Die Familie war arm, der Vater jähzornig. Der Sohn hatte mit sechs Monaten Kinderlähmung und humpelte seither. Zum Essen gab es Hafersuppe und Kartoffeln, „gelegentlich dazu ein Stück Brot“. Eier und Fleisch waren unbezahlbar.
Der Vater stirbt an Darmkrebs. Die Mutter kann ihre drei Buben nicht mehr ernähren. Ein Vormund betritt ihre Stube und holt die Kinder ab. „Ihr werdet verkostgeldet, die Mutter kann euch nicht ernähren.“ Sie schluchzt. „Sie haben mich gezwungen, mein Lohn reicht nicht einmal für Haushalt und Miete.“
Verdingbuben sind sie jetzt. Die Familie löst sich auf.
Gesoffen geprügelt, geschrien
Die Familienchronik beginnt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Schauplätze sind vor allem das Zürcher Unter- und Oberland sowie der Kanton Thurgau. Das Buch zeigt Erschreckendes, Dinge, die wir heute gerne verdrängen möchten. Es beschreibt, wie die Armen hin- und hergeschoben, erniedrigt und unterdrückt wurden.
Und es zeigt, zu welch traurigen Verhältnissen die Armut da und dort geführt hat. Bei den Bauernfamilien, bei denen die Kinder untergebracht werden, wird gesoffen, geprügelt und geschrien. „Wo warst du, du fauler Hund.“
„Er ist das Fressen nicht wert“
Fridli, später Fredi genannt, ist die Hauptfigur dieser Chronik. Da er wegen seiner Kinderlähmung hinkt, wird er verspottet, als „Hülpi“ bezeichnet. Als Verdingbub kommt er zu einem Bauern, der ihn ohrfeigt. Kleider werden selten gewechselt. „Es gab höchstens dreimal im Jahr eine grosse und dazwischen, wenn es nicht anders ging, eine kleine Wäsche.“
Einmal, eines Sonntags, gibt es Hasenbraten. Die Meisterin reicht auch Fredi ein Stück. Der Meister begehrt auf, was ihr einfalle, dem Hülpi ein ganzes Stück zu geben. „Er ist das Fressen nicht wert.“
Fredis Mutter ist verzweifelt. Die Buben sind weg. Sie heiratet einen zwanzig Jahre älteren Viehhändler und Bauern, den sie nicht mag, der ihr aber eine gewisse Sicherheit gibt. „Später will mich keiner mehr.“ Sie nimmt ihn, obwohl sie weiss, dass der verkniffene Bauer ihre Söhne hasst. Und er will sie, weil sie kochen, putzen und sparen kann. Fredi wird nicht zur Hochzeit eingeladen.
Interniert im Burghölzli
Er hätte Sattler werden wollen, wie sein Vater. Doch das verwehrt man ihm. Er sollte Bürstenmacher werden, was er nicht wollte. Als er einmal im Spital liegt, macht ihn ein Zimmergenosse mit der Theorie von Émile Coué, dem Begründer der modernen Autosuggestion, vertraut. Fortan redet er sich das Gute ein, was ihn stark macht. Ab und zu geht er ins Kino: Mata Hari, Laurel und Hardy.
Den Behörden passt das gar nicht. Er predige zweifelhafte Theorien. Die Coué-Methoden bezeichnen sie als schwarze Magie. Der Psychiater wirft ihm vor, undankbar zu sein, da man ihm die Möglichkeit biete, als Behinderter, der mindererwerbsfähig sei, etwas zu lernen. Man fragt ihn auch: „Bist du bei den Kommunisten?“. Jetzt wird er ins Bürghölzli eingeliefert, der psychiatrischen Klinik in Zürich. Im Bericht des Professors heisst es: „Er besucht regelmässig das Kino, liest schlechte Lektüre und gibt sich mit Hypnose und schwarzer Magie ab.“ Im Bürghölzli schläft er in einem langen Raum mit vielen Stahlrohrbetten auf beiden Längsseiten. Auf dem Nachttischlein liegt eine Bibel.
