Das Reisen auf dem Wasser kann einem das Zeitlose näher bringen.
Kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, noch jenes Gefühl, das für die meisten unserer Vorfahren unfreiwillige Selbstverständlichkeit gewesen sein muss, das Gefühl nämlich, vom aktuellen Lauf der Geschichte abgeschnitten zu sein? – Nennen wir diesen Zustand „offline“.
Vor der Erfindung von Handy und Internet war man höchstens sporadisch „online“, übers Radio oder Fernsehen, und noch früher gab es überhaupt keine verzögerungslose Verbindung zur globalen Gegenwart. Die Tageszeitung bedeutete innerhalb eines begrenzten geografischen Gebietes bereits einen unvorstellbaren Aktualitätsluxus, doch für jemanden, der in ein fernes Land ausgewandert war, waren Monate alte Nachrichten so selbstverständlich „aktuell“ wie für einen Menschen der Moderne, welcher übers Fernsehen mitverfolgt, wie ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer prallt.
Gut erinnere ich mich an ein persönliches Offline-Erlebnis aus meiner Jugend: Als ich im Frühling 1962 nach einem Umweg über Hamburg in Berlin zu meinem ersten Semester an der Freien Universität ankam, erwartete mich dort ein Brief meiner Mutter, eine Woche vorher in Basel abgeschickt, welcher mich über den Tod meiner Grossmutter unterrichtete. Die Beerdigung hatte bereits stattgefunden; mit der Teilnahme des „Ausgewanderten“ hatte man von vorneherein nicht gerechnet, und für einen telefonischen Kontakt hätte man wohl die Polizei einschalten müssen.
Null Toleranz für Zeitverzug
Tatsächlich bedeutete „aktuell“ schon immer etwas Relatives, das sich an der Häufigkeit und Geschwindigkeit der Nachrichtenverbreitung misst. Erst die zeitgenössische Online-Manie hat die Toleranz gegenüber dem Aktuellen sozusagen auf den Zeitverzug null reduziert: „Real time“ nennt man diesen Zustand.
Ist in einer Internet-Zeitung wie dem Journal21 die Frage erlaubt, welche Bedeutung „aktuell“ für uns Menschen wirklich hat oder was denn das Gegenteil von aktuell sei? – Ich glaube, darüber nachzudenken tut uns allen von Zeit zu Zeit gut, auch wenn wir alle „real time“ aus eigener Erfahrung kennen und in vielen Situationen zu schätzen wissen.
Also denn, was ist das Gegenteil von „aktuell“? – „Veraltet“ ist man versucht zu sagen, und für die meisten aktuellen Informationen trifft das auch tatsächlich zu. Aber nicht für alle. Ist der „Werther“, weil er vor über zweihundert Jahren geschrieben worden ist, veraltet? – Sicher nicht. Wie wäre es also, für das Gegenteil von „aktuell“ noch einen zweiten Ausdruck bereit zu haben, „zeitlos“ zum Beispiel?
Zeitloses im Gepäck
Seit ein paar Tagen sind meine Frau und ich wieder mit unserem Schiff Solveig VII auf dem Wasser unterwegs und damit – mit Absicht – nur selten online. Offline zu sein und sich so dem Aktuellen zu verweigern (wenigstens ein bisschen), gibt Raum für das Nichtaktuelle, nicht für das Veraltete, sondern für das Zeitlose. Es gehört zu unseren schönsten und wichtigsten Reisevorbereitungen, unser Gepäck mit Zeitlosem zu bestücken, vor allem mit Büchern, neuen und solchen, die man endlich wieder einmal lesen möchte, aber auch mit CDs voller herrlicher Musik. Abends ohne Unterbrechung eine Lieblingsoper zu hören, ist ein luxuriöses Geschenk von Offline.
Oder sich Gedichte vorlesen, zum Beispiel aus dem feinsinnigen Buch von Urs Frauchiger und Erwin Messmer („Kennst Du das Gedicht?“), in dem sich die beiden Freunde gegenseitig ihre Gedanken zu ihren Lieblingsgedichten mitteilen. Es hat uns veranlasst, diesmal auch Gedichtsammlungen an Bord zu nehmen.
Auch das jüngste Buch von Adolf Muschg („Der weisse Freitag“) hat die Reise mit uns angetreten. Es hätte nicht besser passen können zu unserer Fahrt auf dem Rhein durch das deutsche Mittelgebirge, vorbei an der Loreley. Auch Muschgs Buch handelt im weitesten Sinne vom Unterwegssein, vom Reisen also. Sein Erzählstrang ist zwar, wie immer, mehrschichtig und kompliziert, aber zwei dieser Stränge dominieren das komplexe Gewebe seiner Erzählung. Bei beiden geht es im weiteren Sinne um Reisen, welche Muschg parallel erzählt. Da ist erstens die Erzählung über Goethes zweite Schweizer Reise, welche er zusammen mit Fürst Carl August unternommen hatte, und zweitens um Muschgs persönliche Erfahrung im unbekannten Land des Altwerdens.
