Er tat dies nicht in Beirut sondern in Riad, indem er seinen Rückritt am saudischen Fernsehen bekannt gab. In seiner Erklärung führte er an, er habe um sein Leben gefürchtet und sich gezwungen gesehen, nach Riad zu fliehen, um nicht ermordet zu werden, wie es seinem Vater, Rafic Hariri, im Jahre 2005 geschehen war.
Die Lage in Libanon sei gegenwärtig vergleichbar mit jener, die damals bestand. Hariri klagte im Fernsehen Iran und Hizbullah an, sie planten seine Ermordung mit dem Ziel, in Libanon die Gegensätze zwischen Hizbullah und der sunnitischen Bevölkerung zu verschärfen, und er warf der Hizbullah vor, alle Machtpositionen in Libanon zu beherrschen. Er äusserte sich auch scharf über Iran und warf Teheran vor, Unruhe in Libanon stiften zu wollen. Teheran dementierte dies sofort, und iranische Sprecher sagten, Präsident Trump und die Saudis hätten den Rücktritt erzwungen, um in Libanon einen Zusammenstoss zwischen den libanesischen Sunniten und Schiiten hervorzurufen.
Beirut überrascht und befremdet
Die Reaktion in Libanon von Seiten der libanesischen Armee und der Sicherheitsbehörden bestand in der Aussage, von einem Mordkomplott gegen Saad Hariri sei nichts bekannt. Der Ministerpräsident habe auch vor seiner plötzlichen Abreise nach Riad nichts darüber verlauten lassen. Die Hizbullah erklärte: „Wir haben den Rücktritt des Ministerpräsidenten nicht gewünscht.“ Präsident Aoun, der der Hizbullah nahe steht, sagte, er könne den Rücktritt erst annehmen, wenn Hariri nach Hause zurückgekehrt sei und ihm seinen persönlichen ungehinderten Entscheid vorlege. Der Justizminister der bisherigen Hariri Regierung erklärte, der Rücktritt des Ministerpräsidenten sei ungültig. Ein Rücktritt könne nur im eigenen Land erfolgen. Es bestehe die Möglichkeit, dass der Ministerpräsident im Ausland zu seiner Rücktrittserklärung gezwungen worden sei.
Ein Aussöhnungsversuch in Beirut – abgewürgt?
Hariri war vor elf Monaten Ministerpräsident geworden. Die Regierung, welcher er vorstand, umfasste nicht weniger als 30 Minister. Die Minister waren Vertreter aller grösseren Parteien und politischen Gruppierungen des Landes, darunter auch Politiker aus den seit Jahren einander entgegenstehenden Blöcken der Schiiten unter der Hizbullah und der Sunniten unter Hariri. Sie waren alle zu einer Regierung zusammengekommen, nachdem es am 31. Oktober 2016 gelungen war, endlich einen libanesischen Präsidenten zu wählen. Die Wahl eines neuen Staatspräsidenten durch das libanesische Parlament war über 29 Monate und 45 versuchte Wahlsitzungen nicht zustande gekommen, weil die beiden verfeindeten politischen Blöcke einander im Parlament blockiert hatten.
Hinter dem einen stand Iran, und Saudiarabien stand hinter dem anderen. Als Saad Hariri dann im vergangenen Dezember seine Regierung antrat, hatte er einen Neubeginn für Libanon verheissen und gelobt, den alten Streit beizulegen. – Nun aber, von Riad aus, tönt er sehr anders. Falls Hariri nach Libanon heimkehren sollte, könnte sich die politische Lage klären. Falls er in Riad bleibt, hat man anzunehmen, dass er entweder dort festgehalten wird oder aber tatsächlich um sein Leben fürchtet.
