Ministerpräsident Enrico Letta steht vor seiner ersten grossen Herausforderung. Am Tag, als er in beiden Kammern die Vertrauensabstimmung gewann, kam es in mehreren Städten zu heftigen Ausschreitungen.
In Turin wurden Strassen blockiert, in Rom die Metro-Linie B eine Stunde lang besetzt und in Mailand stiessen Demonstranten und Polizisten zusammen. In Savona stürmte eine Gruppe Demonsrtranten in eine Buchhandlung und schrie: "Schliesst den Laden oder wir verbrennen die Bücher". Ein Führer der Revolte erklärte, die grossen Aktionen stünden erst noch bevor. Auch aus Genua werden Proteste gemeldet. Angelino Alfano, Vizeministerpräsident und Innenminister, erklärte, er werde mit harter Hand durchgreifen. „Ich werde es nicht zulassen, dass die Städte angezündet werden“.
"Viele versuchen auf den Zug aufzuspringen"
Die Demonstranten nennen sich „Forconi“ (Mistgabeln). Ihr „Movimento dei Forconi“ war im Januar letzten Jahres in Sizilien gegründet worden. Der Bürgerbewegung gehörten zunächst Autotransporteure, Fischer und Bauern an. Sie demonstrierten gegen ihre Arbeitsbedingungen und die hohen Treibstoffpreise.
Inzwischen haben sich der Bewegung Studenten, Arbeitslose, Strassenhändler, Immigranten und Rechtsextreme angeschlossen – und Ultras aus der Fussballszene.
Viele versuchen auf den Zug aufzuspringen und Kapital aus den Unruhen zu schlagen. Beppe Grillo, der Ex-Komiker und Anführer der Bewegung „5 Stelle“ hatte sich diese Woche auf Seiten der „Mistgabeln“ geschlagen und die Polizei aufgefordert, die politische Klasse in Rom nicht mehr zu unterstützen.
Handgemenge im Parlament
Dies trug ihm am Mittwoch eine harte Replik des sozialdemokratischen Regierungschefs ein. Letta beschuldigte Grillo , das Volk aufzuwiegeln und es zu Gewalt und Ungehorsam anzustiften. Damit würde Grillo „die Demokratie zerschmettern“.
Lettas Attacke gegen die „5 Sterne“ löste in der Abgeordnetenkammer eine wilde Reaktion der Grillo-Parlamentarier aus. Abgeordnete gingen aufeinander los; es kam zu einem Handgemenge. Italienische Politik – wie man sie kennt.
Die unverbesserliche Daniela
Doch nicht nur die „5 Sterne“ schlugen sich auf die Seite der Revoltierenden. Bereits haben sich einige Falken von Berlusconis Forza-Italia-Partei der Protestbewegung angeschlossen, unter ihnen die unverbesserliche Daniela Santanché. Sie war eine der treibenden Kräfte hinter dem aggressiven Kurs Berlusconis. Schliesslich war sie damit gescheitert. Wenn es im Parlament nicht reicht, so versucht man es eben auf der Strasse. Berlusconi selbst hatte ein Treffen mit den Revoltierenden vorerst abgesagt. „Ich will Polemik vermeiden“, sagte er.
Der Aufstand der „Forconi“ ist die erste grosse Bewährungsprobe der neuen italienischen Regierungskoalition. Sie hatte sich am Mittwoch in beiden Kammern der Vertrauensabstimmung unterzogen – und gewonnen.
"Neuer Anfang"
Die neue Mehrheit, über die Letta verfügt, ist zwar „weniger gross“, wie er sagt, „aber stabiler“ (meno larga ma più coesa). Vor allem hängt er nicht mehr am Gängelband Berlusconis.
„Ich bin da, um sie um das Vertrauen für einen neuen Anfang zu bitten“, erklärte der Regierungschef am Morgen. Italien sei bereit, neu zu starten. Er werde alles tun, damit Italien nicht erneut ins Chaos stürze – gerade jetzt, wo das Land dabei sei, sich zu erholen.
Letta war von Staatspräsident Giorgio Napolitano aufgefordert worden, die Vertrauensfrage zu stellen, nachdem Berlusconi und seine Anhänger aus der Regierung ausgetreten waren.
Neue Mitte-Rechts-Partei
Berlusconi hatte die Regierung Letta sieben Monate lang gestützt. Er war dann mit einem Putschversuch gescheitert. In der Folge spaltete sich seine Partei. Berlusconi gründete seine alte Partei „Forza Italia“ neu und ging mit ihr in die Opposition.
Über 60 Parlamentarier kehrten Berlusconi den Rücken und gründeten eine neue Partei: die „Neue Rechte Mitte“ (Nuovo Centrodestra, NCD). Angeführt wird sie vom früheren Ziehsohn Berlusconis, Angelino Alfano, dem Vizeministerpräsidenten und Innenminister.
Alfanos Nuovo Centrodestra ist mit Letta eine Koalitionsregierung eingegangen. Unterstützt wird sie auch von der Zentrumspartei Scelta Civica.