Lebensreise
Auf beiden Reisen warten Herausforderungen, für welche die Erfahrung fehlt. Für Goethe war es die Überquerung der tief verschneiten Furka aus dem Goms nach Hospenthal am 12. November 1779. Muschg versucht anhand verschiedener Dokumente und mit Hilfe seiner blühenden Fantasie – sie darf bei ihm nie fehlen – der Frage nachzugehen, wieso Goethe sich und seinen Gefährten dieses gefährliche Abenteuer zugemutet hatte. Wieso tat er sich das an? War es nur die Sehnsucht nach dem Blick vom Gotthardpass, nach dem Blick von der Passhöhe hinunter in jenes „Land, wo die Zitronen blühen“, jenes Land, das er erst Jahre später tatsächlich bereisen wird? Oder war es purer Mutwille, die Lust aus dem höfischen Leben von Weimar auszubrechen und dabei auch den Fürsten ins Abenteuer hineinzuziehen? – Muschg gibt auf diese Frage keine schlüssige Antwort. Eine einfache Antwort wird es wohl auch nie geben.
„Wieso tun wir uns das an?“ – Das habe ich mich auch gefragt, als wir vor ein paar Tagen auf dem Rhein bei eisiger Kälte unser Schiff hinter Bingen zwischen die steilen Felshänge ins Bingener Loch steuerten, wo man am Steuerruder die schneller werdende Fliessgeschwindigkeit des Wassers und die Kraft der Strömungswirbel spürt, welche es schwer machen, das Schiff einigermassen auf Kurs zu halten, wenn sich stromaufwärts turmhoch beladene Containerschiffe in den Blick schieben. „Wieso tun wir uns das an?“, las ich auch im Blick meiner Frau. So mag Carl August geschaut haben, als er hinter den Walliser Berglern und hinter Goethe gegen die Furka hinaufstapfte und realisierte, sie würden die andere Seite nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen können.
Sicher, man hätte beides lassen können, sowohl den Gang über die Furka als auch die Fahrt am Felsen der Loreley vorbei. Aber vielleicht hat die Faszination solcher Erlebnisse etwas damit zu tun, dass wir ahnen, es gäbe in unserem Leben noch andere Reisen, bei denen wir nicht wählen oder dankend verzichten können. Von einer solchen Reise handelt Muschgs zweiter Erzählstrang, von der Reise ins Alter, an deren Ziel der eigene Tod wartet. Muschg schreibt von der dem Alter geschuldeten Veränderung seiner Wohnsituation, seinem mit Spiegeln versehenen japanischen Garten, aber vor allem über seine Auseinandersetzung mit einer Krebsdiagnose.
Die Gnade, alt zu werden
Sein mit „Krebsangst“ betitelter Abschnitt ist etwas vom Persönlichsten, was ich von Muschg je gelesen habe. Und plötzlich wurde mir auch klar, was sich hinter Muschgs parallelen Erzählungen – ausser seiner Faszination für den Menschen Goethe – letztlich verbirgt: Goethe war nicht nur ein begnadeter Mensch, Künstler, Staatsmann und vieles mehr, er hatte auch die Gnade, alt zu werden.
Die wenigsten Menschen jener Zeit, schon gar nicht die Künstler und Musiker (ich denke an Mozart oder Schubert) können uns als Vorbild für das Altwerden dienen, ganz einfach deswegen, weil „die Götter sie liebten und früh sterben liessen“. Goethe aber als ganzheitlich Denkender (noch kenne ich kein besseres Wort dafür, auch wenn es abgegriffen wirkt) ist ein Genie, das auch das Altwerden erleben durfte oder musste und darin auch für uns Zeitgenossen „zeitloses“ Vorbild sein kann.
Das lese ich – neben vielem anderen – in Muschgs jüngstem Buch. Und mit dem „zeitlos“ sind wir wieder zurück beim Anfang, beim Offline-Sein, beim Zeithaben für Zeitloses.
Es warten noch andere Schätze in unserem Schiffsbauch. Unterdessen fahren wir weiter auf der Mosel bergauf, erleben ihren Namenswechsel zur Moselle und freuen uns auf den bevorstehenden Übergang über eine Wasserscheide, der nicht Furka heisst, sondern von der Moselle zur Meuse bzw. Maas führt und damit das Tor nach Holland öffnet. Aber darüber später. Und schliesslich stellen wir beruhigt fest, die Welt sei nicht untergegangen, nur weil wir das Resultat der französischen Wahlen erst nach 24 Stunden vernommen haben.