In der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 bezeichnet der Bundesrat die Neutralität als Instrument der schweizerischen internationalen Beziehungen. Dabei wird sie immer mehr zu einem Hindernis für eine wirksame Aussen- und Sicherheitspolitik.
«Die Neutralität wird von einigen Partnern (der Schweiz) kaum mehr als Beitrag an die Stabilität auf dem Kontinent verstanden. (…) Neutrale Staaten, die der Polarisierung (auf der Welt) entgegenwirken, werden gefragt bleiben.» Diese zwei Sätze stehen in der Einleitung zur Aussenpolitischen Strategie 2024–2027, die der Bundesrat kürzlich verabschiedet hat. Der erste Satz verdeutlicht eine Realität, die die Landesregierung nicht verneinen kann und der sie sich stellen muss. Sie ist eine Folge davon, wie die Schweiz insbesondere die Wiederausfuhr von in unserem Land hergestelltem Kriegsmaterial durch europäische Staaten in die von Russland angegriffene Ukraine handhabt. Diese Länder sehen das neutralitätsrechtlich begründete Nein der Schweiz als eine Behinderung legitimer Hilfe an die Ukraine. Was das Nein zu Reexporten von hiesigem Kriegsmaterial auch bedeutet: Es stellt die Schweiz als Standort für Rüstungs- und Technologieunternehmen in Frage.
Der zweite Satz zeigt eine Hoffnung, an die sich der Bundesrat klammert, um die Neutralität nicht grundsätzlich hinterfragen zu müssen. Sie fusst auf der zunehmenden Konkurrenz der Grossmächte in der Welt und der Tendenz zu einer neuerlichen Blockbildung. Die Landesregierung glaubt deshalb, dass das aussenpolitische Profil der Schweiz als Förderin von Dialog und gegenseitiger Verständigung, als Gaststaat für diplomatische Konferenzen und internationale Organisationen und als Brückenbauerin für einen wirksamen Multilateralismus relevant bleibt. «Die Neutralität trägt zu diesem Profil bei und eröffnet nach wie vor Chancen», heisst es in der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027.
Der Bundesrat glaubt denn auch, dass die Neutralität für die Schweiz weiterhin von Nutzen ist. Sie schränke zwar den Handlungsspielraum im militärischen Bereich ein, führt er am Beispiel der kriegsversehrten Ukraine aus, erlaube aber gleichwohl eine weitreichende Solidarität. Der Bundesrat hält fest: «Das Instrument der Neutralität lässt dabei Raum für eine kooperative Aussen- und Sicherheitspolitik mit europäischen und weiteren engen Partnern der Schweiz.» Diese wolle er in den kommenden Jahren ausbauen.
Mehr Kooperation mit EU und Nato
Ausbauen will der Bundesrat gemäss der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027 etwa die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der EU und der Nato. Er stellt fest, dass die EU im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihre Verantwortung für Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum verstärkt wahrnimmt. Sie erweitere ihre sicherheitspolitischen Instrumente und sei dabei bereit, Partnerschaften auszubauen. Das wolle die Schweiz nutzen, indem sie die sicherheitspolitischen Konsultationen mit der EU weiter entwickle und ihre Beteiligung an EU-Friedensförderungsmissionen verstärke. Weitere Kooperationsmöglichkeiten würden geprüft, etwa bei der Bewältigung von Katastrophen und Notlagen.
Was die Nato betrifft, hält der Bundesrat fest, dass sie sich auf die Bündnisverteidigung zurückbesonnen habe. Auch gestalte sie Partnerschaften individueller als zuvor. Die Schweiz wolle den politischen Dialog mit der Allianz stärken, die Interoperabilität der Armee verbessern, die vermehrte Teilnahme an Übungen der Nato prüfen und weiterhin Personal in deren Stäbe und Zentren entsenden. Angesichts der Sicherheitslage in Europa, die sich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine dramatisch verschlechtert hat, ist das alles gut und richtig. Nur ist es nicht genug. Bei den angestrebten Kooperationen mit der EU und der Nato handelt es sich nämlich vor allem um weiche Formen der Zusammenarbeit. Weitergehende und härtere wäre nötig – sind aber aus Gründen der Neutralität nicht möglich. Dabei handelt es sich bei EU und Nato um wichtige Mitgaranten des wirtschaftlichen Wohlergehens der Schweiz und deren militärischer Sicherheit.
Den bilateralen Weg weiterentwickeln
Die angedachten Kooperationen mit der EU und der Nato gehören zum geografischen Schwerpunkt Europa der Aussenpolitischen Strategie 2024–2027. Angesichts der geopolitischen Bedeutung Europas für die Schweiz überrascht diese Schwerpunktsetzung nicht. Innerhalb Europas kommt der EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten grosses Gewicht zu. Sie ist die mit Abstand wichtigste politische und wirtschaftliche Organisation auf dem Kontinent. Mit ihr will der Bundesrat den seit zwanzig Jahren erfolgreich begangenen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.
Ausserhalb Europas kommt den weiteren Mitgliedern der G-20, dem Forum für Finanz- und Wirtschaftsfragen der global bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer, aussenpolitisch eine wichtige Stellung zu. Dazu gehören etwa die USA und Kanada. Dabei arbeitet der Bundesrat darauf hin, dass die schweizerischen Wirtschaftsakteure weiterhin einen guten Zugang zu den nordamerikanischen Märkten haben. In der aufstrebenden Region Asien-Pazifik will der Bundesrat insbesondere zu China, das zu einem weltpolitischen und -wirtschaftlichen Schlüsselakteur geworden ist, prioritäre Beziehungen pflegen. Dies obwohl es etwa in Menschenrechtsfragen wachsende Differenzen gibt. Diesen Schwerpunkten zum Trotz hat die schweizerische Aussenpolitik einen universellen Anspruch: Es sollen mit allen Staaten der Welt diplomatische Kontakte gepflegt werden.
In seiner Aussenpolitik setzt der Bundesrat nicht nur geografische, sondern auch thematische Schwerpunkte. Dazu gehören Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt sowie Demokratie und Gouvernanz. Die letzten beiden Themen sind neu. Für die Umsetzung dieser Schwerpunkte setzt der Bundesrat auf seine üblichen Instrumente wie das Aussennetz mit seinen Botschaften und Konsulaten, die Diplomatie, die internationale Zusammenarbeit, die guten Dienste und – wie eingangs beschrieben – die Neutralität.