Bisher hat sich Präsident Putin nicht zu der Unterdrückung von weitgehend friedlichen Wochenend-Demonstrationen in Moskau durch martialische Sicherheitskräfte geäussert. Das könnte zur Vermutung führen, dass diese repressiven Einsätze, die weitherum in der Welt ein wenig schmeichelhaftes Bild von den politischen Zuständen in Russland verbreiten, dem Konto übereifriger Lokalchargen anzulasten sind und wenig mit dem Machthaber im Kreml zu tun haben.
Gelegentliche Nachgiebigkeit
Doch das wäre mit Sicherheit ein falscher Schluss. Bei den Zusammenstössen von einigen tausend Demonstranten mit einer überwältigenden Phalanx von Sicherheitskräften und der Verhaftung von jeweils Hunderten von Manifestanten (am vergangenen Samstag sind laut der nichtamtlichen Internetplattform OWD-Info 828 Personen festgenommen worden) geht es nicht um eine konkrete Sachfrage oder um einen einzelnen dissidenten Aktivisten.
Bei derartigen Kontroversen hat Putin in letzter Zeit mitunter auch kompromissbereite Signale aufsteigen lassen, um die Wogen öffentlicher Empörung zu beruhigen. So etwa bei der Verhaftung des kritischen Journalisten Iwan Golunow im Juni, der auf der Internetseite «Medusa» über korrupte Praktiken in der Moskauer Stadtverwaltung berichtet hatte. Ihm wurde von den Behörden Drogenhandel vorgeworfen. Doch darauf veröffentlichten mehrere nicht Kreml-hörige Medien Bilder und Dokumente, die deutlich machten, dass es sich bei diesen Vorwürfen um plumpe Unterstellungen handelte. Wenige Tage später wurde die Anklage fallengelassen und Goluwanow auf freien Fuss gesetzt. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass Putin durch einen entsprechenden Wink diese Wende veranlasst hatte.
Auch die teilweise Abmilderung des Pensionsalters, dessen gesetzliche Erhöhung im vergangenen Jahr die Gemüter der russischen Bürger empört hatte, ging eindeutig auf einen Entscheid Putins zurück. Was wiederum deutlich macht, dass dem Herrn im Kreml die Stimmung im Volke keineswegs gleichgültig ist und er diese sehr genau beobachtet.
Gefügige Mehrheiten
Doch im Konflikt um die Wahlen ins Moskauer Stadtparlament, der in diesen Sommerwochen die Schlagzeilen über das politische Geschehen dominiert, geht es nicht um solche Einzelfragen oder um lokale Machtrangeleien. Es geht grundsätzlich um die Kontrollmechanismen bei Wahlen und damit um das von Putin seit langem verkündete und praktizierte Prinzip der sogenannten Machtvertikale. Das heisst: Russland ist zwar heute im Vergleich mit der totalitären Sowjetunion und ihrem Einparteien-System so etwas wie eine Halb- oder Drittel-Demokratie, aber gleichzeitig muss die Entscheidung über alle wesentlichen Fragen des Landes uneingeschränkt von der Kremlspitze ausgehen.
Dieses tief in der russischen Geschichte verwurzelte und in weiten Teilen des Volkes akzeptierte Denken hat Putin in den 19 Jahren seiner Herrschaft beharrlich in die Praxis umgesetzt. In beiden Kammern des russischen Parlaments kann der Präsident inzwischen problemlos auf gefügige Mehrheiten der Kremlpartei «Einiges Russland» zählen. Die Vertreter weiterer Systemparteien wie der Kommunisten oder der Liberal-Demokraten des rechtsradikalen Polterers Schirinowski pflegen ausserdem ins gleiche Horn zu blasen. Sie sind alle abhängig von Posten und Privilegien, die über Putins Machtvertikale verteilt werden.
Bei den im September fälligen Wahlen ins Moskauer Stadtparlament machte es in den vergangenen Wochen den Anscheint, dass dieses vertikale Kontroll-System erheblich in Frage gestellt werden könnte. Prognosen deuteten darauf hin, dass die Kremlpartei «Einiges Russland» eine herbe Niederlage erleiden könnte und unabhängige Kandidaten in grösserer Anzahl ins Parlament gewählt würden. Das aber durfte nach Ansicht des Regimes nicht geschehen, weil damit ausgerechnet in der Hauptstadt das fundamentale Prinzip der Macht-Vertikale oder der «gelenkten Demokratie» durchbrochen oder zumindest in Frage gestellt wäre.
Es geht ums Prinzip
Um ein solches Ergebnis zu verhindern, strich die zuständige Behörde kurzerhand 57 Namen von unabhängigen Kandidaten mit zum Teil bizarren Begründungen von den Wahllisten – etwa, dass die von den Kandidaten verlangten Verzeichnisse von mehreren tausend Unterstützern falsch geschriebene Namen oder nicht existierende Personen enthielten. Gegen diese willkürlichen Entscheidungen richteten sich in erster Linie die nicht bewilligten Demonstrationen in Moskau.
Die Spekulation, dass die Manipulationen der Wahlbehörde und der Einsatz massiver Polizeikräfte gegen friedlich demonstrierende «Spaziergänger» auf dem Moskauer Gartenring mit übereifrigen und unbeholfenen Entscheidungen lokaler Funktionäre zu erklären sei, ist deshalb wenig überzeugend. Hinter diesem Vorgehen steht offenkundig auch der Wille Putins, das Zustandekommen einer möglicherweise nicht vom Kreml kontrollierten Mehrheit im Parlament der Hauptstadt mit allen Mitteln zu verhindern. Zwar verfügt das Moskauer Stadtparlament über wenig Einfluss und nur geringe Kompetenzen. Doch mit diesem Beispiel würde das von Putin und seiner Entourage gewissermassen zur Staatsraison erhobene Prinzip der vom Kreml ausgehenden Machtvertikale prominent durchbrochen.
Alarmzeichen in der Ukraine und im Kaukasus
Jedes Anzeichen in diese Richtung aber muss der Machttechniker im Kreml als Alarmsignal empfinden. Im Nachbarland Ukraine und in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie Georgien und Armenien konnte er beobachten, was autoritären Regimen blüht, wenn deren ähnlich organisiertes Vertikalsystem ins Rutschen gerät. Auf derartige Risiken will sich Putin nicht einlassen. Deshalb wohl auch vor einer Woche die neuerliche Festnahme des inzwischen bekanntesten und unerschrockensten Oppositionellen Alexei Nawalny, dem einige zutrauen, zu einer gewichtigen russischen Führungsfigur zu werden – falls eines Tages der demokatische Spielraum doch etwas erweitert werden sollte.
Putins Amtszeit läuft zwar noch bis zum Jahr 2024 und nach dem heutigen Stand der Dinge spricht kaum etwas dafür, dass seine Präsidentschaft in den nächsten fünf Jahren ernsthaft gefährdet werden könnte. Doch was kommt danach? Darüber rätseln innerhalb und ausserhalb Russlands viele Köpfe. Gut möglich, dass Putin zurzeit selber noch nicht weiss, ob er die Macht im Kreml einem Nachfolger übergeben oder ob er durch irgendein legalistisches Manöver sein Regime noch eine Weile verlängern wird. Was immer seine Pläne sein mögen – sicher ist, dass Putin eine Lockerung der russischen Machtvertikale unbedingt verhindern will, solange er im Kreml die Zügel führt.