„Nicht ich werde Enrico Letta stürzen“, sagte Silvio Berlusconi letztes Jahr. „Matteo Renzi wird das tun“. Renzi tat es.
Dem 39-jährigen Florentiner Bürgermeister ist es gelungen, seine Parteiführung davon zu überzeugen, dass Letta nicht der richtige Mann an der Spitze der Regierung ist.
„Der richtige Mann bin ich“. Mit dieser Botschaft sägt Renzi seit Wochen am Stuhl seines Parteikollegen Letta. Und ausgerechnet Silvio Berlusconi hat ihn dabei unterstützt.
Letta hatte zehn Monate lang regiert. Am Donnerstagabend nun hat ihn die Führung des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) weggeputscht und mit 116 zu 36 Stimmen Renzi zum Ministerpräsidenten vorgeschlagen.
Letta erklärte am Abend, er werde am Freitag dem Staatspräsidenten seinen Rücktritt einreichen.
Etwas seltsam mutet an, dass in einer europäischen Demokratie nicht das Parlament, sondern einige Parteiobereren entscheiden, wer das Land führen soll.
„Ein Verwalter, kein Macher“
Renzi, der neue Shooting Star Italiens, wirft Letta vor, die Probleme Italiens nicht energisch genug anzugehen. Er sei ein Verwalter, kein Macher. Auch Berlusconi stimmte dem zu. Dass er selbst die Probleme zwanzig Jahre lang nicht anging und nur an sich dachte, scheint vergessen.
Letta stand einer fragilen Koalitionsregierung vor. Zuerst wurde sie von Berlusconi unterstützt. Dann, nach einem gescheiterten Putsch des Cavaliere, spaltete sich das Mitte-Rechts-Bündnis. Berlusconi verliess die Regierung. Sein bisheriger Ziehsohn, Angelino Alfano, putschte gegen ihn, gründete eine eigene Formation und unterstützte die Regierung Letta.
Vielleicht allzu vorsichtig
Letta hätte vielleicht mehr erreichen können. Er ist kein Draufgänger, ein Charismatiker schon gar nicht. Vorsichtig, vielleicht allzu vorsichtig versuchte er, das Land an ein besseres Ufer zu steuern.
Sein Koalitionsbündnis stand von Anfang an auf schwachen Füssen. Allen musste er es recht machen. Um das Land endlich wieder aufzurichten, bräuchte es schmerzhafte Konzessionen der Linken und der Rechten, der Gewerkschaften und der Arbeitgeber – und der Politkaste. Kaum jemand war zu Abstrichen bereit.
Der beliebteste Politiker
Dass Matteo Renzi nicht nur an Italien denkt, wie er sagt, sondern auch an sich, ist kein Geheimnis. Sein Ehrgeiz ist unbezähmbar. Im vergangenen Dezember war er in einer Urabstimmung zum Parteiführer (Segretario) der Sozialdemokraten gewählt worden. Viele Italiener sehen in ihm einen neuen, frischen Mann, der den italienischen Karren endlich aus dem Morast zieht.
Renzi ist in Meinungsumfragen zurzeit der beliebteste italienische Politiker. Frech hat er immer wieder seinem Parteikollegen Letta das Leben zur Hölle gemacht.
Im Schatten von Letta führte er eine Art Gegenregierung. Zusammen mit Silvio Berlusconi arbeitete er an einem neuen Wahlgesetz. Eigentlich wäre es Aufgabe des Ministerpräsidenten, solche Gesetze auszuarbeiten.
Schmusekurs mit Berlusconi
Sein Treffen mit Berlusconi im Januar hat zwar viele erschreckt, doch geschadet hat es Renzi offenbar nicht. Da traf der junge Sozialdemokrat mit einem rechtmässig verurteilten Steuerbetrüger zusammen – ein Betrüger, dem die Linke zwanzig Jahre lang den Krieg erklärt hatte. Strahlend präsentierten sich beide den Journalisten. Für Berlusconi, den Geächteten und Davongejagten, war das eine Art Rehabilitierung – zumindest eine Genugtuung. Und ausgerechnet ein Sozialdemokrat erwies ihm diese Gunst.
Die beiden standen sich schon länger nahe. 2010 war Renzi nach Mailand gefahren und hatte Berlusconi in seiner Villa San Martino in Arcore besucht. Schon 2012 hatte Renzi versucht, Parteichef der Sozialdemokraten zu werden. Er unterlag dem damaligen Parteichef Pierluigi Bersani um Längen (61 Prozent für Bersani). Doch kein geringerer als Berlusconi hatte sich für Renzi stark gemacht. „Renzi ist ein Macher wie ich“, erklärte Berlusconi. Dieser Schmusekurs stösst nicht nur älteren Sozialdemokraten sauer auf.
Lettas letztes Aufbäumen
Noch am Mittwoch hatte sich Letta gewehrt. „Er soll mir sagen, wenn er meinen Posten will, ich bin entspannt und konzentriere mich auf die Regierungsgeschäfte (‚sono Zen‘).“ Zuvor hatte Letta mit Renzi konferiert und einen „offenen Meinungsaustausch“ geführt – was wenig verheissungsvoll klingt.
