Unser ökologisches Denken hat es kalt erwischt. Nachdem James Lovelock die Erde als einen Geo-Organismus postulierte – „Gaia“ – und Philosophen wie Bruno Latour eine neue planetarische Gemeinschaft und „Solidarität“ aller Lebewesen heraufbeschworen, machen plötzlich die kleinsten und primitivsten Mitglieder dieser Gemeinschaft unliebsam von sich reden: die Mikroben. Und aus der selbstattestierten fortgeschrittenen Position unseres modernen Lebens heraus stellen wir perplex fest: Diese primitiven Dinger können unsere komplexe Lebensform ja ganz schön durcheinanderbringen.
Wir richteten unser alarmiertes Augenmerk bisher auf die Makro-Skala des Klimawandels und vernachlässigten sträflich die organische Mikro-Skala im gesamtplanetarischen „oikos“, dem Haushalt der Erde. Jetzt stellt sich heraus: Unser Planet ist ein gewaltiger Keimträger. Und ökologisch sein bedeutet, auch mit den kleinsten Mitbewohnern zu rechnen. In Zukunft wahrscheinlich erst recht. Das schliesst selbstverständlich nicht aus, sich vor ihnen zu schützen oder sie unschädlich zu machen. Es bedeutet, dass wir, wenn wir heute unbescheiden das Erdzeitalter des Anthropozäns ausrufen, uns von den Mikroben in der Sprache der Epidemien belehren lassen müssen: Uns gibt es seit über drei Milliarden Jahren. Willkommen im Viro- und Bakteriozän! Nun gesellt sich den Kränkungen Kopernikus’, Darwins und Freuds neu die Kränkung des SARS-CoV-2 bei.
Die Macht des Zufalls
Das Virus ist Metapher für die Macht des Zufalls. Ob es uns „wohl oder übel gesinnt“ ist, hängt meist von kontingenten Umständen ab. So lautet zumindest eine Hypothese, die immer mehr in den Fokus der Forschung rückt. Der Mikrobiologe Bruce Levin prägte für sie die derb-eingängige Bezeichnung „Shit-Happens-Hypothese“: Die Virulenz von Mikroben ist nicht spezifisch gegen uns Menschen gerichtet, sie „geschieht“ einfach unter besonderen physikalischen, chemischen und biologischen Bedingungen. Wie Levin bemerkt: „Die Parasitologen lehrten uns Studenten, dass Krankheit ein primitives, unterentwickeltes Stadium im Zusammenleben von Organismen darstelle, und die Evolution schliesslich alles zum Netten richten würde, zu Symbiose und Mutualismus als Endpunkt.“
Die Natur kennt aber keine Happyends – oder vielmehr: sie kennt unzählige Happyends, je nach Artengesichtspunkt. Und der Mensch ist nur eine Art. Wenn ihn die Mikroben etwas angehen – was geht der Mensch die Mikroben an? Wir entdecken jetzt also nicht eine neue Welt, wie sie sich erstmals dem holländischen Gerätebauer Antoni van Leeuwenhoek im 17. Jahrhundert unter seinem Mikroskop offenbarte; wir entdecken uns als Teil dieser Welt. Der wichtigste Teil in der Mikrobenwelt sind aber andere Mikroben. Der Mensch, der zufällig in ihr Kreuzfeuer gerät, hat einfach Kollateralpech.
Murks happens
Das Virus ist Metapher für die begrenzte Beherrschung natürlicher und künstlicher Systeme. Die meisten technischen, administrativen, finanziellen, ökonomischen Systeme von heute basieren ja auf einer Interdependenz der Teile, die ein immer intransparenteres Mass annimmt. Von einem bestimmten Grad an Verwickeltheit an ist es schwierig, die Interdependenz aufzubrechen, wie das zum Beispiel bei einer Uhr durchaus möglich ist. Um sie zu reparieren, nimmt man sie auseinander und setzt sie wieder zusammen. Das ist das alte Paradigma. Die Uhr ist ein lineares, eventuell kompliziertes Werkstück: Mechanik. Moderne Technologie hat längst das Stadium der Mechanik hinter sich gelassen, auch wenn im gewöhnlichen Sprachgebrauch die Metapher der Maschine immer noch kursiert. Womöglich suchen wir darin so etwas wie metaphorischen Trost: Die Maschine haben wir im Griff – oder glauben es zumindest!
Die Ökosysteme der Erde weisen aber eine Verflochtenheit auf, die sich nicht „mechanisch“ bewältigen lässt. Sie wächst in dem Masse, in dem der Mensch sich in sie einmischt. Man denke nur an die letzten drei globalen Krisen. Die Finanzkrise, die (Nicht-)Bewältigung der Migration und die Uneinigkeit in den Massnahmen gegen den Kohlendioxidausstoss. Lauter planetarische Krisen. Sie sind hybrid: sie schliessen Medizin, Biologie, Technik, Ökologie, Ökonomie, Politik, Kultur ein. Hybride Systeme setzen sich nicht nur der Intransparenz, sondern zwangsläufig auch dem Murks aus. Ich nenne dies das Murks-Prinzip. Es gibt bei Problemen keine „sauberen“ Lösungen. Man muss sich durchwursteln.