Endlich frei
Nach seiner Entlassung arbeitet er als Weber, später in einer Zwirnerei, Schichtarbeit: „90 Rappen pro Stunde, deutlich mehr als vorher.“ Die Wirtschaftskrise, der Schwarze Freitag, trifft die Armen ganz besonders. Immer wieder ziehen er, seine Brüder und Angehörigen um, immer wieder suchen sie eine neue Arbeit. Stationen sind unter anderem Flaach, Rüdlingen, Andelfingen, Eglisau, Dübendorf, Wetzikon, Amriswil, Wald, Hittnau, Pfäffikon, Dürstelen, Bauma und so weiter. Er arbeitet jetzt in einer Draht- und Gummifabrik. Dann wird er auf seinem Velo angefahren: vier Wochen Spital.
Die Nazis stehen vor der Tür. Jetzt ist Fredi 26 Jahre alt. Endlich fühlt er sich frei: kein Verdingbub mehr, kein Bürghölzli mehr. Mit dem Velo fährt er nach Marseille. Die schönen bürgerlichen Quartiere interessieren ihn nicht. Die Armut erschüttert ihn: so viel Jammer, so viele menschliche Ruinen, so viel schäbige Prostitution und Hoffnungslosigkeit.
„Du trinkst zu viel“
Nach seiner Rückkehr trifft er eine Frau, zwei Jahre jünger als er. Sie wird schwanger, sie heiraten. Das Neugeborene heisst Trudi. Es ist keine glückliche Ehe. „Du trinkst zu viel“, sagt er ihr. „Einmal Wein die Woche genügt.“
„Seit wann versorgst du die Teller dreckig“, wirft er ihr vor. „Das ist ja wie im Saustall.“ „Du Arschloch“, antwortet sie, „lass mich in Ruhe.“ Dann fliegt Gertrud, so heisst die Frau, durch die Küche. Fredi tut es leid. Sie wollen sich wieder versöhnen, geben sich kurz Mühe. Wieder wird sie schwanger. Das zweite Mädchen heisst Erika. Bald darauf die Scheidung.
„Fräulein Valsecchi“
Fredi lässt in der Zeitung „Die Nation“ ein Inserat erscheinen: „Gesucht: Eine liebe Lebenskameradin von sportlichem Mann, 36, als Mutter für meine zwei Töchter. Ich bin ein tüchtiger Arbeiter und wohne im Zürcher Oberland.“
In der Zwischenzeit hat Fredi von seinem Bruder das Sattlern, Matratzennähen und Polstern gelernt. Dann trifft er „Fräulein Valsecchi“, ein Dienstmädchen, das in Zürich arbeitet. Ihre Eltern stammen aus der Provinz Bergamo. Ihr Vater war als Maurer nach Altdorf gekommen. Mit Vornamen heisst Fräulein Valsecchi Angelina, Angie. Es funkt schnell bei beiden.
„Können Sie sich das leisten?“
Stellenwechsel, sie ziehen um. Fredi kauft ein Haus bei Pfäffikon, ein heruntergekommenes Anwesen. Angie ist bitter enttäuscht. Tagsüber arbeitet er in der Gummifabrik, am Abend näht er Matratzen. In jeder freien Minute versucht er, das Haus wohnbarer zu machen. Italienische Fremdarbeiter bringen ihm das Bauen bei. Dann eine Fehlgeburt. Ihre Ehe wird immer mehr zur Zweckgemeinschaft. „Für das Bauen hast du immer Zeit“, sagt Angie, „aber wenn ich etwas von dir wünsche, bist du gerade beschäftigt.“
Dann kommt ein Junge namens Hans Peter auf die Welt, später wieder eine Fehlgeburt. Die Armut nagt. Eines Tages erwarten sie Besuch. Angie will in der Molkerei etwas Besonderes kaufen. Die Ladenbesitzerin nennt den Preis und fragt laut, damit es alle im Laden hören können, ob sie sich das denn leisten könne. Angie kommt nach Hause, schluchzt und schämt sich.
„Die da oben“
Jetzt wird Fredis Mutter ins Altersheim „Blumenau“ gebracht. Es gefällt ihr nicht. Es riecht dort nach „Kohl, Schimmel, Pisse und alten Leuten.“
Fredi hat sich inzwischen längst selbstständig gemacht. Immer wieder bekommt er eine Wut „auf die da oben“. Als einmal das Gespräch auf das Thema Vaterland kommt, platzt ihm der Kragen: „Du weisst doch, wer vor ein paar Jahren an der Grenze stand, und wer, als es brenzlig wurde, im Mai 1940 mit Sack und Pack im vornehmen Auto in die Berge flüchtete, ins Reduit, fürs Vaterland. Dass ich nicht lache!“
Gefragt wird sie nicht
Einmal schläft Trudi, seine Tochter aus erster Ehe, im Konfirmandenunterricht ein. Der Pfarrer ohrfeigt sie. Die jetzt 18-Jährige ist nicht ganz so agil wie ihre Schwester. Sie wird in eine Schuhfabrik geschickt; gefragt wurde sie nicht.
