Entwicklung beider neurobiologischen Fundamentalsysteme, (da das Trieb- und Basissystem, dort später gesteuert durch ein Kontrollsystem, Basis der Selbststeuerung) lässt sich aus psychologischer und neurobiologischer Perspektive betrachten. Sie ist bei Kindern und Jugendlichen anfänglich nicht gleichermassen ausgereift.
Die sozialen Erfahrungen, denen das kindliche Gehirn ausgesetzt ist, formen dessen Strukturen und Funktionen. Diese beeinflussen ihrerseits das kindliche Verhalten – samt seiner Selbstkontrollpotenziale. Im Stirnhirn (Präfrontaler Cortex) bilden sich die neuronalen Funktionen heraus, die wir für die Ausübung von Selbstkontrolle brauchen. „Der Prozess der Entwicklung und Formung des Präfrontalen Cortex durch soziale Erfahrungen hat einen Namen: Erziehung.“ Diese macht bekanntlich nicht nur Freude, sondern kann auch ganz schön anstrengend sein.
Erziehung ist nicht „Laissez-faire“
Das kindliche Gehirn formt sich entlang den sozialen Erfahrungen des Kindes und der Art, wie das Kind erzogen wird. Die Universität Dunedin (Neuseeland) erlangte Berühmtheit durch eine spektakuläre, über mehrere Jahrzehnte angelegte Langzeitstudie. Sämtliche 1000 Kinder eines Jahrgangs waren während der ersten elf Lebensjahre beobachtet und im Alter von 32 Jahren nochmals untersucht worden. Eines der Ziele des Projekts war, zu beobachten, wie sich die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle entwickelt und auf das spätere Leben dieser Kinder ausgewirkt hatte.
Bewertet wurde die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu fokussieren, eine Aufgabe planvoll anzugehen, bei einer Sache zu bleiben und durchzuhalten, sich nicht ablenken zu lassen, seine innere motorische Unruhe zu bändigen und aggressive Impulse zu mässigen. Selbstverständlich wurde nicht vergessen, den sozioökonomischen Status jedes Kindes zu erfassen.
Eine Erkenntnis dieser Studie: Mädchen besitzen eine signifikant bessere Fähigkeit zur Selbstkontrolle als Buben (!). Doch das eigentliche Ergebnis der Beobachtung der gestandenen erwachsenen Testpersonen: „Wer als Kind nur eine geringe Fähigkeit zur Selbstkontrolle aufwies, brach als Jugendlicher zwischen 13 und 18 Jahren häufiger die Schule ab, war häufiger schwanger – beziehungsweise hatte häufigerer eine Schwangerschaft verursacht – und gehörte mit grösster Wahrscheinlichkeit zu den Rauchern. Diese Menschen zeigten einen schlechteren körperlichen Gesundheitsstatus, waren sozial schlechter gestellt, häufiger alleinerziehend, verdienten weniger und hatten mehr finanzielle Probleme. Sie waren zudem häufigerer drogenabhängig und straffällig geworden.“
Bauer erinnert daran, dass der Präfrontale Cortex bei der Geburt eines Kindes ein weitgehend unbeschriebenes Blatt ist und deshalb in den ersten 18 -24 Monaten eine Selbstkontrolle noch nicht möglich ist. „Aus diesem Grund haben in dieser Zeit an den Säugling oder an ein Kleinkind gerichtet Ansagen, Ermahnungen oder gar Strafen nicht den geringsten Sinn. Strafen – Tadel, Entzug der Zuwendung oder andere Massnahmen – können Kleinkinder in dieser frühen Phase allenfalls traumatisieren.“
Die Konklusion: Ab dem dritten Lebensjahr müssen Kinder im Rahmen der Erziehung liebevoll, erklärend, konsequent zur Selbstkontrolle angehalten werden, also lernen, zu warten, zu teilen und ihre Impulse zu kontrollieren. Andernfalls ergeben sich weitreichende negative Folgen für das spätere Leben. Diese Erziehung ist ein dialektischer Prozess: Kinder und Jugendliche sollen lernen, sich selbst zu sein und sich selbst zu steuern. Gerade dafür aber brauchen sie auch pädagogischen Widerstand. „Laissez-faire schadet unseren Kindern und Jugendlichen.“
Die Unterwanderung des freien Willens
Bekanntlich findet nur ein kleiner Teil dessen, was unsere Wahrnehmung erreicht, auch Eingang in unser Bewusstsein. Allerdings hindert dies die zahlreichen unbewusst registrierten Wahrnehmungen nicht daran, in uns eine Wirkung zu erzeugen. Sie können unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen, was bedeutet, wir können unterwandert werden.
