Die Zürcher Architekten EM2N haben die vormalige Toni-Molkerei, den seinerzeit grössten Milchverarbeitungsbetrieb Europas, zu einem Hochschul- und Wohnkomplex um- und ausgebaut. Als spektakuläre Umnutzung einer Industriebrache findet das Bauwerk international Beachtung. Mit dem Gebäude hat der aufstrebende Stadtteil Zürich West ein weiteres Wahrzeichen erhalten.
Seit September befinden sich im Toni-Areal die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) sowie die Departemente Angewandte Psychologie und Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Dieser neue Campus vereint 5’000 Studierende und Angestellte.
Das der ZHdK angeschlossene Museum für Gestaltung hat seine umfangreichen Sammlungen von Kunstgewerbe, Grafik, Plakaten und Design – insgesamt 500'000 Objekte – im Toni-Areal zusammengeführt. Dieser Fundus dient nicht nur der Bildung und Forschung, sondern auch für Ausstellungen. Zur Eröffnung zeigt das Schaudepot einen Querschnitt von hundert Jahren Schweizer Design.
Weltverbesserung durch gute Form
Eine Schlüsselstellung in diesem historischen Überblick kommt der Werkbundausstellung vom Sommer 1918 in Zürich zu. 1913 gegründet, war der Schweizer Werkbund (SWB) ein Vorreiter der Modernisierung in Architektur und Gestaltung. Er strebte nach Synthesen von alltäglicher Brauchbarkeit, industrieller Fertigung, handwerklichem Ethos und überzeugender Form. Damit wollten die Neuerer durchaus nicht nur Wohnungen, Einrichtungen und Produkte verschönern, sondern es ging ihnen ebenso sehr um einen erzieherischen Auftrag mit weitgesteckten Zielen. In dieser Haltung war der SWB mit diversen Reformbewegungen Europas verbunden, so insbesondere mit dem 1919 gegründeten Weimarer Bauhaus.
Das Leben in funktionalen Bauten und der Umgang mit sachlich geformten Dingen sollten die Menschen zu rationalem Verhalten anregen, zu klarem Denken führen und ihnen einen unbestechlichen Geschmack beibringen. Weltverbesserung durch Gestaltung? Das mag aus heutiger Warte abstrus scheinen, war aber damals exakt so gemeint. Dass die Welt der Besserung bedurfte, war am Ende des Grossen Kriegs schliesslich einleuchtender denn je.
Mit gradliniger und ehrlicher Objektgestaltung die Alltagswelt zum Guten zu verändern, die Menschen dadurch zu beeinflussen und gar ihren Charakter mitzuprägen: diesen hehren Zielen verschrieb sich das volkspädagogische Programm des Werkbunds. Seine Ausstellung von 1918, selbstbewusst in einem grosszügigen Pavillon am Zürcher Bellevue inszeniert, buchstabierte diese Programmatik in Musterhäusern und Schauräumen. Was der Werkbund unter «guter Form» verstand, wurde hier im Blick auf den Alltag der Besucher demonstriert.
Von der «Guten Form» zum «Schweizer Design»
Fotografisch dokumentiert ist davon nur weniges, und das Erhaltene zeigt nichts Revolutionäres. Wer die Bilder ohne einschlägiges Vorwissen betrachtet, hat kaum den Eindruck, etwas speziell Gestaltetes zu sehen – sieht man einmal davon ab, dass die gezeigten Arbeiterhäuser einen überaus hellen und grosszügigen Eindruck machen.
Es ist offensichtlich: Der Werkbund verstand sich damals auf gut schweizerische Art als bodenständig und reformerisch. Der Ansatz der Schau von 1918 lag ganz beim Handwerklichen; den Schritt zum Einbezug industrieller Produktion hatte man – entgegen der eigenen Programmatik – noch nicht gewagt. Claude Lichtenstein schreibt dazu im Katalog: «Der SWB sah nach vorne, aber von der Vergangenheit her, deshalb sah er das wirklich Neue nicht kommen.»
Nach vorn gewandt, aber ohne die Zeichen der Zeit zu verstehen – das war der halbherzige Aufbruch des SWB. Zwar steckte in seinem Ideal der «guten Form» mehr, als er in seinen Anfängen daraus an Neuem zu generieren vermochte. Gut war eine Gestaltung nach den Kriterien des SWB, wenn sie dem Zweck des Objekts diente, eine kostengünstige Herstellung erlaubte und bescheiden auftrat.
Mit dieser eigentümlichen Legierung von Modernität, überkommenen Werten und zurückhaltendem Gestus definierte der Werkbund eine ganz bestimmte Haltung. Sie hat im Verlauf des Jahrhunderts, das im Schaudepot dargestellt ist, eine eindrückliche Reihe hervorragender Leistungen ermöglicht. Die in der Ausstellung versammelten Objekte mit ihren Designerhandschriften und Produktphilosophien machen plausibel, dass man zu Recht von einem «Schweizer Design» sprechen kann.
Gutes Design ist unsichtbar
Wandert man durch die Ausstellung als jemand, der einen grösseren Teil der gezeigten hundert Jahre mitgemacht und viele der ältesten Exponate im alltäglichen Gebrauch erlebt hat, so erfährt man nicht nur, wie Design sich wandelt, sondern fast mehr noch: was Design eigentlich ist.
