«On On Kawara» lautet der Titel der Ausstellung in der St. Galler Lokremise. Zusammen mit dem japanischen Konzeptkünstler On Kawara (1933–2014) befassen sich fünf weitere Künstlerinnen und Künstler mit der Dimension Zeit. Mit dieser Ausstellung verabschiedet sich Roland Wäspe nach über 30 Jahren als Direktor des St. Galler Kunstmuseums.
Auf drei Geleise-Kreisen mit einem Durchmesser von rund 14 Metern bewegen sich drei Modelleisenbahn-Züge. Drei Dampflokomotiven ziehen je elf Wagen, auf denen LED-Leuchten angebracht sind. Unregelmässig blinken Ziffern von 1 bis 9. Die drei Züge ziehen ihre Kreise in unterschiedlicher Geschwindigkeit, sodass sie sich nach Prinzip Zufall überholen oder kreuzen. Der Japaner Tatsuo Miyajiama (*1957) nennt diese 2011 entstandene Arbeit «Three Time Train». Sie nimmt einen grossen Teil der Grundfläche der Lokremise ein, die dem Kunstmuseum St. Gallen als Aktionsraum für Wechselausstellungen der besonderen Art zur Verfügung steht, und sie sorgt für eine eigenartige Atmosphäre, weil sie das 1903 errichtete Lokomotiv-Ringdepot, das grösste seiner Art in der Schweiz, zu einer Art Spielwiese für die grossen Kinder macht: Sie dürfen hier Modelleisenbahn spielen.
Doch da ist mehr als bloss eine Koinzidenz von realem Eisenbahngebäude und kindlichem Spiel. Die immerwährende Reise der drei Züge mit ihrer leicht verschobenen Geschwindigkeit und das ununterbrochene Geräusch der Motoren, die Erinnerung an die eigene Kindheit, das Zusammenfallen der Kreisform der Lokremise selbst mit den Geleisekreisen – all das erzeugt eine surreale Welt sich überlagernder Motive. Die Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, sich dieser vielschichtigen Welt auszusetzen und ihre eigenen Geschichten dazu zu erfinden.
On Kawaras «Date Paintings»
«Three Time Train» ist eines der Kunstwerke im Rahmen der zehn Tafeln aus On Kawaras «Date Paintings», die Roland Wäspe, Direktor des Kunstmuseums St. Gallen und Kurator dieser Ausstellung, zeigt. (St. Gallen besitzt als einzige Schweizer Institution so viele «Date Paintings»). Bis auf einige Werke von Bethan Huws gehört das ganze Ausstellungsgut der Sammlung des Kunstmuseums St. Gallen. On Kawaras Serie begann am 4. Januar 1966 und besteht aus emotionslos wirkenden gleichförmigen Malereien in acht verschiedenen Grössen. Sie halten in weisser Schrift auf monochromem, meist schwarzem Grund jenes Datum fest, an dem die Malereien entstanden. On Kawara bediente sich stets jener Darstellungsart, die dort üblich ist, wo sich der ständig reisende Künstler beim Anfertigen der Malereien befand – zum Beispiel «2 JUIN 2000» oder «28. SEPT 2001». Insgesamt gibt es rund 2000 «Date Paintings». Der Künstler bewahrte sie je in einer Schachtel auf, in die er auch die Titelseite einer Zeitung legte, die am betreffenden Tag und am entsprechenden Ort erschienen ist.
Die «Date Paintings» lassen sich lesen als ein Versuch des Künstlers, die zeitliche und räumliche Dimension seines Lebens in ein künstlerisches Konzept einfliessen zu lassen. An diesem kompromisslosen Konzept hielt er während Jahrzehnten in asketisch anmutender Beschränkung fest: Auch das ist lesbar als ein Statement über das einerseits konstant unveränderliche, aber ebenso konstant wechselnde Fliessen der Zeit. Dass er die jeweils aktuellen Zeitungsseiten nicht zusammen mit den «Dating Paintings» ausstellte, zeigt: Der Künstler wollte die Aufmerksamkeit der Betrachter nicht auf den aktuellen Kontext der Bilder einengen. Ihm ging es um eine sehr viel weiter gefasste und allgemeinere künstlerische Äusserung. Der dem japanisch-buddhistischen Kulturkreis verbundene Künstler, der sich als Person stets im Hintergrund hielt, keine Interviews gab und sich auch nicht fotografieren liess, erklärte, seine Bilder seien «eine Art Meditation, eine Übung, die nützlich ist, um sein Ich zu verlieren».