Worte, Bilder oder Szenen führen beim Menschen zu einer inneren Voraktivierung, die seine nachfolgenden Verhaltensweisen beeinflussen. Anders gesagt: Was wir in den Medien lesen, am Fernsehen sehen, am Radio hören bleibt nicht ohne Einfluss auf unser Denken oder Handeln. Am besten lässt sich das vielleicht am unablässigen Niederprasseln von Hiobsbotschaften und Katastrophenmeldungen nachvollziehen: diese üben keine positive Wirkung auf uns aus. Weniger wäre mehr.
Selbststeuerung, Selbstgefühl, Selbstkräfte
Zum mächtigsten Potenzial der gelungenen Selbststeuerung zählt ihr Einfluss auf die körperliche Gesundheit des Menschen. Es sind dabei zwei Mechanismen im Spiel. Erstens: ein gesunder Lebensstil vermindert Krankheitsrisiken. Zweitens: beim eher verborgenen, inneren Prinzip geht es um ein gutes Selbstgefühl, die Selbstkräfte, ein Vertrauen in die eigene Kraft oder den inneren Mut.
Bauer meint, dieser zweite Wirkungsfaktor werde heute oft sträflich vernachlässigt. „Was der Arzt dem Patienten sagt, kann eine Wirkung selbst dann entfalten, wenn kein Medikament gegeben wurde“. Ein Plädoyer für einfühlsame Kommunikation zwischen Arzt und Patient.
Gene werden auch gesteuert
Gene sind nicht „egoistisch“, sondern Kooperatoren und Kommunikatoren. Sie stehen in einem ständigen Dialog mit Signalen, die ihnen aus der Umgebung zufliessen. „So haben, als Beispiel, längere Zeit anhaltende Überforderungen, denen wir auch bei Aufbietung aller Kräfte nur mit Mühe oder gar nicht gewachsen sind, Genaktivierungen zur Folge, die das Immunsystem schwächen und dem Gehirn sowie der allgemeinen körperlichen Gesundheit abträglich sind.“
Es hat sich gezeigt, dass Menschen, die in der Frühphase ihres Lebens einen starken Mangel an Fürsorge erfuhren, bei Stress im späteren Leben einer viel stärkeren Belastung ausgesetzt sind.
„Ein Teil der biologischen Selbstorganisation spielt sich auf einer Bühne ab, die wir Bewusstsein nennen“, resümiert Bauer. Das menschliche Bewusstsein verfügt über die Fähigkeit, unterschiedliche Verhaltensoptionen zu entwerfen, ja sogar ihre jeweiligen Folgen zu antizipieren und sie gegeneinander abzuwägen. „Die dadurch entstehenden Freiheitsgrade des Verhaltens sind das, was als freier Wille bezeichnet wird.“
Warnung vor Verlust der Selbststeuerungs-Fähigkeit
Bauer ist also davon überzeugt, dass ein nur auf schnellen Genuss ausgerichteter, hedonistischer Lebensstil zur Aktivierung von Genen führt, die Herzerkrankungen, Krebs und Demenzleiden begünstigen. Deshalb sind für ihn verlässliche Bezugspersonen und ein lernunterstützendes, anregendes Umfeld für Kleinkinder besonders wichtig. Beides trägt dazu bei, dass im Kind jene Gene, die sich günstig auf dessen Hirnentwicklung auswirken, aktiviert werden.
Umgekehrt befürchtet der Neurobiologe und Arzt, dass Teile der Gesellschaft drauf und dran sind, die Fähigkeit zur Selbststeuerung zu verlernen. Eltern, die ihre Sprösslinge nur vor dem Fernseher ruhig stellen, sind ähnlich schlimm wie Kindertagesstätten ohne ausgewiesene Betreuungskompetenz.
Wie hiess es doch einst? „Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg!“
Joachim Bauer: „Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens (2015)