Der gewaltsame Tod der 22-jährigen Mahsa Amini hat etwas geschafft, das die gesamte Opposition während der 43 Jahre dauernden Herrschaft der Ayatollahs im Iran nicht bewirken konnte: Beinahe das gesamte iranische Volk ist in einem Punkt einig, die Regimeanhänger sind gespalten.
Von Parvin Irani*
Auf ihrem Grab steht: Du bist nicht gestorben, dein Name wird ein Code sein. Er ist schon jetzt mehr als ein Code. #MahsaAmini wurde am vergangenen Mittwoch mehr als 1,5 Millionen Mal allein bei Twitter erwähnt und toppte damit stundenlang alle anderen Themen in dem Sozialen Netzwerk. Ihr Name ertönte auch auf Demonstrationen auf iranischen Strassen und Uni-Geländen.
Zu Aminis Todesursache kursieren im Internet unterschiedliche Angaben: Das Kasra-Krankenhaus hatte auf Instagram zunächst mitgeteilt, Mahsa Amini sei bereits bei der Einlieferung hirntot gewesen – dieser Post wurde allerdings bereits entfernt. Frauen, die gemeinsam mit Mahsa zur Polizeistation gebracht wurden, berichten von Schlägen der Moralpolizist*innen. Und ihr Bruder hat nach eigenen Angaben Spuren der Folter auf ihrem Körper gesehen.
Die Obrigkeit greift bei der Erklärung der Todesursache zur gewohnten Waffe: Mahsa sei an einer Krankheit gestorben, die Polizist*innen hätten sie nicht einmal mit einem Finger angefasst (der Polizeipräsident), die Sittenpolizei trage keine Schlagstöcke (der Innenminister).
Diese Reaktionen erinnern an das ukrainische Passagierflugzeug, das am 8. Januar 2020 von zwei Raketen der iranischen Revolutionsgarde in der Nähe von Teheran abgeschossen wurde. Dabei fanden alle 176 Insassen den Tod. Bevor das Regime zugab, dass die Garde die Maschine «versehentlich» abgeschossen habe, wurden diverse Lügen aufgetischt: «Irrationale Gerüchte», «eine weitere Verschwörung im psychologischen Krieg gegen den Iran», «an der Unfallstelle wurden keine Raketenteile gefunden».
Mahsa Amini wurde festgenommen, als sie zusammen mit ihrem Bruder und weiteren Angehörigen eine Teheraner U-Bahnstation verliess. Sie waren zu Besuch in Teheran. Die Familie lebt in der westiranischen Stadt Saqqez. Mit weiteren Frauen, deren Kleidung nicht den staatlichen Vorschriften entsprach, wurde Mahsa festgenommen und in einem Van der Sittenpolizei abtransportiert.
In einem Video, das die Sittenpolizei veröffentlichte, sieht man Mahsa einen grossen Raum betreten, in dem andere Frauen auf Stühlen sitzen. Sie nimmt Platz, steht aber gleich wieder auf, geht zu einer Beamtin und zeigt ungeduldig auf ihren Mantel und andere Kleidungsstücke in Schwarz, beanstandet offensichtlich ihre Festnahme. Kurz darauf neigt sie sich zu einem Tisch und da endet der Film. Sie wird in das Kasra-Krankenhaus eingeliefert. Wir sehen sie auf einer Bahre.
Auf den Fotos in den Sozialen Netzwerken liegt sie in einem Krankenbett mit Schläuchen im Mund und einem Verband am rechten Ohr. Drei Tage lag sie im Koma, dann starb Mahsa Amini. Die offizielle Todesursache: Herzinfarkt und Schlaganfall. Daran änderte sich bisher nichts, auch wenn die Familie betont, Mahsa sei kerngesund gewesen, bis sie festgenommen wurde.
Ärzte und Expertinnen im Ausland meinen anhand des Fotos vom Krankenbett, es könne sich um eine Gehirnerschütterung handeln, verursacht durch den Zusammenprall mit einem harten Gegenstand. Betroffene können in manchen Fällen eine Zeit lang klar denken und normal laufen, bis das Blut sich im Gehirn ausbreitet. Erst dann fällt die Person ins Koma. Ob Mahsa so den Tod fand, kann man nicht mehr feststellen. Sie wurde in aller Eile beigesetzt. Nach Angaben ihres Vaters wollten die Behörden, dass sie in der Nacht begraben wird, um Versammlungen und Proteste zu vermeiden. Doch er habe darauf bestanden, sie am helllichten Tag beizusetzen.