Die Schau teilt das Jahrhundert von 1900 bis 2000 in Dezennien ein, die jeweils mit einem Ensemble typischer Arbeiten repräsentiert sind. Thematische Gruppen – etwa Kunststoffstühle, Freizeit, Küchen, Geschirr und anderes – ergänzen die zentrale Zeitreihe. Im letzten Raum des Rundgangs trifft man auf zeitgenössische Phänomene wie das Branding, die Rolle des Designs in der heutigen Konsumwelt und eine Serie von Video-Porträts wichtiger Schweizer Designerinnen und Designer.
Selbstverständlich begegnet man auf dem Rundgang den Ikonen und Spitzenvertretern der Schweizer Designgeschichte: der Bahnhofsuhr von Hans Hilfiker; den Möbeln von Charles-Edouard Jeanneret, Willy Guhl, Fritz Haller und Hannes Wettstein; den Revox-Geräten von Manfred Meinzer, dem Swissair-Trolley von Heinrich Bucher; den Leuchten von Andreas Christen.
Viele der ausgestellten Objekte sind alte Bekannte, und bei manchen Begegnungen ist man überrascht: Ach, du bist auch da? Du bist also auch Design? Der Sparschäler, den ich mindestens jeden dritten Tag zur Hand nehme, wurde 1936 von Alfred Neweczerzal für die Zena AG in Affoltern am Albis gestaltet, und er sieht acht Jahrzehnte später noch genau gleich aus. Meine Schreibtischlampe, so erfahre ich erst jetzt, ist ein Entwurf von 1954 von Rosmarie und Rico Baltensweiler. Die generische Form des Bügeleisens (wenn es kein modisches Teil in Turnschuh-Ästhetik ist), der gute alte Pfadfinder-Kochkessel, die Einrichtung der ab 1943 verkehrenden Speisewagen der SBB, das Bülacher Einmachglas mit dem Spannbügel, der unverwüstliche Landi-Stuhl aus Aluminium: sie sind so perfekt gestaltet, dass die Form direkt aus dem Verwendungszweck und der Materialität des Gegenstands hervorgeht. Wer ihn benützt, denkt nicht an Design.
Selbst bei Gegenständen, die durchaus als besondere Dinge wahrgenommen werden wollen, kann das Design sich zurückhalten und dem schönen Material, der soliden Ausführung, der zweckmässigen Form den Vortritt lassen. Erst mit der Musealisierung und der damit verbundenen analytischen Annäherung tritt die gestalterische Leistung, die das Objekt geformt hat, in Erscheinung.
Perfektes Design dieser Art ist quasi unsichtbar. Objekte des Alltags, die nicht in erster Linie auffallen sollen, stellen wahrscheinlich die schwierigsten Designaufgaben. Dass gerade hier eine Stärke des Schweizer Designs liegt, macht der Überblick im Schaudepot deutlich. Herausragende Gestaltung resultiert aus gedanklicher Durchdringung von Nutzungszweck, Symbolik, Materialisierung, Formung und Herstellungsprozess. Liegt die gefundene Lösung gewissermassen auf der Hand, und hat die Form zudem einen unverwechselbaren Charakter, dann haben Lust und Mühe des Gestaltens zum Ziel geführt: Das Design verbirgt sich hinter dem scheinbar Selbstverständlichen.
Design im Zeitalter der Globalisierung
Gerade solch «verborgenes» Design prägt mehr als nur die Dinge. Es formt zugleich auch unsere Erfahrung, unseren Geschmack, unseren Alltag und die Welten, in denen wir uns bewegen.
Heutzutage aber ist die Erfahrungswelt vieler Menschen kaum mehr primär «schweizerisch». Man kauft Produkte aus aller Welt, lebt in multikulturellem Ambiente, fliegt Zehntausende von Kilometern für Badeferien und Erlebnisreisen, pflegt persönliche Kontakte weit über die Landesgrenzen hinaus und ist es gewohnt, in Real Time an Geschehnissen rund um die Welt zu partizipieren. Produkte und Erlebniswelten haben eher ausnahmsweise eine schweizerische Anmutung; und wenn es der Fall ist, so stellt sie sich als «Swissness» explizit in einen globalen Zusammenhang.
Die Zeitreihe der Hundertjahr-Schau von Schweizer Design endet bezeichnenderweise mit der Jahrtausendwende. Würde man der Arbeit schweizerischer Gestalter und den Produkten einheimischer Firmen im 21. Jahrhundert noch das Etikett «Schweizer Design» geben? Wohl kaum. Die angewandte Kunst der Gestaltung hat sich genauso internationalisiert wie die grossen Firmen, die Märkte, die Kommunikation und der kulturelle Austausch. Die Ästhetik der Swatch wird vermutlich so wenig als schweizerisch wahrgenommen wie das Design von Apple als amerikanisch. Designsprachen sind heute global.
«Hundert Jahre Schweizer Design» ist der Rückblick auf etwas Vergangenes, Abgeschlossenes, das es so nicht mehr geben kann. Zugleich hat die Schau aufgrund der Qualitäten, die sie dokumentiert und erläutert, aber auch einen zukunftweisenden Charakter. Viele der gezeigten gestalterischen Leistungen sind und bleiben beispielhaft. Sie positionieren die Messlatte für gutes Design auf einem Niveau, an dem sich auch künftige Designer orientieren können, ob sie nun schweizerisch sind oder welcher Herkunft auch immer.
Museum für Gestaltung/ Schaudepot, Toni-Areal, Pfingstweidstrasse 96, 8005 Zürich: 100 Jahre Schweizer Design, bis 8. Februar 2015