«Diversity» steht als Motto auf den Programmen von Lucerne Festival: Ein hochpolitisches und zugleich hochaktuelles Thema. Einfach ist es für niemanden.
«Wir setzen klare Akzente auf People of Colour und wollen hinterfragen, warum bis heute so wenige von ihnen in der Welt der klassischen Musik in Erscheinung treten»: So Michael Haefliger, Intendant von Lucerne Festival, im Interview mit Christian Wildhagen in der NZZ-Beilage zum Festival. So einfach ist das also.
Nein. Einfach ist es nie, wenn es um Diversität, Identität, Hautfarbe, Geschlecht – wenn es um was auch immer geht, was die Menschen eher trennt als eint. Selbst völlig unverdächtige Betroffene sind skeptisch, zum Beispiel Tyshawn Sorey, Afroamerikaner, 1980 geboren, ein Multitalent, gleichzeitig Instrumentalist, Dirigent und Komponist und eingeladen als «artiste étoile» zum bedeutendsten Festival klassischer Musik wohl nicht nur in der Schweiz.
Sorey findet, nicht nur in den Konzertsälen, sondern auch im Management und an den Schaltstellen des Musikbetriebes seien People of Colour untervertreten oder gar nicht sichtbar. Trotzdem aber wendet er sich, so in der erwähnten NZZ-Beilage zu lesen, gegen das Festival-Motto. Seine Hautfarbe habe doch nichts mit seiner Musik zu tun. Da schliesst sich bereits eine erste Frage an. Im Hinterkopf droht der Verdacht: Werden schwarze Künstler, schwarze Künstlerinnen eingeladen wegen ihrer Musik oder wegen ihrer Hautfarbe und Haartracht? Dienen sie als Alibi, geeignet, den Ruf der Mächtigen im Kulturbetrieb aufzupolieren, die es mit der Diversität doch nicht ganz meinen?
«Immer der ganze Mensch»
Die Fragestellung ist banal und seit Jahrzehnten so virulent, dass sie überflüssig sein müsste. Schon vor knapp 50 Jahren sagte Meret Oppenheim in ihrer Rede zum Kulturpreis der Stadt Basel (Januar 1975) – und sie meinte nicht nur «ihre» bildende Kunst, sondern jede künstlerische Äusserung: «Aus einem grossen Werk der Dichtung, der Kunst, der Musik, der Philosophie spricht immer der ganze Mensch. Und dieser ist sowohl männlich als weiblich.»
Das liesse sich auf die Hautfarbe übertragen. Auch was Birgit Schmid in ihrer NZZ-Kolumne «In jeder Beziehung» (30. Juli) im Zusammenhang mit dem Frauenfussball meint, hat über den Sport und über die Geschlechterdiskussion hinaus Geltung: «Sobald Frauen gehypt werden, bloss weil sie Frauen sind, findet man sich selbst als Frau nicht ernst genommen. Die Berichterstattung – mehrheitlich von Männern – ist so wohlwollend-hoffnungsvoll, dass man meinen könnte, es gehe um Entwicklungshilfe.»
Was will ich als weisser und nicht mehr junger Mann dazu sagen? Mir gehen die spezifischen Erfahrungen ab. Ich musste mich nie als Angehöriger einer Minderheit einer übermächtigen und bestimmenden Mehrheit ausgesetzt fühlen. Wenn ich einmal in diese Lage kam, war es harmlos, von kurzer Dauer oder amüsant.
Ein Beispiel: In Mataram, der Hauptstadt der indonesischen Insel Lombok, nahmen wir, ein weisses Paar, in Begleitung eines Freundes an einem Volksfest mit Hunderten von Einheimischen teil. Ich wurde, für die Teilnehmer wohl ein Exot, von einer zierlichen Tänzerin ins Scheinwerferlicht geführt und zum für mich exotischen Tanz gebeten. Tags zuvor sahen wir uns auf einer Wanderung durch die Reisfelder plötzlich von Dutzenden wild schreiender Kinder umringt: Für sie waren wir offensichtlich Exoten.
