„Gott ist in Jesus von Nazareth Mensch geworden.“ Dies eine stehende Formel nicht nur für die genuine Bedeutung von Weihnachten, sondern für Sinn und Gehalt des christlichen Glaubens überhaupt. Das Johannesevangelium spitzt noch zu, indem es in seinem Prolog statuiert: „Das Wort wurde Fleisch.“ Decodiert und in eine heute näherliegende Begrifflichkeit transferiert heisst das etwa: Das Göttliche, Geistige wurde menschlicher Leib, physisches Dasein.
Kern des Christentums
Mit der Kernaussage vom menschgewordenen Gott hat das Christentum immer wieder für Befremden gesorgt. Doch genau aus diesem Paradox kommt seine Dynamik, lebt seine Kultur und resultiert sein Überschuss an Sinn. Natürlich hätte die in einer entlegenen römischen Provinz ums Jahr 30 aufflackernde religiöse Bewegung mit einer so abstrakten Formel wie jener von der Menschwerdung Gottes niemals sich nennenswert ausbreiten und nach knapp drei Jahrhunderten gar zur römischen Staatsreligion aufsteigen können. Was die christliche Botschaft bedeutete, wurde vielmehr in Geschichten vermittelt, die keine dogmatischen Lehrsätze benötigen. Die wohlbekannten Weihnachtserzählungen sind Beispiele dieser spontan erfassbaren narrativen Theologie.
Wer jedoch hinter die Erzählungen schauen will, kommt an dem geheimnisvollen Paradox des Johannes-Prologs nicht vorbei. Es dient dem Verständnis, den steilen Satz von der Fleischwerdung des Wortes, beziehungsweise der Menschwerdung Gottes zunächst in seinem historischen Kontext zu sehen. Gemeint war eine Zurückweisung bestimmter in der Spätantike kursierender religiöser Ideen, welche die reale physische Welt radikal abwerteten. Die später als „Gnosis“ (griechisch für „Erkenntnis“) bezeichnete Strömung spaltete das Seiende in die gegensätzlichen Sphären des Geistigen und des Materiellen, wobei erstere für das Gute, letztere für das Böse stand. Verschiedene Varianten dieses Dualismus zogen sich während Jahrhunderten durch religiöse und philosophische Lehren.
Zur gnostischen Weltverachtung war die Aussage „Das Wort wurde Fleisch“ die pointierte Gegenthese. Gott, so sagt sie, ist Mensch geworden, und deshalb gibt es keine rigide Scheidung von Geistigem und Weltlichem. Und weiter: Die reale Lebenswelt ist nicht von vornherein der Sphäre des Bösen zugehörig, und deshalb kann das menschliche Tun und Lassen nicht als letztlich bedeutungslos hingestellt werden.
Modell von Menschlichkeit
Die Vorstellung, in Jesus sei Gott Mensch geworden, setzt vor das Leben dieser besonderen Person ein Vorzeichen. Es drückt aus, dass Gott sich mit Jesus identifiziert. Erzählende Deutungen von Jesu Leben und Sterben – die Evangelien – lasen die göttliche Identifikation an den überlieferten Geschichten und Worten des Rabbi von Nazareth ab.
Die Evangelien zeigen Jesus in doppelter Beleuchtung: einerseits als den in der jüdischen Tradition als endzeitlichen Erlöser erwarteten Messias, andererseits als das Modell wahrer Menschlichkeit. In diesem Licht erscheint Jesus als Erinnerung daran, wie das Menschsein vom Schöpfergedanken her grundsätzlich gemeint ist, nämlich als „Ebenbild Gottes“ oder als ein „Sein fast wie Gott“.
Eine von der Jesusfigur inspirierte Idee von Menschlichkeit hat dem viel später formulierten Konzept der unantastbaren Menschenwürde seine religiöse Fundierung verliehen. Auf eine solche Vision der Humanität laufen die Geschichten der Bibel zu. Dramatischer Kulminationspunkt ist die Passion Jesu, dessen Leiden und Sterben als Exempel der Menschenwürde dastehen. Die von Gott gemeinte Qualität des Menschlichen wird tödlich negiert – und gerade in dieser Umkehrung bestätigt. Denn die Hinrichtung des wahrhaft Unschuldigen war ein Zeichen. Die Nachfolger des Gekreuzigten lernten es zu deuten: Jesus opferte sich für die Intention von Gottes Schöpfung. In diesem Akt stellte er die von ihm verkörperte Wahrheit über jene Negation, die ihn ans Kreuz brachte.