Reaktionen auf Mahsas Tod
Seit Mahsas Tod gibt es in verschiedenen Städten des Iran und auch im Ausland Proteste. Erst in der Provinz Kurdistan, woher Mahsa stammte, dann in anderen Landesteilen schlossen viele Händler als Zeichen der Trauer ihre Geschäfte. Seit Montag finden auch in der Hauptstadt Teheran Demonstrationen statt. Auf den Uni-Geländen protestieren Studierende gegen Zwangsverschleierung und Diskriminierung der Frauen. Es habe Tote, Verletzte und viele Verhaftungen gegeben, heisst es in den Sozialen Netzwerken.
Die Reformisten und Teile der Konservativen innerhalb der Machtzirkel solidarisierten sich mit Mahsas Familie. Staatspräsident Ibrahim Raissi hat die Familie angerufen und sein Beileid ausgesprochen. Er versprach laut Mahsas Onkel, den Fall zu klären. Eine Geste, die er bei den Massenhinrichtungen vom Sommer 1988, die er mitzuverantworten hat, bis heute unterlassen hat.
Auch etwa 20 Abgeordnete des islamischen Parlaments, ausschliesslich Konservative, haben ihr Beileid ausgesprochen.
Diverse oppositionelle Gruppen, die sich zum Teil nicht riechen können – Monarchisten, Republikaner, Linke, Nationalisten und Liberale – sind sich durch Mahsas Tod nähergekommen, um ihre diesbezüglichen Aktivitäten auf eine gemeinsame Linie zu bringen. Viele Kulturschaffende, Künstler und Sportlerinnen haben Beileidsschreiben verfasst und direkt oder indirekt die auf ihrer Auslegung des Islam basierende Politik der Regierung verurteilt.
Auch Starregisseur Asghar Farhadi meldete sich diesmal zu Wort. Der zweifache Oscar-Preisträger, Vater einer 24 Jahre alten Tochter, stand unter Kritik, weil er bisher stets, wenn ein Unrecht geschah, geschwiegen hatte – er meinte, er spreche durch seine Filme über ein Anliegen. Selbst, als Kollegen und Kolleginnen verhaftet wurden und eine von ihnen sogar im Gefängnis den Tod fand, sagte er kein Wort. Nun schrieb er zum ersten Mal einen kritischen Brief – an Mahsa: «Meine liebe Tochter Mahsa, Reisende in der Stadt der Verschlafenen. Ich vermute, Du hast vor Deiner Reise irgendwo in einer Ecke Deines Herzens notiert: Ich werde in Teheran neben meinen sonstigen Alltäglichkeiten einige interessante Orte finden und Sehenswertes besichtigen. Nun hast Du gesehen, was diese Stadt anzubieten hat. Mehr gibt es hier nicht zu sehen, mehr hat diese Stadt nicht anzubieten. Ich bin ruhelos, seit ich gestern die Nachrichten über Deinen Fall gelesen habe. Diesmal hasse ich mich selbst dafür. Du schläfst anscheinend auf dem Bett im Krankenhaus, dabei bist du wacher als alle anderen, und wir alle liegen im Koma! Wir haben vor all den endlosen Grausamkeiten die Augen verschlossen und uns vorgemacht, dass wir schlafen. Auch wir sind schuld an diesem Verbrechen.»
So hat Mahsa durch ihren gewaltsamen Tod etwas erreicht, was 43 Jahre lang niemand schaffen konnte: Sie vereint fast das gesamte iranische Volk in Trauer und gegen das menschenverachtende Regime. Wie lange diese Einigkeit anhält und ob sie der Beginn einer neuen Phase in der iranischen Geschichte ist, wird die Zukunft zeigen.♦
*Parvin Irani ist ein Pseudonym, ausgewählt von der Redaktion. Die Autorin arbeitet für persischsprachige und deutsche Medien.
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