Das Urteil schlug in Rom wie eine Bombe ein. Niemand hatte damit gerechnet. Weder Berlusconis Partei, noch Berlusconi selbst. Auch seine Anwälte nicht. Franco Coppi, einer der Verteidiger Berlusconis, kommentierte: „Das Urteil hat unsere rosigsten Erwartungen übertroffen“.
„Ich bin tief gerührt“, kommentierte der jetzt Freigesprochene. „Nur jene, die mir sehr nahe stehen, wissen, wie sehr ich wegen dieser ungerechten und infamen Anklage gelitten habe“.
„Die Straftat besteht nicht“
Im sogenannten „Ruby“-Prozess war Berlusconi im vergangenen Jahr von einem Mailänder Gericht zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. Für die Richter der ersten Instanz stand fest, dass Berlusconi in seiner Villa San Martino in Arcore bei Mailand Sex mit der minderjährigen Karima El Marough alias Ruby hatte. Der Staatsanwalt hatte letzte Woche eine Bestätigung dieses siebenjährigen Urteils gefordert.
Im Berufungsprozess wurde Berlusconi nun komplett reingewaschen. Die Richter der zweiten Instanz, präsidiert von Enrico Tranfa, erklärten: „Die Straftat besteht nicht“.
Damit darf Berlusconi ab sofort wieder öffentliche Ämter ausüben. Dies war ihm am 24. Juni 2013 gerichtlich verboten worden.
Rätseln um die Motive des Freispruchs
Während das Urteil am Freitag verkündet wurde, befand sich Berlusconi zum elften Mal im Altersheim Sacra Famiglia in Cesano Boscone, wo er demenzkranke Leute pflegt. Wegen seiner Verurteilung wegen Steuerbetrugs muss er ein Jahr lang einen halben Tag pro Woche Sozialdienst leisten.
Berlusconi, der seit Jahren einen wütenden Kampf gegen die „roten Richter“ führt, sagt jetzt plötzlich: „Die grosse Mehrheit der italienischen Richter arbeitet im Stillen, ausgewogen und mit bewundernswürdiger Härte.“
Filippo Dinacci, ein weiterer Verteidiger Berlusconis, erklärte nach dem Urteil: „In diesem Prozess hat man Berlusconi sein moralisches Verhalten vorgeworfen, aber keine Straftaten“.
Welches waren die Motive für den Freispruch? Auch Berlusconis Anwälte rätseln noch. „Möglicherweise“, sagt Franco Coppi, „waren die Richter der Ansicht, dass Berlusconi nicht über das Alter der damals noch nicht 18-jährigen Ruby informiert war“.
„Endlich die Wahrheit“
Seziert man diesen Satz von Coppi, weist das darauf hin, dass Berlusconi Sex mit Ruby hatte, aber er glaubte, sie sei volljährig. Sowohl Berlusconi als auch Ruby haben aber immer wieder beteuert, sie hätten keinen Sex miteinander gehabt. „Berlusconi war wie ein Vater zu mir“, hatte Ruby gesagt.
Lele Mora, der zwielichtige und mehrmals verurteilte Mann, der Berlusconi junge Frauen zuschanzte, kommentierte im Fernsehsender Tg4: „Endlich ist die Wahrheit ans Tageslicht gekommen“.
Ist die Wahrheit ans Tageslicht gekommen? Daran darf gezweifelt werden.
Viel Geld floss
Als sie das erste Mal Berlusconis Villa aufgesucht hat, ist sie 17 Jahre und 95 Tage alt.
Warum lebt heute Ruby in Saus und Braus? Sie selbst hatte immer wieder erklärt, Berlusconi hätte sie fürstlich beschenkt. Sie sprach von einer Wohnung im Norden Mailands, von einem Auto, von „einigen Millionen“, von Schmuck und teuren Kleidern. Einmal zeigte sie sogar den Richtern einige Geschenke, die ihr Berlusconi gemacht hatte.
Wieso hat Berlusconi das Füllhorn über sie ausgeschüttet, wenn er nichts zu verbergen hatte? Vieles hatte darauf hingedeutet, dass viel Geld floss, dass Zeuginnen, Teilnehmerinnen an den Bunga Bunga-Partys, bestochen worden waren.
67 Telefonate an 77 Tagen
Nach einem Diebstahl war Ruby am 27. Mai 2011 in Mailand festgenommen worden. Berlusconi rief persönlich den höchsten Mailänder Polizeikommandanten an, um sie freizubekommen – mit der Lüge, sie sei „die Nichte von Mubarak“. Ist das kein Amtsmissbrauch? Berlusconi wurde jetzt auch vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs freigesprochen.
Nicole Minetti, eine junge Frau war es, die Ruby aus dem Gefängnis abholte. Minetti war die Zahnhygienikerin Berlusconis. Später verschaffte ihr der Ministerpräsident einen Sitz im lombardischen Regionalparlament. Nach der Freilassung – in tiefer Nacht – flirteten Minetti und Ruby am Telefon mit Berlusconi. Die Untersuchungsbehörden haben festgestellt, dass Ruby und Berlusconi an 77 Tagen 67 Mal miteinander telefoniert haben. Fest steht auch, dass Ruby noch mehrmals die Villa San Martino in Arcore aufgesucht hat.
Das richtige Alter verschwiegen?
Mehrere junge Frauen, die an den Bunga Bunga-Partys in Berlusconis Villa teilnahmen, beteuerten, dass Ruby halbnackt zu Berlusconi aufs Zimmer gegangen – und dort einige Zeit geblieben sei.
Ruby beteuerte den Richtern immer wieder, sie hätte Berlusconi angelogen. Sie hätte ihm gesagt, sie sei 24 und nicht 17. Doch Nicole Minetti und Lele Mora hätten ihr richtiges Alter gekannt.
Ruby sagte auch, Berlusconi sei der erste Mann in ihrem Leben gewesen, der sie nicht ins Bett hätte bringen wollen. „Silvio hat mich mit offenen Armen empfangen, er war nett, süss, er hat mich beschützt, hat mir etwas Geld geliehen. Er hat mir versprochen, mir bei der Aufenthaltsgenehmigung zu helfen.“ Was wollte er im Gegenzug? „Nichts. Giuro.“
Berufung an die dritte Instanz?
Berlusconis Freispruch hat auch eine politische Dimension. Wäre er verurteilt worden, hätte er seinen Sozialdienst im Altersheim wahrscheinlich quittieren müssen und wäre unter Hausarrest gestellt worden. Das hätte eine Bewegungsfreiheit und damit seinen politischen Einfluss radikal eingeengt.
Die Staatsanwaltschaft kann nun ans Kassationsgericht, der dritten und letzten Instanz gelangen. Ein Urteil dieses höchsten Gerichts dürfte nicht vor einem Jahr fallen.
Die schriftliche Begründung des heutigen Urteils muss innerhalb von 90 Tagen veröffentlicht werden. Nach der Lektüre der Begründung wird Pietro De Petris, der Generalstaatsanwalt, entscheiden, ob er ans höchste Gericht gelangen wird.
Vielleicht wusste Berlusconi wirklich nicht, wie alt Ruby war. Oder vielleicht wollte er es einfach gar nicht wissen.