Die Erwähnung eines solchen Erlebnisses ist ein Fettnäpfchen: Das Erlebte ist, selbst wenn die Kinder Steine in den Händen hatten, nicht zu vergleichen mit Rassismus-Erfahrungen irgendwelcher Art. Ich hätte wohl schweigen müssen.
People of Colour auf den Opernbühnen
Da wäre auch der Hinweis auf die starke Präsenz von People of Colour auf den Opernbühnen – auf Beispiele wie die Primadonna Assoluta Jessy Norman (1945–2019), auf Grace Bumbry (*1937, berühmt geworden als schwarze «Tannhäuser»-Venus in Bayreuth), auf die lange Wiener Staatsopern-Karriere von Reri Grist (*1932), auf Faye Robinson (*1943), die schwarze Konstanze in Ruth Berghaus‘ skandalisierter Inszenierung der «Entführung» in Frankfurt (1981), auf Leontyne Price (*1927, die erste schwarze Opern-Diva), auf Marian Andersen (1897–1993), die Bruno Walter 1936 in Wien für Brahms’ Alt-Rhapsodie engagierte. Für diese Tat erhielt Walter allerdings Morddrohungen.
Und die afroamerikanische Komponistin Florence Price (1887–1953) sah sich gegenüber dem Dirigenten Serge Koussevitzky zur längst berühmt gewordenen Feststellung genötigt: «Ich bin eine Frau und habe schwarzes Blut in den Adern.» Auch schwarze Musikerinnen und Musiker haben Erfolg und können sich im von Weissen dominierten klassischen Musikgeschäft durchsetzen. Ist Diversität also erreicht? Zu bedenken ist: Sie setzen sich unter sehr erschwerten Bedingungen durch. Wohl gab und gibt es die People of Coulour im Konzertbetrieb, aber trotz grosser Namen bis heute in zu geringer Zahl und nicht an den Schalthebeln der Macht.
Benachteiligungen, aber nicht nur
Wie treffend ist der Hinweis, dass in Europa eben nur wenige Schwarze in klassikaffinem Umfeld aufwuchsen und sozialisiert wurden und dass sie darum in unseren Orchestern, in Konzerten als Solistinnen und auf den Opernbühnen selten anzutreffen sind? Verlasse ich mit der Frage das Feld der Political Correctness? Das Fragen nach den Gründen, die zu diesem Umstand führen, müsste erlaubt sein: Sind es ungleiche Bildungschancen? Sind die Gründe finanzieller Natur? Sind es schlicht andere Interessen? Oder tatsächlich Benachteiligungen?
Der 23-jährige britische Cellist Sheku Kanneh-Mason, dessen Eltern aus Antigua und Sierra Leone kommen, ist das Beispiel eines farbigen Musikers.
Der Vater ist Hotel-Manager, die Mutter unterrichtete an der Universität von Birmingham. Auch seine Geschwister sind Musikerinnen und Musiker. Er genoss die Ausbildung an prominentesten Musikhochschulen und spielt in Konzertsälen rund um die Welt. Sein Auftritt an der Hochzeit von Meghan und Prinz Harry verschaffte ihm eine weltweite Fernseh-Präsenz. Ihm steht ein kostbares Cello von Matteo Gofriller (1659–1742) zur Verfügung. Da ist offenbar nichts von Benachteiligung zu spüren. (Von jenen, die wirklich benachteiligt sind, haben wir und wohl auch Festivals wie jenes von Luzern kaum Kenntnis.)
Diversität als Trend?