Die Wende innerhalb von anderthalb Jahren
In der grossen Kammer, im Abgeordnetenhaus, stimmten heute 379 Parlamentarier für die Regierung Letta, 212 dagegen. Im Senat erhielt Letta 173 Stimmen, 127 votierten gegen ihn. Neben Berlusconis „Forza Italia“ stimmte auch Beppe Grillos „5 Stelle“-Bewegung, sowie die Linksaussen-Partei „Sinistra, Ecologia, Libertà“ (SEL) gegen die Regierung.
Innerhalb von anderthalb Jahren will Letta eine Wende in Italien schaffen und eine „stärkere und solidere Demokratie mit funktionierenden Institutionen“ aufgleisen. Er will die Wirtschaft ankurbeln, ein neues Wahlgesetz schaffen, die finanzielle Unterstützung der Parteien abschaffen, das Staatsdefizit reduzieren – alles Themen, die er schon mehrmals angesprochen hat. Bisher hat er kaum etwas erreicht.
Begrenzter Spielraum
Auch wenn Letta jetzt den „neuen Anfang“ beschwört und er nicht mehr den Launen Berlusconis ausgesetzt ist – sein Spielraum bleibt beschränkt. Er ist auf Gedeih und Verderb Alfano und seiner „Neuen Rechten Mitte“ ausgeliefert.
Berlusconi hatte einmal gesagt, Letta werde von eigenen Leuten gestürzt werden. „Nicht ich werde Letta stürzen“, sagte Berlusconi, „sondern Matteo Renzi“.
Diese Gefahr scheint im Moment gebannt. Renzi, der Florentiner Bürgermeister, war am Wochenende bei einer Primärwahl der Linken, klar zum Parteichef des sozialdemokratischen „Partito Democratico“( PD) gewählt worden.
Renzi, der Shooting Star
Der 38-jährige Renzi ist zur Zeit – nach Staatspräsident Napolitano – der beliebteste Politiker Italiens. In seiner eigenen Partei ist der sehr rechts stehende Sozialdemokrat und frühere Christdemokrat allerdings weniger beliebt. Renzi hatte in jüngster Zeit Letta mehrmals frontal angegriffen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er ihn einst als Ministerpräsident beerben will. Im Moment scheint er eingesehen zu haben, dass die Zeit dazu noch nicht gekommen ist.
Letta und Renzi haben sich am Dienstag auf ein Regierungsprogramm geeinigt. Doch um im Gespräch zu bleiben, wird Renzi wohl mit Nadelstichen die Regierung Letta auf Trab halten und immer wieder herausfordern.
Alfano erklärte, das Land brauche jetzt Stabilität. Deshalb unterstützt er die Regierung. Doch auch er spekuliert damit, den linken Enrico Letta einst stürzen zu können, um selbst Ministerpräsident zu werden. Aber auch er sieht die Zeit noch nicht gekommen.
Hält die Regierung bis 2015?
Interessant wird nun sein, wie sich das rechte Parteienspektrum entwickelt. Werden weitere Parlamentarier Berlusconi den Rücken kehren und zur neuen NCD überlaufen? Kann Alfano seine Partei als starke Mitte-Rechts-Bewegung aufbauen? Wenn Ja, wird Berlusconi weiter geschwächt werden.
Beobachter in Rom rechnen damit, dass das jetzige Regierungsbündnis zwischen den Sozialdemokraten, der Alfano-Partei und der Zentrumspartei Scelta Civica bis weit ins nächste Jahr hinein halten wird. Vielleicht sogar bis 2015. Bis dann sollte ein neues Wahlgesetz ausgearbeitet sein. Dann wird es irgendwann Neuwahlen geben und dann werden die Karten neu gemischt.
Roberto Calderoli allerdings, ein chronischer Polterer und Querschläger der fremdenfeindlichen Lega Nord, gibt dem Ministerpräsidenten wenig Chancen. "Letta endet wie eine Katz auf der Via Aurelia", sagt er. Auf dieser Strasse werden Katzen oft überrfahren.
Keine raschen Neuwahlen
Doch sofortige Neuwahlen kann es jetzt nicht geben. Letzte Woche hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass das im Jahr 2005 von Berlusconi eingeführte Wahlgesetz verfassungswidrig sei. Jetzt muss ein neues Gesetz ausgearbeitet werden. Das kann lange dauern. Bis es steht, gibt es keine Neuwahlen.
Auch dieser Entscheid des Verfassungsgerichts ist ein Schlag für Berlusconi. Er, der Verurteilte, hatte gehofft, Neuwahlen gewinnen zu können und dann – trotz Verurteilung und Ausschluss aus dem Senat – wieder die erste Geige spielen zu können.
Kurzfristige Sorgen
Vorerst hat das Tandem Letta-Alfano kurzfristige Sorgen. Wie wird sich die „Mistgabel“-Bewegung entwickeln? Ist alles nur ein Strohfeuer? Oder gelingt es den Demonstranten, einen nachhaltigen Flächenbrand auszulösen? Dann könnte das neue Regierungsbündnis arg belastet werden.
Für den kommenden Dienstag hat die Regierung die Protestierenden zu einem Gespräch eingeladen. Vorerst geben sich die Revoltierenden noch überheblich. "Tutti a Roma", rief einer der Anfrüher. „Rom wird etwas erleben, was es noch nie erlebt hat.“ Daran glauben nur wenige.