Ein Nachbar sagt, sie lungere mit einem Jungen herum. Das genügt: Man schickt sie nach Walzenhausen im Kanton Appenzell in ein Heim der Heilsarmee, wo sie in einer Stickerei arbeiten muss. Später sagt Trudi, sie sei mit dem Jungen einmal im Kino gewesen. Und sie erzählt auch: Die Mutter hatte uns geschlagen und in den Keller gesperrt.
„Wir haben so schöne Träume gehabt“
Angie leidet an schwerer Arthritis. Und sie leidet darunter, dass ihr einziger Sohn rebellisch und wenig konformistisch ist. Die Ehe schläft immer mehr ein. Die Zärtlichkeit war ihnen abhanden gekommen. „Wir könnten versuchen“, sagt Angie, „mehr miteinander zu reden. Erinnerst Du dich, wir haben so schöne Träume gehabt. Ich war in den letzten fünfzehn Monaten viel allein. Mich dünkt, du seist zufrieden mit der Arbeit, dem Bauen, dem Sport und dem Garten. Manchmal denke ich, du brauchst mich gar nicht.“
1973 stirbt Angie. Hans Peter, jetzt Peter genannt, eröffnet ein Zeichnungs- und Konstruktionsbüro.
Sich selbst aus dem Dreck gezogen
Jetzt ist Fredi allein. Im November 1973 wäre seine Frau neunundfünfzig geworden. Den Geburtstag hatte er mehrmals vergessen, den Hochzeitstag ohnehin. Jetzt, nach ihrem Tod, denkt er daran.
Nach langer Trauerzeit liiert er sich mit Alice, einer Kassiererin im Coop. Sie ist acht Jahre jünger als er. Sie reisen, sie jasst viel. Fredi lässt sich nicht unterkriegen. Er ist jetzt einer, der sich selbst immer wieder „an den Haaren aus dem Dreck gezogen hat“.
Später sagt Fredi: „Ich bin hier, weil ich mich damals nicht umgebracht habe. Und wieso nicht? Das weiss ich selbst nicht. Vielleicht, weil ich immer wieder eine Riesenwut hatte auf die Bauern, die meine Pflegeväter hätten sein sollen und auf den Vormund.“
***
Peter Gisler, ein Personalberater und der Autor des Buchs, hatte lange Zeit nichts von der Vergangenheit seines Vaters gewusst. Er begann in den Archiven zu forschen und führte lange Gespräche mit Verwandten und Zeitgenossen.
Ein ergreifendes Buch, eloquent und farbig geschrieben. Sein Verdienst ist es, dass es anhand einer Familiengeschichte sehr dunkle, bedrückende Flecken in der Schweizer Geschichte beleuchtet. Erschreckend ist die Arroganz, die mangelnde Empathie und die Unfähigkeit von Ärzten, Psychiatern, ohrfeigenden Pfaffen und Behörden. Erschreckend ist es, wie man mit hilflosen, armen Menschen umgegangen ist. Wie sagte die Mutter von Fredi: „Die Behörden meinen, wir Armen seien an unserem Elend selbst schuld, und am Stammtisch werden wir als faules Gesindel bezeichnet.“
Traurig stimmt aber auch, mit welcher Gefühlskälte viele der Armen, der Verwahrlosten, getrieben von Not und Mief, miteinander umgegangen sind. Die Bauersleute arbeiten und arbeiten und haben sich kaum etwas zu sagen: „Man redet nicht viel miteinander, kaum mehr als mit den Tieren.“ Ein quälendes Sittengemälde. Und über allem steht ein geschundener, einst verspotteter Mann, ein Hinkebein, der nie aufgibt, immer wieder aufsteht und zufrieden stirbt.
Peter Gisler: Was bleibt – was geht. Von einem, der sein Leben ständig neu erfindet. Stämpfli Verlag 2020, 254 Seiten, ISBN 978—3-7272-6068-1