Sheku Kanneh-Manson ist sicher eine Ausnahme, aber sie zeigt: Auch People of Colour machen Kariere, wenn die künstlerische Qualität und die konkreten Umstände es gestatten. Bei anderen der farbigen Musikerinnen und Musiker, die dieses Jahr am Lucerne Festival auftreten, verhält es sich ähnlich – zum Beispiel bei der international erfolgreichen südafrikanischen Sopranistin Golda Schultz (Bild siehe oben), diesjährige «artiste étoile» und beim erwähnten afroamerikanischen Multitalent Tyshawn Sorey.
Auch die Kontrabassistin Chi-Chi Nwanoku und die Dirigentin Glass Marcano sind im klassischen Musikbetrieb gefestigt oder auf dem besten Weg zur Festigung. Nwanoku unterrichtet an der Royal Academy of Music in London, die 27-jährige Marcano hat viel Dirigiererfahrungen in Venezuela und in Frankreich vorzuweisen. Auch der südafrikanische Cellist Abel Selaocoe, Grenzgänger zwischen Klassik und Jazz, den das Festival zu einem Debut-Auftritt einlud, spielte im Conzertgebouw, in der Elbphilharmonie und an den Proms in London. Er hat einen Vertrag mit dem höchst etablierten Label Warner Classics in der Tasche. Die Reihe liesse sich fortsetzen.
Lucerne Festival betritt mit dem Motto «Diversity» also nicht völliges Neuland, sondern kann – und muss wohl auch, sofern es dieses Feld beackern will – auf anderweitig gemachte Entdeckungen, auf entsprechende Netzwerke und auch auf einen spezialisierten Markt zurückgreifen. Vielleicht will das Festival mit dem Thema Diversität nach einem Trend mit Zukunftschancen greifen. Da mag sich auch eine bewusst eingesetzte Marketing-Strategie oder die Suche nach Schärfung des eigenen Profils zeigen. Widerspricht das Nachdenken über solche Zusammenhänge, die sich auch in anderen Kulturbereichen manifestieren, in der bildenden Kunst zum Beispiel, bereits der Policital Correctness?
Motto für Insider?
Schliesslich: Wie steht es um die Wirkung des Festival-Mottos wie «Diversity»? Bei aller hehren Absicht, Benachteiligten zu einem Forum zu verhelfen, und bei allem ehrlichen Bemühen des Festivals um ein kulturpolitisches Gesicht und um eine Öffnung hin auf Neues und bei allem Willen, auf gesellschaftspolitische Aktualitäten angemessen zu reagieren, wird man davon ausgehen müssen, dass die Mehrheit des Publikums sich schon aus finanziellen Gründen auf den Besuch einiger weniger Konzerte konzentriert und dass populäre Programme mit bekannten Werken und mit prominenten Interpreten bevorzugt gebucht werden.
Ein so komplexes Motto wie «Diversity» wird also – und das gilt nicht nur für Luzern – wohl nur von einem eher kleinen Teil der Besucher wirklich wahrgenommen und auch in seiner ganzen Tragweite reflektiert. Ist «Diversity» damit ein Thema für Insider wie Kritikerinnen und Kritiker oder Agenten, die, im Gegensatz zu Normalbesuchern, zu Mehrfachbuchungen eingeladen werden? Nicht nur, denn das Festival schafft, mindestens vor Ort, vor allem über seine Medienpräsenz dem Thema eine breitere Öffentlichkeit auch über den Konzertbesuch hinaus.
So einfach und selbstverständlich, wie es anfänglich scheint, ist der Umgang mit dem Festival-Motto «Diversity» jedenfalls nicht. Wer sich dazu äussern will, verlässt rasch und unbesehen gesicherte Argumente, findet sich in einem Minenfeld und gerät ins Abseits und in den Strudel von Widersprüchen. Das kann positiv sein, denn das Thema ist von kulturpolitischer Brisanz. Bei aller Skepsis lohnt sich die Auseinandersetzung darüber. Dass das geschehen kann, ist ein Verdienst des Lucerne Festivals.
Das Lucerne Festival Sommer 2022 dauert vom 8. August bis zum 11. September.