Letta versuchte, sich noch aufzubäumen. Er wolle mit 30 Milliarden Euro die Wirtschaft ankurbeln. „Jetzt, wo sich das Land beginnt, wieder aufzurichten, wäre es falsch, die Regierung zu wechseln“, sagte er. Das Aufbäumen kam zu spät. Nachdem sich dann auch der Arbeitgeberverband Confindustria gegen ihn ausgesprochen hatte, waren die Würfel gefallen.
Populistische Sauce
Nun steht Renzi, der Jurist aus Rignano, einem Städtchen im Arno-Tal zwischen Florenz und Arezzo, ganz oben. Er ist verheiratet mit einer Mittelschullehrerin und hat drei Kinder.
Jetzt muss er zeigen, was er kann. Immer wieder hiess es, er sei der neue Tony Blair mit seinem New Labour. Andere werfen ihm vor, er sei der neue Berlusconi, der vor allem an seine Karriere denke. Seine politischen Attacken jedenfalls waren nicht immer frei von populistischer Sauce.
Zu den brennenden Problemen, die Italien drücken, hat sich Renzi kaum geäussert. Es ging ihm einzig um eine Wahlreform. Diese soll Italien stabilere politische Verhältnisse bringen. Eine starke Regierung könne dann die dringenden Probleme effektiver angehen. Sagt Renzi.
Alles, was im Volk ankommt
Soweit, so gut. Nur: Dass sich ein Anwärter auf den Posten des Ministerpräsidenten kaum dazu äussert, wie Italiens gravierende Strukturprobleme zu lösen wären, erstaunt.
Renzi war früher – wie Enrico Letta – Mitglied einer christdemokratischen Splitterpartei. Schon früh unterstützte er den Linken Romano Prodi. Renzi und Letta wurden dann in der sozialdemokratischen Sammelbewegung, dem Partito Democratico, integriert.
Ideologisch ist Renzi heute kaum einzuordnen. Er ist alles – zumindest alles, was im Volk ankommt. Letta war kein Blender, Renzi muss jetzt zeigen, dass er keiner ist.
Italien liebt starke Männer
Er ist schlau, er kann angreifen und einlullen. Vielleicht schafft er es. Die Italiener lieben starke, redegewandte Männer.
Am Mittwoch, am Vortag seines Triumphs, fuhr er mit einem verbeulten, blau-weissen Smart mediengerecht durch die Strassen von Rom – gefolgt von Kamerateams auf Motorrädern. Ein Journalist rief ihm zu: „Öffne das Fenster, Matteo, wir wollen eine Foto von dir, wir nennen dich Parteichef/Ministerpräsident“. Renzi strahlte.
Am Donnerstagnachmittag hatte Letta aufgegeben. Mit dem Dolch seiner eigenen Parteifreunde im Rücken annullierte er eine geplante Reise nach London. An der Sitzung, an der es um sein Schicksal ging, nahm er nicht mehr teil. Dass man „mit Gelassenheit entscheide“, sagte er. So wurde denn ein Regierungschef gestürzt, ohne dass er eine Wahl oder eine Vertrauensabstimmung verloren hatte.
Es ist anzunehmen, dass Berlusconi eine Regierung Renzi unterstützt – zumindest eine Zeit lang. Und vielleicht holt Renzi einige Berlusconianer in sein Boot.
„Verschrotter“ oder „Knäblein“?
Werden Renzi und sein Team die Kraft haben, den aufgeblasenen Politbetrieb abzubauen und die lächerliche Bürokratie zu stutzen? Werden sie den Mut haben, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und die groteske Überregulierung zu kippen? Renzi selbst nannte sich „rottamatore“ – der Verschrotter alter Ideen. Wird er ein Verschrotter sein? Andere nennen ihn „il ragazzetto“, das Knäblein.
Seit Wochen hatte Renzi Neuwahlen verlangt. Jetzt hat er Letta in die Knie gezwungen. Und nun, am Donnerstag, sagt Renzi: „Die Bedingungen für Neuwahlen sind nicht erfüllt“. Doch da wird Berlusconi ein Wort mitreden. In Rom spricht man davon, dass - nach einer Wahlrechtsreform - im Mai Neuwahlen stattfinden könnten.
Natürlich muss eine Renzi-Regierung vom Parlament abgesegnet werden. Ob Angelino Alfano, der abgesprungene Vertraute von Berlusconi, die neue Crew weiter unterstützt, ist unklar. Aber vielleicht springt ja dann Berlusconi in die Bresche.
Renzi hat Politerfahrung in Florenz, der Hauptstadt der Toskana. Aber in Rom war er bisher eine kleine Nummer. Er verfügt nicht einmal über einen Sitz im Parlament. Der durchtriebene, mit allen Wassern gewaschene und (teils) geschmierte Römer Politbetrieb ist ein anderes Pflaster als die gemächliche Toskana.
Jeder soll eine Chance haben, auch Renzi. Italien hat demnächst die 65. Nachkriegsregierung.