Das unbekannte Unbekannte
Das Virus ist Metapher für das unbekannte Unbekannte. Natürlich befinden sich Virologie und Epidemiologie auf einem weitaus höheren Wissensstand als vor anderthalb Jahrhunderten. Und dennoch stehen sie ziemlich ratlos vor der Versatilität dieser primitiven Winzlinge, dieser molekularen Kopierapparate. Die Ironie liegt darin, dass der Mensch die Viren fördert, indem er immer tiefer in die planetarischen Ökosysteme eindringt. So haben die Forscher des One Health Institute bereits mehr als 900 neue Virenstämme identifiziert, die durch solches Eindringen gedeihen konnten, im Besonderen unbekannte Stämme des Coronavirus, die dem Sars-Virus ähneln.
Mit diesen Unbekannten ist künftig weiter zu rechnen. Wir sprechen ja schon lange vom „Virenbefall“ der Computer, davon, dass ein kleiner „bug“, ein „Käfer“, die ausgeklügelte Architektur einer Software zum Einsturz bringt, aus oft nicht bekannten Gründen. Und Forscher wie Dennis Carroll vom Global Virome Project sehen die Ökosysteme ähnlich herausgefordert, allein schon durch die ungeheure dynamische Vielfalt der mikrobischen Welt, über die man viel zu wenig weiss. Man denkt hier unweigerlich an den Betrunkenen, der im Lichtkreis der Laterne nach seinem Schlüssel sucht, dabei hat er ihn im Dunkeln verloren. Die Wissenschaft forscht im Lichtkreis von Theorien – anderes kann sie gar nicht –, und sie muss sich bewusst werden, dass es ausserhalb des Lichtkreises Dinge gibt, von denen sie sich noch nicht einmal einen Begriff macht.
Der Holobiont
Das Virus ist Metapher für das Fremde, Invasive. Die traditionelle Leitmetapher der Pathologie behandelt den Körper als Schlachtfeld, auf dem alle Eindringlinge böse und auszurotten sind. Aber es gibt seit einiger Zeit andere, weniger isolationistische oder kriegerische Metaphern. Die Biologin Lynn Margulis – Mitschöpferin der „Gaia-Hypothese“ – prägte den Begriff des „Holobionten“ für das Ökosystem, das der Mensch selbst ist. In einem Ökosystem gibt es nicht Schurken und Helden. Es gibt Arten, die ihre spezifischen Rollen spielen. Wir alle bewirten Lebewesen oder Quasi-Lebewesen. Sie sind nicht „per se“ nützlich oder schädlich, sie sind es unter bestimmten Umständen, und wir wissen in einer zusehends komplexeren Welt viel zu wenig über diese Umstände.
Dieses Nichtwissen macht die Mikroben unheimlich. Und mit Metaphern suchen wir diese Unheimlichkeit etwas vertrauter – anthropomorpher – zu machen. Aber wir müssen mit ihr leben, das heisst, die wirkliche Bedeutung des Begriffs „Vernetzung“ wieder lernen: Wir sind tatsächlich nicht nur immateriell, sondern materiell durch unsere physische Existenz vernetzt – bis hin zu den Einzellern. Das ist die dramatisch triviale Lektion des Coronavirus: Die Realität, in der wir leben, ist total viral. Und das muss man buchstäblich interpretieren, nicht metaphorisch.
Denken unter dem Gesichtspunkt des Drecks
Das Virus ist Metapher für Kontamination: „Dreck“. Mikroben gelten seit ihrer Entdeckung primär als Fremdkörper, Störefriede, Beschmutzerinnen, als Keimträgerinnen des Schlechten: biologischer Dreck, den es zu beseitigen gilt. Dreck ist etwas, das sich in alles mischt, Grenzen aufhebt, Reinheit bedroht. So auch das Virus. Nun merken wir: Mit diesem Dreck müssen wir leben. Und denken. Dreck ist nicht bloss eine materielle Kategorie, sondern auch eine intellektuelle, eine philosophische.
Ich schlage deshalb ein neues Motto für ökologisches Denken vor: Ende der Keimfreiheit. Was sich über das Leben auf unserem Planeten sagen lässt, kann auf unser Denken übertragen werden. Es findet nie in aseptischen Räumen statt, lässt sich nur begrenzt „purifizieren“. Die „reine“ Vernunft gibt es nicht. Menschliches Denken ist immer kontaminiert, „verdreckt“. Und „sauberes“ Denken“ schafft den Dreck einfach anderswo hin. Was wir brauchen, ist ein Denken unter dem Gesichtspunkt des Drecks.
Dieses Denken anerkennt ganz einfach, dass man eigentlich immer schon mit Dreck zusammenlebt. Es fordert uns auf, das Ungefügige, Sperrige, Disparate, Störende, ja, potenziell Zerstörende mitzudenken. Es widerspricht nicht dem „sauberen“, dem systematischen, methodischen, logischen, eindeutigen Denken, es widerspricht nur dessen Alleinerklärungsanspruch. Wittgenstein schreibt in seinen „Notebooks 1914–16“, dass die übliche Art die Dinge zu betrachten aus ihrer Mitte heraus geschehe. Er kontrastiert diese Perspektive mit jener der Ewigkeit: sub specie aeternitatis. Dieser Gesichtspunkt hält sich sozusagen heraus aus der Welt, schaut auf sie „von aussen“. Er „besudelt“ sich nicht mit Innerweltlichem.
Wir sind aber immer in der Welt, wir stecken mitten „im Dreck“. Und wer in der Welt ist, kann sie nicht vollständig in einem noch so umfassenden „sauberen“ Denksystem einfangen. Es bleibt immer ein ungehöriger Rest: Denkdreck. Er lädt im besten Fall zum Weiterdenken ein. Philosophie braucht Dreck. Dreck und Denken schliessen sich zusammen zu einem schöpferischen Kreis.