Alle Kontrollversuche über Internet und BIG DATA müssen scheitern, da eben diese digitalen Errungenschaften die persönliche Freiheit der Menschen stärken.
Das große Echo, das Edward Snowden mit seinen Enthüllungen ausgelöst hat, widerhallte gewaltig von der eindrücklichen Glasfront des NSA-Massivs zurück. Mit Massiv ist das Hauptquartier der National Security Agency in Fort Meade, Maryland gemeint. Die Botschaft des Whistleblowers („Verpfeifer“) war ein Schock für viele. Die „Schockwellen“, die sich weit ins Land hinaus bewegten, reichen mittlerweile um den ganzen Erdball und sind quasi wieder zurück an der Ostküste der USA, im White House und Capitol angekommen.
Den Durchblick verloren
Viele Menschen sind frustriert, aufgebracht, enttäuscht. Da hat sich eine krackenhafte Allianz aus krankhaft verteidigungssüchtigen Männern des Geheimdienstes, machthungrigen Staatsvertretern und cleveren Businessmen der Internetkonzerne zusammengetan, um BIG DATA zu ihrem Vorteil zu nutzen. Führende Politikerinnen und Politiker von Freund und Feind wurden ausgehorcht. Die erhaschten Daten wurden verglichen, verwoben, verraten. Dass diese Personen not amused reagierten, ist Teil ihrer persönlichen Imagepflege. Das mediale, genüssliche Aufbauschen dieser Storys gehört zum courant normal dieser Branche. Millionen von Zuschauern dieses Hypes, gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger, reagieren vergleichsweise gelassen. Sie sagen vielleicht: Was soll‘s, ich habe nichts zu verheimlichen. Oder sie ärgern sich vordergründig, nicht sehr ernsthaft. Ihnen ist klar, dass seit Generationen spioniert und ausgehorcht wird. Diese Branche ist jetzt einfach auch ins digitale Zeitalter eingetreten, während viele Unbeteiligte noch analog denken.
Medienkommentatoren warnen davor, dass sich soeben der durch das Internet versprochene Freiheitsgewinn in Luft aufgelöst und die Lobgesänge aufs Internet fehlgeleitete Hoffnungen naiver freaks pulverisiert hätte. Die Überreaktionen jener, die es schon immer gewusst haben, sind Teil der grassierenden Unsicherheit, die Politik und Medien vorübergehend den Takt diktiert. Bis ihnen etwas noch Skandalöseres erfährt und die Tagesordnung neu geschrieben wird.
Wie immer lohnt es sich, Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, um den Durchblick nicht zu verlieren.
Persönliche Weltbilder
Wer im Internet den süffisanten Erklärungen des Chefs der NSA vor den Kongressmitgliedern in Washington D.C. gefolgt ist – warum die ganze Aufregung der Politiker, der Frau Merkel oder anderer Alphatiere fehl am Platz sei – stellt fest, dass die Welt eines Keith Alexanders (NSA-Direktor) einerseits geprägt ist vom Ereignis 9/11, das eine Stadt, ja eine ganze Nation verunsicherte. Andererseits, und noch viel entlarvender ist die Rechtfertigung James Clappers, des Chefs der US-Nachrichtendienste, der selbstsicher verkündete: „Als ich 1963 die Geheimdienstschule absolvierte, war das etwas vom Ersten, was ich gelernt habe“. Gelernt hatte er genau 50 Jahre früher, dass alle Länder dieser Welt sich gegenseitig abhörten. Vor 50 Jahren, im kalten Krieg. Die beiden älteren Herren rechtfertigten die Datensammelwut ihrer Behörden mit Kriegsrhetorik und dem notwendigen Kampf gegen alle Feinde Amerikas. Sie verfügen über ein Jahresbudget von 10,8 Milliarden Dollar.
Dieses Weltbild aus dem letzten Jahrhundert wird nicht mehr überall verstanden. Der Kontrollwahn der USA geht einher mit dem globalen Machtverlust einer Nation, die sich zum Teil noch immer als Überbringer von Demokratie und Frieden weltweit versteht. Nur – wie Erfahrung zeigt – die Entwicklung der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts läuft in eine andere Richtung. Wenn wir schon von Demokratie reden, dann müssen wir uns von der Idee eines großen Mächtigen, der weltweit dazu berufen ist, zur „rechten“ Ordnung schauen, verabschieden. Dies auch zu Wohle der USA.
Der Historiker Fritz Stern, ein unverdächtiger Gesellschaftsbeobachter, der an der Ostküste der USA wohnt, äußerte sich in der New York Times: „Die Gefahr ist eine geniale Technologie, die völlig aus dem Ruder gelaufen ist, die alle Möglichkeiten, aber keine Kontrolle mehr hat.“ Der Kontrollwahn endet im Kontrollverlust, so meine Folgerung.
