Von Annemarie Huber-Hotz*
Journal 21 stellt in dieser neuen Rubrik ausgewählten Personen aus Politik, Wissenschaft und Kultur «die Gretchenfrage» zu einem hintergründig aktuellen Problem. In der ersten Runde geht es darum, ob das Schweizer Modell der Demokratie an seine Grenzen stosse.
Mit der Gretchenfrage ist es so eine Sache: der Befragte soll zu einem Bekenntnis bewogen werden, das er bisher noch nicht klar abgegeben hat. Heinrich Faust, von Gretchen auf dem falschen Fuss erwischt, hat sich in Goethes Tragödie „Faust“ denn auch um eine klare Antwort nach seinem Verhältnis zur Religion „gedrückt“!
Im Gegensatz zu Faust will ich mich nicht um eine Antwort auf die mir gestellte Frage drücken, bin mir aber auch bewusst, dass die Antwort in diesem Rahmen nicht umfassend gegeben werden kann. Einige Gedankensplitter müssen genügen.
Ausgewogene Machtverteilung
Halten wir zuerst einmal fest: die Schweizer Demokratie und damit der sogenannte Volkswille wird von diverser Seite zur Religion hochgespielt, wahrscheinlich nicht immer aufgrund einer tiefen staatspolitischen Überzeugung und am Gesamtinteresse des Staates orientierten politischen Haltung. Ich halte von einer Übersteigerung des „Volkswillens“ nicht viel – ja ich finde sie sogar gefährlich. Zwar haben Volk und Stände gemäss unserer Verfassung oft den letzten Entscheid, der aber auch wieder hinterfragt und geändert werden kann.
Volk und Stände teilen sich die Oberste Gewalt im Bund mit der Bundesversammlung und weiteren staatlichen Institutionen. Die in der Bundesverfassung angelegte ausgewogene Kompetenz- und Aufgabenverteilung im Staat (vgl. die Titel 4 und 5 BV) sorgt dafür, dass alle, das Volk, die Kantone und die Behörden in die Verantwortung für Staat und Gesellschaft angemessen miteinbezogen sind und sich auch zu Sachfragen äussern können. Es scheint mir äusserst wichtig zu sein, dass sich vor allem das Parlament und die gewählten Volksvertreter/innen ihrer Verantwortung bewusst sind und diese nicht leichtfertig oder aus populistischen Gründen an die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger delegieren. Diese geniale Kompetenz- und Aufgabenverteilung zwischen den demokratischen Playern muss aber periodisch überprüft und neuen Herausforderungen an Staat und Gesellschaft angepasst werden mit dem Ziel, jederzeit sowohl ein effizientes staatliches Handeln zu ermöglichen als auch dessen Legitimität sicherstellen.
Missbrauch der Volksinitiativen
Eine Übersteigerung des „Volkswillens“ ist zudem gefährlich vor dem Hintergrund der nicht immer berauschenden Stimm- und Wahlbeteiligung und der in wichtigen Fragen doch sehr knappen Abstimmungsresultate. Wie immer man diese auch interpretiert, so ist doch darauf hinzuweisen, dass niemand ernsthaft sagen kann, welches die Beweggründe der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für ihr Ja oder Nein – eine differenzierte Stimmabgabe ist ja leider nicht möglich - oder für eine Stimmabstinenz sind! Die Frage muss erlaubt sein, ob eine Konzentration der Volksabstimmungen auf die wirklich wichtigen Fragen nicht im Sinne der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wäre?
Zu Recht stolz sind wir stolz auf die direktdemokratischen Instrumente Volksinitiative und Referendumsbegehren. Sie sind gedacht als Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, sei es um ein Anliegen aufzugreifen und den Behörden zur Prüfung zu übergeben (Volksinitiative) oder einen Entscheid von Bundesrat und Parlament einem Volksentscheid vorzulegen (Referendumsbegehren). Die in den Parlamenten vertretenen Parteien haben jederzeit die Möglichkeit, ihre Anliegen dort einzubringen. Was jedoch heute geschieht, ist eine Pervertierung der ursprünglichen Idee bei der Einführung der Volksinitiative und des Referendums. Heute werden diese Instrumente im Übermass auch von politischen Parteien für ihre PR und den Wahlkampf benutzt - und es werden grosse finanzielle Mittel dafür aufgewendet. Diese grosse Zahl von Volksinitiativen, mit denen die Institutionen zu kämpfen haben, tragen zur Überforderung der Demokratie und zur Blockade des Staates bei. Eine Reform der Volksrechte müsste diesen Sachverhalt mitberücksichtigen und es z.B. den in der Bundesversammlung vertretenen Parteien untersagen, Volksinitiativen und Referenden zu ergreifen oder zumindest diese Instrumente nicht für den Wahlkampf zu missbrauchen. Ich könnte mir vorstellen, dass dies zu einer Versachlichung und „Beruhigung“ unserer Demokratie beitragen könnte.
Abnehmende Kompromissfähigkeit
Die schweizerische Demokratie ist auf Dialog und Konsens angelegt. Alle Kulturen und Kräfte im Land, v.a. die Minderheiten, sollen miteinbezogen werden. „Wir haben das Privileg, uns gegenseitig verstehen zu müssen“, hat Bundesrat Alain Berset bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 12. März 2014 betont. Wenn wir von dieser guten demokratischen Kultur abweichen, droht uns ein erstarrter Staat. Leider mussten wir in den vergangen Jahren feststellen, dass in grossen und für die Zukunft des Landes wichtigen Fragen wie z.B. die Sicherung unserer Sozialwerke im Bundesparlament keine nachhaltigen Lösungen mehr gefunden werden konnten. Die Kompromissfähigkeit der politischen Parteien hat drastisch abgenommen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Kommen wir zur gestellten Gretchenfrage zurück, die ich zusammenfassend wie folgt beantworten möchte: Die Schweiz hat eine Musterdemokratie, auf die wir zu Recht stolz sein dürfen und die wesentlich zum Frieden und Wohlstand in unserem Land beigetragen hat. Aber wir sind sie nicht mehr! Wir nutzen das Privileg, sich verstehen zu müssen, zu wenig. Viele unserer politischen Akteure haben sich in den vergangenen Jahren zu stark von kurzfristigen, populistischen und medial wirksamen Zielsetzungen verführen lassen. Darunter gelitten haben die Kompromissfähigkeit für nachhaltige und breit abgestützte Lösungen von wichtigen Fragen sowie das Vertrauen in die staatlichen Behörden. Droht unser Staat deswegen zu erstarren?
Annemarie Huber-Hotz war 2000 bis 2007 Bundeskanzlerin und die erste Frau in diesem Amt. Sie ist Mitglied der Partei FDP.Die Liberalen.