Roman Signers Zündschnur-Aktion
Roland Wäspe begleitet On Kawaras Zeit-Meditationen mit einer Arbeit Roman Signers (*1938), die seine «Aktion mit einer Zündschnur» (1989) dokumentiert: Mit einer Zündschnur markierte er den 20,06 km langen Weg von seinem Geburtsort Appenzell nach St. Gallen, den er während Jahren täglich mit der Bahn zurücklegte. Beim Abbrennen der Zündschnüre über die ganze Distanz kam es an den Verbindungen der einzelnen Teilstücke zu kleinen Explosionen. Die Aktion dauerte 35 Tage und stand im Zusammenhang mit der OLMA, deren Gastkanton Appenzell-Innerrhoden 1989 war. Ein Film Peter Liechtis hält die einzelnen Explosionen fest. In der Lokremise erinnern nun 200 zu einem Hügel gestapelte abgebrannte Zündschnurrollen an das Ereignis mit autobiographischem Hintergrund.
Es war insofern brisant, als gegen die Aktion heftige Proteste laut wurden und Signer – der einzige Schweizer Künstler mit Sprengmeisterpatent – sich eine Handverletzung zuzog. Auch in dieser Arbeit überlagern sich Bedeutungen ganz verschiedener Art. Zum erwähnten autobiographischen und emotional aufgeladenen Motiv kommt ein Bekenntnis zur existenziellen Dimension künstlerischer Arbeit, in der sich der Künstler in hohem Masse exponiert und mental oder gar physisch gefährdet.
Bethan Huws’ Ironie
Auf formaler Ebene ergibt sich eine Beziehung zwischen dem runden Stapel der Zündschnüre zur Architektur der Lokremise, zu den Kreisen, welche die Züge von Tatsuo Miyajiama ziehen, aber auch zu weiteren Ausstellungsobjekten – zum Beispiel zu «Reason (or Winter)» von Bethan Huws (*1961). Unter einer über einen Meter hohen Acrylglas-Halbkugel steht ein eigens für dieses Werk aus Porzellan hergestelltes übergrosses Urinal, wie es zur Ikone der Kunst Marcel Duchamps geworden ist. Es wird, wie ein kitschiges kleines Souvenir, in regelmässigen Abständen von Styropor-Flocken beschneit und damit auch verändert, und es dreht sich rasant um sich selbst. Auch diese Arbeit zeigt den ständigen und sich ständig verändernden Fluss der Zeit. Bethan Huws lässt aber einen wohltuend witzigen Schuss Ironie in den Ernst der Sache einfliessen.
Sinnfällig wird das Phänomen Zeit auch im Video «T(rain grande vitesse» von Aleksandra Signer (*1948). Die Künstlerin filmt während einer Fahrt durch den Regen das Fenster des TGV-Zuges: Aus der Richtung der Wassertropfen auf der Glasscheibe lässt sich das Tempo des Zuges ablesen: Bei Stillstand des Zugs fliessen sie gradlinig nach unten; beschleunigt sich die Fahrt, so ändert sich ihre Richtung bis hin zur Horizontale. Weitere in der Lokremise gezeigte Arbeiten stammen von Barbara Signer.
Zum Schluss ein weiteres Werk von Bethan Huws, diesmal eine der zahlreichen auch in St. Gallen mehrfach gezeigten und bekannten aphoristisch knappen und an Zwischentönen reichen Text-Arbeiten der Waliserin: «IF WE HAD ANY NOTION OF TIME, WE WOULDN’T HAVE CLOCKS» steht in weissen Lettern auf schwarzem Grund.
«On On Kawara» ist eine Ausstellung der leisen Töne. Sie setzt auf Vielschichtigkeit, auf Poesie, auf Wechsel und Überlagerungen der Motive. Sie ist spielerisch leichtfüssig, aber gleichzeitig – dem Thema der «Zeit» entsprechend – fordernd, denn auf die Schnelle finden die Besucherinnen und Besucher kaum mehr als einen oberflächlichen Zugang zur Komplexität eines Phänomens, das die Menschheit seit je begleitet und dessen Hintergründe auch die tiefsinnigste Philosophie nie zu erschliessen vermag. Auch die Kunst vermag das nicht leisten, doch sie kann, und das gelingt dieser Ausstellung, das Denken darüber in Gang setzt.