Neue Marktchancen
Was wir zurzeit erleben, hat ein kluger Gesellschaftsbeobachter schon vor rund 25 Jahren ziemlich detailliert beschrieben. Der Futurologe Alvin Toffler prognostizierte in seinem Bestseller „Machtbeben“ (Econ, 1990): „Von allem, was in den nächsten Jahrzehnten Hochkonjunktur haben wird, dürfte die Spionage den größten Boom erleben. Auf ihr Geschäft wartet eine wahre Revolution. Mit dem Eintritt der ganzen Gesellschaft in ein neues, wissensbasiertes Wertschöpfungssystem wuchern auch die Informationsfunktionen der Regierungen und damit wird Gestohlenes und Geheimwissen für den, der es braucht, eher mehr als weniger wert werden.“ Davon können nicht nur die Schweizer Banken ein nostalgisches Liedlein singen. Schon damals warnte der Autor: „Dies stellt alle hergebrachten Vorstellungen von Demokratie und Information in Frage.“
Die laufende Digital- und Kommunikationsrevolution birgt in ihrem Kern zwangsläufig Umwälzungen, die all jene nicht überraschen, die sich seit Jahrzehnten damit befassen. Hier ein Beispiel dazu. Der grundlegende Wandel im öffentlichen Verständnis, der auch in der Schweiz da und dort für Aufregung sorgt, das neue, politische Öffentlichkeitsprinzip, verwandelt vormals geheimen in öffentlich zugänglichen „Besitz“. Zwischen dem althergebrachten Geheimhaltungskult der Machtausübenden und dem Aufruf liberaler Kreise, die Zugang zu Informationen fordern oder sich (illegalerweise?) grad selbst beschaffen, liegen offensichtlich zwei unterschiedliche „Weltanschauungen“. Neben den aufblühenden Märkten für Spione, Diebe und Whistleblower sorgen staatliche und private Informationsplattformen dafür, dass ein offensichtliches Bedürfnis plötzlich ganz legal gestillt wird.
Dass dabei die marktbeherrschenden Internet-Player wie Google, Microsoft oder Amazon, Facebook, Twitter den neuen Markt nach marktwirtschaftlichen Prinzipien frühzeitig erschlossen haben, wissen wir. Sie haben die Chancen gepackt.
Falsch verstandener Machtanspruch
Glenn Greenwald, der Journalist des „Guardian“, der zusammen mit Edward Snowden den NSA-Skandal aufgedeckt hat, wehrte sich im Herbst 2013 in einem Interview dagegen, dass „der Überwachungsstaat die Macht im Netz ergreife“ (ZEIT ONLINE 30.10.13). Auch er geht offensichtlich davon aus, dass irgendjemand die Macht hätte, die Welt nach seinem Gusto zu lenken. Zwar gibt es natürlich autoritäre Machthaber überall auf dieser Welt, doch die Macht im Netz einer einzigen Institution zuzurechnen, diese Gefahr ist wohl nicht wirklich im Anzug und deshalb unbegründet. Während Greenwald in dieser Angelegenheit dem alten Denkmuster verhaftet scheint, ist er das anderswo durchaus nicht. Wenn er fragt: „Wer verletzt Amerika? Jene, die im Geheimen ein kolossales Überwachungssystem aufbauen oder jene, die darüber die Bevölkerung informieren?“ (The Guardian, 22.6.13), dann beweist er mit dieser Auffassung neues Denken, das sich von Autoritätsgläubigkeit verabschiedet hat.
Falsch verstandener Machtanspruch kumuliert sich in Milliardenprogrammen zur Überwachung der Welt. Das ist kein Zeichen von Stärke, sondern eher von Angst. Angst vor Machtverlust.
Machtbeben
Nicht wenige sehen in den Prozessen der Machtverschiebung weltweit das Entstehen eines neuen Beziehungsgeflechtes. Dieses zerstört langsam aber stetig das alte Netz aus Reichtum (Geld), Gewalt (Monopolen) und Macht (Kontrolle). Es entsteht ein neues Gewebe, basierend auf Wissen, Information, Marktdominanz. Macht impliziert wohl immer eine sich wandelnde Welt, bestehend aus Zerstörung, Chaos, Zufall und Ordnung. Machtverlust heißt somit: die Ausübenden werden ausgewechselt, die Auswirkungen könnten, mit etwas Glück, statt in „alten“ Kriegen in „neue“ Kooperationen münden.