Verletzungen sind nie partiell
Jesu Leidensgeschichte bestätigt, dass jede Verletzung der Menschlichkeit am Ende eine Verletzung von Leib und Leben ist. Das Unmenschliche ist in seiner Konsequenz stets physisch, selbst wenn es sich zunächst „nur“ als geistige Herabsetzung äussert. Gewalt gegen Menschen ist in ihren Auswirkungen seelischer, leiblicher, sozialer, materieller, existentieller Natur. Darin zeigt sich die dunkle Seite der Tatsache, dass die reale Welt weder vom Geist getrennt noch gleichgültig ist. Jede bewusste Ängstigung, Bedrängung, Ablehnung, Diskriminierung ist letztlich die Drohung mit der Vernichtung. Verletzungen von Menschlichkeit und Menschenrecht sind in ihrer Wirkung nie partiell, sondern stets total.
Die #MeToo-Bewegung lenkt endlich die Aufmerksamkeit auf die weitverbreitete Negation von (vor allem) Frauenrechten. Sie thematisiert, dass männliche Superioritäts-Phantasmen Frauen in ihrer Menschenwürde und in ihren Rechten beeinträchtigen und dass solche Verletzungen im beschriebenen Sinn totalen Charakter haben. Es gibt keine Herabsetzung, die „nur im Denken“ wirkt. Jegliche derartige Verletzung zielt in letzter Konsequenz auf die leibliche, soziale, materielle Existenz. Und genauso gibt es keine begrenzten oder harmlosen Übergriffe, denn sie sind immer Verletzungen von Gefühl, Identität, Selbstwert, Status und nicht zuletzt des Rechts der attackierten Person.
Ernst machen mit der Menschenwürde
#MeToo hat das Verdienst, diese Zusammenhänge sichtbar gemacht und mit dem nötigen Druck zur Diskussion gestellt zu haben. Die menschliche Würde jeder Frau und jedes Mannes setzt eine unbedrängte und respektierte Position voraus, in der es Freiräume gibt und selbstbestimmtes Leben. Sexuelle Übergriffe sind selbstverständlich bei weitem nicht die einzigen Vergehen und Verbrechen gegen die Menschenwürde. Aber es sind, wie nun deutlich wird, erschreckend alltägliche und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung allzu lange skandalös verharmloste Verletzungen. Es ist Zeit, sie aufzudecken und mit der Idee der Menschenwürde im Alltag Ernst zu machen.
Die Geburt Jesu ist in den biblischen Erzählungen verknüpft mit Bildern der Gefährdung und Verletzlichkeit. Lokalisiert ist das Weihnachtsgeschehen unter der Herrschaft eines Despoten, der von der Ankunft eines künftigen Rivalen in Bethlehem gehört hat und deshalb dort vorsorglich die neugeborenen Kinder umbringen lässt. Die Krippe ist erst in nachträglicher Verkitschung zur rührenden Szenerie geworden. Im Lukasevangelium ist sie der Unort einer schutzlosen Geburt. Matthäus erzählt sodann, wie Eltern und Kind vor dem Tyrannen fliehen müssen. Die Menschwerdung Gottes geschieht unter Todesdrohung, Ausgrenzung und Vertreibung. Sie unterliegt – darum geht es den Erzählungen der Evangelien – den realen Bedingungen menschlichen Lebens.
Menschenwürde ist keine abgehobene Idee, sondern ein Aktionsprogramm, das in diese Bedingungen eingreifen will. Seit es sie gibt, hat die Weihnachtsgeschichte den Blick auf die Ausgegrenzten und ihrer Würde Beraubten gelenkt. Im Jahr, in dem die #MeToo-Bewegung entstanden ist, geht es dabei nicht mehr nur um die Ränder der Gesellschaft, sondern ihre Mitte. Das dort angelaufene Aktionsprogramm kämpft im Alltag für die Würde jedes einzelnen Menschen. #MeToo ist erst ein Anfang.