Auskünfte eines ehemaligen russischen Forschers
Unbestritten ist, dass es sich bei dem chemische Kampfstoff Nowitschok um ein binäres Gift handelt, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt. Erst nach deren Zusammenführung wird die tödliche Wirkung aktiviert. Die Substanz wurde noch zu Sowjetzeiten in geheimen Forschungsinstituten entwickelt und dann ebenfalls geheim in grossen Mengen produziert. Dies bestätigt auch der heute 83-jährige Spezialist Wil Mirsajanow, der seinerzeit bei der Entwicklung des Kampfstoffes mitgewirkt hat und seit den späten 1990er Jahren in den USA lebt.
Mirsajanow hat dieser Tage in verschiedenen Interviews, unter anderen mit der regierungskritischen russischen Zeitung «Nowaja Gaseta», darauf hingewiesen, dass er in einem Buch die genaue Formel für die Zusammensetzung von Nowitschok publiziert habe. Er berichtet in diesem Gespräch auch, dass er mit dem Beginn von Gorbatschows Perestroika Zweifel am Sinn und an der fortlaufenden Produktion dieses Kampfstoffes bekommen habe. Wegen seiner politischen Proteste wurde er entlassen. 1992 wurde er verhaftet und wegen Verrats von Staatsgeheimnissen angeklagt.
Es kam jedoch zu keiner Verurteilung – nicht zuletzt durch ausländischen Druck. Mirsajanow ist überzeugt, dass trotz seiner Veröffentlichung der wissenschaftlichen Formel für Nowitschok dieses Nervengift unmöglich von nichtstaatlichen kriminellen Akteuren hergestellt werden könnte. Dazu brauche es hochkomplexe und aufwendige technische Einrichtungen.
Erinnerung an einen ähnlichen Mordfall in Moskau
Das bedeutet indessen nicht, dass die Existenz des hochgefährlichen Stoffes seit dem Untergang des Sowjetstaates (1991) und dem danach in Zusammenarbeit mit den USA durchgeführten Programm zur Vernichtung aller chemischen Kampfgifte restlos verschwunden wäre. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete dieser Tage, dass 1995 der russische Bankunternehmer Ivan Kivelidi und seine Sekretärin durch die Berührung mit einer Substanz umgekommen waren, die man am Telefonhörer ihres Moskauer Büros entdeckte. Das Untersuchungsverfahren ergab, dass ein Angestellter eines staatlichen chemischen Forschungsinstituts ein geheimes militärisches Nervengift über verschiedene Zwischenhändler an den Geschäftspartner des ermordeten Bankers geliefert hatte.
Das tödliche Gift stammte aus dem gleichen Institut, das auch den chemischen Kampfstoff Nowitschow entwickelt hatte. Ein russischer Anwalt namens Boris Kusnetzow, der damals an dem Prozess um die Ermordung Kivelidis beteiligt war, erklärte gegenüber der Agentur Reuters, er wäre bereit, seine Informationen aus dem damaligen Verfahren mit der britischen Regierung auszutauschen. Er glaube, dass diese Unterlagen für die Aufklärung über die Vergiftung Skripals nützlich sein könnten.
Kriminelle Geschäfte mit gefährlichen Materialien
Zwar geht aus diesen Angaben nicht hervor, ob im Moskauer Mordfall Kivelidis das Nervengift Nowitschok oder ein anderer chemischer Kampfstoff eingesetzt wurde. Doch zeigt dieser Fall, dass nach dem Zusammenbruch des Sowjetstaates und dem damit verbundenen Chaos solche Substanzen aus zuvor streng kontrollierten und absolut geheimen staatlichen Institutionen in den kriminellen Untergrund gelangten, wo sich ein reger Handel ausbreitete, bei dem viel Geld im Spiel war.
In jenen turbulenten Zeiten, die nicht zuletzt für unzählige sowjetische Wissenschafter den Verlust ihrer Arbeit und ihres beruflichen Einkommens bedeutete, waren solche dunklen Geschäfte mit gefährlichen Materialien aus staatlichen Beständen keineswegs eine Seltenheit. Dass dabei auch der russische Geheimdienst FSB (die Nachfolgeorganisation des sowjetischen KGB) oder einzelne seiner Mitarbeiter die Hand mit im Spiele hatten, geht unter anderem aus den britischen Ermittlungen zum Fall Litwinenko hervor.