Roland Wäspes Abschied nach 30 Jahren
Mit der Sammlungsausstellung «On On Kawara» verabschiedet sich Roland Wäspe nach mehr als 30-jähriger Direktionszeit vom Kunstmuseum St. Gallen. Er wechselt am 1. November in den Ruhestand. 1989 trat der Kunsthistoriker, damals 32 Jahre alt, sein Amt an. Seine Dissertation galt dem Grafiker und Schöpfer von Daguerrotypien, dem St. Galler Johann Baptist Isenring (1796–1860). Wäspe folgte auf Rudolf Hanhart, der das Haus ebenfalls über 30 Jahre lang geleitet hatte. Zusammen mit seinem Team gab Wäspe dem Haus, das über eine vorzügliche Sammlung alter und brandneuer Kunst verfügt, ein klares Profil. Sein Interesse galt – neben der Pflege der Sammlung – vor allem der Gegenwartskunst. Seine Ausstellungsprogramme waren ein klares Bekenntnis zu einer kompromisslos qualitätsbezogenen und stets vielschichtigen Kunst, die ein reiches Feld an Assoziationen eröffnet. Wichtig war ihm eine Kunst, die auf klaren und oft strengen Konzepten beruht, die aber trotzdem eine sinnliche Wahrnehmungsfreude befriedigt. Gerade das macht Wäspes letzte Ausstellung «On On Kawara» in schöner Weise deutlich. Das belegen aber auch viele zufällig einer langen Liste entnommene Namen von Künstlerinnen und Künstlern, denen das St. Galler Kunstmuseum Gastrecht bot: Mona Hatoum, Greta Brătescu, Maria Lassnig, Roman Signer, Marcia Hafif, Simon Starling, Phyllida Barlow, Alicja Kwade, Erwin Wurm, Christoph Rütimann, Bethan Huws, Raoul de Keyser, Luc Tuymans.
In Roland Wäspes Amtszeit fällt auch eine wesentliche Sammlungserweiterung. 2006 konnte das Kunstmuseum St. Gallen zusammen mit dem Museum für Moderne Kunst in Frankfurt und dem Liechtensteiner Kunstmuseum in Vaduz die Sammlung Rolf Ricke mit bedeutenden Werken internationaler Gegenwartskunst kaufen. Der gemeinsame Erwerb durch die drei Häuser ist ein neues Beispiel länderübergreifender Museumszusammenarbeit.
Der Nachfolger Gianni Jetzer
Zum Nachfolger Roland Wäspes wählte die Stiftung Kunstmuseum St. Gallen den 52-jährigen Gianni Jetzer. Jetzer verfügt über mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung als Direktor und Kurator von Museumsausstellungen in Europa und Nordamerika. Nachdem er sich als Kurator am Migros Museum in Zürich einen Namen gemacht hatte, wurde er 2001 zum Direktor der Kunst Halle Sankt Gallen gewählt. Während seiner fünfjährigen Amtszeit schärfte er das Profil der Kunst Halle, realisierte einen Umbau und machte das Haus zu einer weitherum beachteten Institution. 2006 wurde er Direktor des Swiss Institutes in New York. Seit 2013 arbeitet Gianni Jetzer als unabhängiger Kurator für das Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington D.C. Von 2012 bis 2019 kuratierte er ausserdem die Art Unlimited der Kunstmesse Art Basel.
Jetzer übernimmt ein klar positioniertes Museum, das nicht auf lautstarke Events und nicht primär auf grosse Besucherzahlen setzt, dafür aber auf Kontinuität und hohe Ansprüche an die eigene Arbeit. Wichtig war der Museumscrew nicht zuletzt auch die respektvolle Zusammenarbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern. Die periphere Lage St. Gallens ist wohl mit ein Grund dafür, dass dem Haus gesamtschweizerisch nicht jenes Echo beschieden ist, das ihm zustehen würde. Vielleicht liegt das aber auch an den Ansprüchen, die das Museum nicht nur an die eigene Arbeit, sondern ebenso an ein mitdenkendes Publikum stellt.
Kunstmuseum St. Gallen: On On Kawara, bis 6. November
«KINOK – Cinema in der Lokremise St. Gallen» gestaltet als Begleitung zur Ausstellung im September ein Programm mit Filmen zum Thema Zeit