Der leider wenig bekannt Kulturphilosoph Jean Gebser befasste sich schon Mitte des letzten Jahrhunderts mit den Manifestationen der neuen Zeit. Er bezeichnete das Alte als dreidimensionale Welt, während er das Neue als vierdimensionale Wirklichkeit einstufte (seit Albert Einstein, unter Einbezug von Zeit und Raum). Er riet uns, eine neue Einstellung zu den neuen Gegebenheiten dieser Wirklichkeit zu gewinnen. Seine Überzeugung: nicht das Mächtigere, sondern das Stärkere siegt „weil Macht auch immer von Ohnmacht bedroht ist. Wer den Machtanspruch zurückstellt, entgeht der Ohnmacht“ („Ursprung und Gegenwart“, dtv).
Kontrollwahn, Zwillingsbruder des Machtverlusts
Der ausufernde Kontrollwahn, der aus den USA auch zu uns herüberschwappt, geht einher mit der Angst einer Nation (oder einiger seiner Machthaber) vor dem Zerfall ihres Weltbildes. Die US-Außenpolitik begriff und begreift sich als koordiniertes Planen und Handeln, das der maximalen Erfüllung ihrer eigenen, nationalen Interessen dient. George W. Bush definierte das so (und es hat nach wie vor Gültigkeit): „Amerika wird nie nach einem Erlaubnisschreiben fragen, um die Sicherheit unseres Landes zu verteidigen“. Dem von Verlustangst geprägten, konservativen Weltbild stünde eigentlich jenes freiheitliche, liberale Konzept gegenüber, von dem Barack Obama vor seiner Wahl träumte. Die Wirklichkeit in Washington D.C. und seinen 15‘000 offiziellen und weiteren ungezählten als nichtoffizielle Lobbyisten, die die Kongressabgeordneten lenken, hat sich nochmals durchgesetzt. Angst war noch nie ein guter Ratgeber.
Wohl eher für unfreiwilligen Humor sorgte im Herbst 2013 die NZZ mit ihrem Titel: „Verliert der Westen die Kontrolle über die Globalisierung?“ (4.10.2013). Hatte der Westen je diese Kontrolle? Und wer im „Westen“ übte sie aus?
Die wissenschaftliche Einsicht
„Es ist wichtig, dass wir uns darüber zu freuen wagen, nicht alles unter Kontrolle zu haben“ […], folgert der dänische Wissenschaftsjournalist Tor Nørretranders in seinem berühmten Buch „Spüre die Welt“ (Rowohlt). Darin wägt er die verschiedenen naturwissenschaftlichen, neuesten Erkenntnisse unserer Zeit ab und macht die moderne Bewusstseinsforschung zum großartigen Leseerlebnis. „Die Balance zwischen dem Geradelinigen und dem Ungeradlinigen ist eine der großen Herausforderungen der Zivilisation“, stellt er fest und meint mit gradlinig ein Weltverständnis, das in Form technischer Systeme vergegenständlicht ist. „Unsere Begriffe sind geradlinig, und sie sind es oft in einer Weise, die wir uns gar nicht klarmachen.“ Auf unser Bewusstsein übertragen, verkörpert gradlinig das Bewusste, nichtgradlinig das Nichtbewusste.
„In der Tendenz der Zivilisation zur Geradelinigkeit drückt sich deshalb die Macht des Bewusstseins über das Nichtbewusste, die Macht der Planung über die Spontaneität aus. […] Die geradlinige Zivilisation kommt in reinster Ausprägung dort zum Vorschein, wo viel Macht konzentriert ist.“
Der Denkwandel
Macht, Planung, Programme, Kontrolle – das kennen wir doch aus dem Kommunismus. Doch wir stellen fest, dass wir auf diese gradlinigen Vorstellungen auch in kapitalistischen Monopolkonzernen treffen. Und sie gelten wohl auch für Nationen, deren Politiker noch wenig gehört haben von der wirklichen Welt, von deren Nichtplanbarkeit.
Aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet der Physiker und Nobelpreisträger Robert B. Laughlin den Denkwandel: Der Übergang zum Zeitalter der Emergenz, also der Selbstorganisation der Natur, setzt dem Mythos von der absoluten Macht der Mathematik ein Ende, sagt er. „Wir leben nicht in der Endzeit der Entdeckungen, sondern am Ende des Reduktionismus, einer Zeit, in der die falsche Ideologie von der menschlichen Herrschaft über alle Dinge mittels mikroskopischer Ansätze durch die Ereignisse und die Vernunft hinweggefegt wird (Abschied von der Weltformel – Die Neuerfindung der Physik“, Piper).
Die falsche Ideologie von der menschlichen Herrschaft über alle Dinge: Kontrollwahn ist die Vorstufe zu Machtverlust. Vernunft – auch die Fähigkeit zum neuen Denken – könnte einem zeitgemäßen Machtverständnis und neuen Weltbild zum Durchbruch verhelfen. Um der Ohnmacht zu entgehen.