Der Fall Litwinenko
Litwinenko, ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter, der sich wie Skripal als Doppelagent betätigte, war 2006 in London mit der radioaktiven Substanz Polonium getötet worden. Die britischen Untersuchungsbehörden sind überzeugt, dass Litwinenko von russischen Agenten mit dem radioaktiven Isotop Polonium kontaminiert wurde. Die russische Regierung hat solche Beschuldigungen stets kategorisch zurückgewiesen.
Auch im Vergiftungsfall Skripal, der die jetzigen schweren Spannungen zwischen London und Moskau hervorgerufen hat, stellt sich der Kreml auf den Standpunkt, dass man mit diesem rätselhaften Anschlag absolut nichts zu tun habe. Demgegenüber behauptet die Regierung von Teresa May, es sei das Putin-Regime, das die Verantwortung für die Vergiftung des Doppelagenten und seiner Tochter mit dem Kampfstoff Nowitschok trage.
Londons sparsame Auskünfte
Als skeptischer Beobachter fragt man sich, weshalb die Möglichkeit, dass hinter dieser Kriminalfall auch nichtstaatliche, mafiöse Täter und Interessen stehen könnten, in den bisherigen Verlautbarungen weder auf britischer noch auf russischer Seite näher erwogen wurde. Immerhin zeigt der oben erwähnte Fall des russischen Bankunternehmers Kevilidi, dass auch bei Abrechnungen mit geschäftlichem oder privatem Hintergrund solche gefährlichen Kampfstoffe eingesetzt werden.
Zwar kann man dagegen einwenden, dass der Doppelagent Skripal – er wurde nach seiner Verurteilung in Moskau 2010 gegen mehrere russische Spione, die im Westen verhaftet worden waren, ausgetauscht – wohl primär mit staatlichen Geheimdiensten in Verbindung stand. Doch solange die britische Regierung nicht nähere Details über seine aktuellen und vergangenen Verbindungen bekanntgibt, sind auch kriminell-mafiöse Zusammenhänge bei dem gegen Skripal und seine Tochter verübten Giftanschlag nicht auszuschliessen.
Moskaus mögliches Kalkül
Moskau wiederum hätte im Prinzip die Option, auf die Möglichkeit solcher nichtstaatlichen Akteure bei der Verwendung des Nervengifts Nowitschoks hinzuweisen. Das würde die Behauptung der Regierung May, dass für diesen Anschlag das Putin-Regime verantwortlich sei, zumindest bei einem Teil der westlichen Öffentlichkeit stärker in Frage stellen. Der Kreml hat auf diese Option bisher verzichtet – auch dafür sind Gründe denkbar.
Erstens könnten Hinweise auf den eventuellen Einsatz verbotener chemischer Kampfstoffe durch kriminelle Elemente als Eingeständnis verstanden werden, dass der in sowjetischer Zeit entwickelte Kampfstoff Nowitschok nicht vollständig vernichtet wurde und die russische Regierung keine volle Kontrolle über diese hochgefährliche chemische Substanz hat.
Mindestens so plausibel aber ist ein anderes Kalkül in Moskau. Am Sonntag finden in Russland Präsidentenwahlen statt. Jeder weiss, dass Putin zum vierten Mal zum Staatschef gewählt wird. Was die Machtelite dabei in erster Linie interessiert, ist die Höhe der Wahlbeteiligung – sie soll im In- und Ausland beweisen, dass die russischen Wähler trotz des vorhersehbaren Wahlsiegers mit Begeisterung und in dichten Scharen zur Urne strömen. Zur patriotischen Mobilisierung der Massen kann deshalb ein dröhnender Streit mit dem angeblich perfiden Albion und antirussischen Westen, wie er sich in diesen Tagen im Zusammenhang mit dem Giftanschlag gegen den Doppelagenten und Verräter Skripal abspielt, durchaus nützlich sein.
Allfällige Erwartungen, dass die Hintergründe und Zusammenhänge des hochgiftigen Anschlages von Salisbury je umfassend und eindeutig aufgeklärt werden, sollte man besser nicht zu hoch hängen. Allerdings könnte vielleicht der attackierte Doppelagent und seine Tochter etwas mehr Licht in die dunklen Ecken dieser verwickelten Geschichte bringen – falls sie den Kontakt mit dem mysteriösen Kampfstoff Nowitschok überleben.