Amerika schämt sich – zumindest jene Hälfte, welche Trump damals nicht wählte.
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und des eindrücklichen Selbstwertgefühls auf Scham zu stossen, war eine grosse, bittere Überraschung. Ich kenne das Land seit über fünfzig Jahren, habe – wie viele Wissenschaftler meiner Generation – in den USA an verschiedenen Orten gelebt, gearbeitet, Kontakte geknüpft und Freunde fürs ganze Leben gewonnen.
Natürlich wissen wir spätestens seit der Publikation des Buches von J. D. Vance „Hillbilly Elegy“ (1), dass die Staaten an der Ost- und Westküste der USA, wo die meisten vorübergehend in Amerika wohnenden Europäer, insbesondere die Wissenschaftler, tätig sind und waren, das heutige Amerika nur zur Hälfte abbilden.
Gar nicht über Trump reden
Tatsächlich haben wir auf unserer Reise entlang der Westküste von Seattle bis San Diego kaum jemanden angetroffen, welcher sich offen zu Trump bekannt hätte. Vielleicht kam uns gerade deswegen das Land verändert, irritiert und verunsichert vor. Die Menschen würden am liebsten gar nicht über Trump reden, sondern ihn verdrängen wie einen Albtraum, auch die Präsidentschaftswahlen des nächsten Jahres.
Man spricht lieber über Greta Thunberg und die Klimademonstrationen, ein Thema der Scham, bei dem man sich mit der ganzen (westlichen) Welt vereint fühlt, trotz des Klimaleugners Trump.
Wenig Lust auf Wahlkampf
In den Medien sind die Wahlen zwar präsent, aber für die Demokraten bis jetzt wenig beflügelnd und schon gar nicht einigend. Das amerikanische Wahlsystem führt, wenn es um die Wiederwahl eines amtierenden Präsidenten geht, zu einer grotesk asymetrischen Situation.
Während die Partei, welche an der Macht ist, also im jetzigen Fall die Republikaner, ihren Kandidaten ohne grosse öffentliche Aufmerksamkeit kürt, weil es ohnehin meist um den bereits amtierenden Präsidenten geht, bedingt der Auswahlprozess bei der Opposition, also bei den Demokraten, zuerst einmal eine schonungslose, heftige Auseinandersetzung aller gegen alle, bei der nach Schwächen und möglichen Skandalen gesucht wird. Und dieses Schauspiel findet nicht parteiintern statt, sondern sozusagen vor den Augen aller Wähler, also auch der republikanischen. Dabei gibt es kaum Kandidaten, bei denen nicht am Ende doch irgend etwas hängenbliebt, das später, wenn es um die wirkliche Wahl zwischen den Parteien geht, von der Gegenpartei ins Spiel gebracht werden kann. Vielleicht ist das mit ein Grund, wieso man bisher bei den Demokraten wenig Lust auf den Wahlkampf verspürt.
Merkel was so genuine and creative
Und schliesslich noch etwas: Europa, der nicht weniger zerstrittene, Brexit-geschüttelte alte Kontinent, über den auch in den renommierten amerikaischen Zeitungen höchstens auf den hinteren Seiten berichtet wird, wird plötzlich in einem veränderten Licht gesehen. Ich habe, wo ich konnte, in meinen Gesprächen auf die Rede von Angela Merkel an der Commencement Feier der Harvard Universität vom 30. Mai 2019 hingewiesen (2). Eine Freundin aus La Jolla schrieb mir vor ein paar Tagen als Reaktion darauf:
„I just watched this uplifting speech. Chancellor Merkel was so genuine and creative in choosing the six points taken from her own life experiences to construct hope and, in her quiet way, call the US audience to action. ‚Tear down the walls of ignorance and narrow-mindedness for nothing has to stay as it is.‘ And her call for global solutions and ethical decisions was not lost on anyone …
But most moving was her humility in light of her extraordinary achievements, intellect and character. It is such a contrast to our own President’s self-centered, narcissist, self- aggrandizing, inarticulate ranting.“
Es lohnt sich, auch als Europäer, diese Rede zu hören. Amerikas Scham könnte auch eine Weckruf für Europa sein.
(1) Auf Deutsch erschienen als Ullstein Taschenbuch, 2018: J.D. Vance, Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise.
(2) https://m.youtube.com/watch?v=9ofED6BInFs
oder: https://www.youtube.com/watch?v=ebiQiAima7w