Ein junger Afghane, der als unbegleiteter Minderjähriger in die Schweiz kam, sah offenbar keinen Ausweg mehr. Der Tod beunruhigt seine Landsleute und wirft Fragen auf. Die Trauerfeier für den 20-jährigen Arash fand am Samstag in Lugano statt. Er war als Minderjähriger im Jahr 2019 nach einer gefahrvollen Flucht aus Afghanistan in die Schweiz gekommen und bat um Asyl. Rund 150 Personen, vor allem Mitglieder der afghanischen Gemeinschaft, aber auch zahlreiche Schweizer, fanden sich zu einer würdigen, mit Gebeten umrahmten Trauerfeier ein.
Ein junger Freund des Verstorbenen, der vor acht Jahren in der Schweiz angekommen ist, sprach über dessen Leben voller Schwierigkeiten.
Afghanistan befinde sich seit über 50 Jahren im Krieg. Auch auf der Flucht habe Arash Schreckliches erlebt, doch habe er auf ein Leben in Frieden gehofft, das er selber hätte gestalten könne. Er sei in eine Depression gefallen, ihm seien Psychopharmaka verabreicht worden, statt dass er angehört und liebevoll unterstützt worden wäre. Sein Lebenswille sei plötzlich erloschen; er starb am 11. Juli. Das sei umso trauriger, da es der dritte Selbsmord eines jungen Afghanen im Tessin innerhalb eines Jahres sei. Er möchte niemandem persönlich die Schuld zuschieben. «Wir alle sind schuld, auch wir Afghanenen, aber es sollte der letzte Selbstmord sein», hofft Arashs Freund.
Vorerst schwiegen der Kanton und das Rote Kreuz
Eine Rechtsanwältin, die auch Asylsuchende unterstützt, hat Arashs Tod in einer Online-Zeitung bekannt gemacht. Zwei Tage nach dem Tod hatte weder der Kanton noch die Tessiner Sektion des Roten Kreuzes über das tragische Ereignis berichtet. Auf Anfrage von Tessiner Medien, sagte der Leiter des Tessiner Migrationsamtes, aus Respekt vor dem Verstorbenen, den Bekannten und den Familienangehörigen würden keine Details bekannt gegeben; die Ermittlungen der Behörden seien im Gang. Die Direktorin des Tessiner Roten Kreuzes betonte u. a.: «Alle Personen, die in unsere Strukturen kommen, werden von qualifizertem Personal betreut, in sozialer, gesundheitlicher und psychologischer Hinsicht.»
Kritik wegen ungenügender Betreuung
Die Situation in den Asylunterkünften wird von verschiedener Seite kritisiert. Die Anwältin Immacolata Iglio-Rezzonico schrieb u. a., dass in Fällen von Depressionen schnell Psychopharmaka verabreicht würden, aber es fehle an Bemühungen, um eine Beziehung mit menschlicher Wärme herzustellen. Junge Menschen seien in der Asylunterkunft in Cadro, einem entfernten Aussenquartier von Lugano, isoliert untergebracht. Kaum jemand hat Zutritt, um sie zu besuchen. Wie alle solche Asylheime, auch jene von anderen Institutionen, würde es von Sicherheitskräften bewacht und die Bewohner seien in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, auch weil sie sich eine Busfahrt nicht leisten könnten. Die Anwältin betonte, sie wolle keine einzelne Person beschuldigen, verantwortlich sei das System der Asylorganisation.
Der frühere Tessiner Staatsanwalt Paolo Bernasconi, der sich für die Menschenrechte einsetzt, doppelte in einem Interview nach. Die Asylsuchenden würden in den Unterkünften praktisch weggesperrt, Freunde des Verstorbenen befürchteten weitere Selbstmorde. Während vieler Monate verbrächten die jungen Asylsuchenden den ganzen Tag in engen Räumlichkeiten, weil sie nicht arbeiten dürften und kein Geld hätten, um sich in einem Restaurant mit Freunden zu treffen. Ein Raum für ihre Treffen hätten die Behörden nicht zur Verfügung gestellt. Nach dem dritten Selbstmord von jungen Afghanen – so Rechtsanwalt Bernasconi – sollte von Amtes wegen eine Untersuchung über die Mängel im Asylwesen eingeleitet werden.
Schmerz bekundet, keine Änderung
Die Direktorin des Tessiner Roten Kreuzes sagte, dieser Tod schmerze sie sehr, doch erwähnte sie mit keinem Wort, dass irgend etwas in der Flüchtlingsbetreuung geändert werden sollte. Es gibt jedoch Personen, die in solchen Zentren gearbeitet haben, die eingestehen, dass zuwenig Personal und zuwenig Geld vorhanden sei, um die Asysuchenden besser begleiten zu können. Es fehle der politische Wille – nicht nur im Tessin. Das wichtigste Bemühen der Behörden scheint zu sein, die Schweiz als Asylland nicht attraktiv zu machen.
Vergibt die Schweiz eine Chance?
In der Schweiz fehlen Arbeitskräfte, es gehen mehr Menschen in Pension als nachrücken. Die vorwiegend jungen Leute, die vor Kriegen und gewalttätigen Diktaturen flüchten, freuen sich die Schweiz erreicht zu haben, einen Rechtsstaat ohne willkürliche Verhaftungen. Wie sie in den Empfangszentren behandelt werden, ist eine erste, herbe Enttäuschung. Würde man diesen Menschen freundlich begegnen, sie schulen und in der Ausbildung unterstützen, gelänge es den jungen Leuten, eine Berufslehre abzuschliessen. Dabei würden Asylsuchende gewinnen: Sie werden selbständig und können ihr Leben gestalten. Aber auch der Staat würde gewinnen: Er müsste weniger Sozialhilfe zahlen.