Die Milliarden Hariris in Saudiarabien
Neben der politischen gibt es auch eine finanzielle Seite der gesamten Hariri Angelegenheit. Der 2005 in Libanon ermordete Vater Saad Hariris, Rafic Hariri, mehrfacher Ministerpräsident und grosser Wohltäter Libanons nach dem dortigen Bürgerkrieg (1975–1991), war der Gründer und Chef einer der grossen saudischen Baufirmen, Saudi Oger genannt, die er seit 1978 aufgebaut hatte. „Oger“ hat in Saudi-Arabien in den 80er Jahren ganze Städte errichtet. Rafic Hariri war zum mehrfachen Milliardär geworden. Er, und vor ihm sein Sohn, hatten auch die saudische Staatsangehörigkeit erhalten. Sein Sohn hatte die Firma geerbt, die nach den damaligen Schätzungen im Jahr 2005 rund 4,1 Milliarden Dollar wert gewesen sein soll.
Doch wie alle grossen Baufirmen in Saudiarabien litt „Saudi Oger“ unter dem sinkenden Erdölpreis, der das saudische Staatseinkommen halbierte. Viele der grossen staatlichen Bauaufträge wurden zurückgenommen oder eingeschränkt. Grosse Bauvorhaben wurden gestrichen. Die Grossfirmen, darunter Oger und auch jene der Ben Ladhen Familie, konnten ihre Tausenden von Arbeitern nicht mehr bezahlen. Es war unklar, inwieweit der Staat die Verantwortung für die gestrichenen Aufträge tragen würde. Nach Forbes war das Vermögen von Saad Hariri 2016 auf 1,4 Milliarden zurückgegangen. Gegenwärtig sind die Rechnungsprüfer von Pricewaterhouse Coopers vom Königreich beauftragt, die Lage von Oger zu beurteilen. Es gibt Schätzungen, nach denen die Baufirma saudischen Banken 3,2 Milliarden Dollar schuldet.
Unter Druck durch Saudiarabien?
Saad Hariri hatte am Tag vor seiner Abreise nach Riad einen Berater Khameneis, Ali Akbar Velayati, getroffen und zuvor mit einem saudischen Abgesandten über seine Firma verhandelt. Der Saudi hatte auf Twitter erklärt, alle Probleme seien gelöst. Saad Hariri habe
sich, den Berichten nach, in Libanon vor seiner Abreise fröhlich und sehr erleichtert gezeigt. Doch dann, am saudischen Fernsehen, tönte er anders.
Diese finanzielle Geschichte stärkt den Verdacht jener, die glauben, der libanesische Ministerpräsident sei nach Riad gelockt und dort zu seinen Aussagen über seinen Rücktritt und ein angebliches Mordkomplott durch die Hizbullah und Iran gezwungen worden. Zweck der Saudis sei, je nach Gewährsmann, entweder Saad Hariri zusammen mit den anderen wegen angeblicher Korruption festgehaltenen Saudi Geschäftsleuten dazu zu zwingen, Gelder herauszugeben. Im Falle Hariris in erster Linie Gelder, die er ausserhalb Libanons und ausserhalb Saudi-Arabiens beiseite gebracht habe. Oder aber auch – nach einer zweiten Version – um in Libanon, statt eines Versöhnungsversuches zwischen Hizbullah und den libanesischen Sunniten, wie ihn Saad Hariri als Chef einer alle Tendenzen umfassenden Regierung betrieben hatte, neuen Zwist zwischen den beiden libanesischen Blöcken herbeizuführen und dadurch Hizbullah in Libanon zu destabilisieren. Natürlich lässt sich auch die Möglichkeit denken, dass Riad und der dortige Machthaber, Kronpinz MBS, beide Ziele zugleich verfolgen.
Israel in Beobachterstellung
Was mit Libanon und dort besonders mit der Hizbullah geschieht, interessiert nicht nur die Libanesen, sondern auch in beträchtlichem Masse Israel. Dort wird der vermutete Versuch Irans, sich einen direkten Zugang zur Hizbullah in Südlibanon zu verschaffen, indem die Pasdaran am Projekt eines Landkorridors arbeiten, der über den Irak und durch Syrien hindurch diese Verbindung herstellen soll, genau beobachtet. Wenn die inneren Spannungen in Libanon mit Hilfe von Saudiarabien und von Iran zunehmen, wächst auch die Gefahr von neuen Zusammenstössen zwischen Israel und der Hizbullah, weil beide Seiten sich veranlasst sehen könnten, durch einen Waffengang einen Ausweg aus ihrer Bedrohungslage zu suchen.