Ein politisches Erdbeben hat die Zusammensetzung der Regierung verändert. Die seit Jahrzehnten tonangebenden Freisinnigen sind nach den Wahlen vom Wochenende nur noch mit einer Person, der bisherigen Laura Sadis, in der Regierung vertreten wie die CVP (Paolo Beltraminelli) und die SP (Manuele Bertoli). Die Lega hingegen erobert mit Regierungsveteran Marco Borradori und Nationalrat Norman Gobbi zwei Sitze. Der andauernde, in den letzten Monaten verschärfte Streit zwischen dem Rechtsfreisinn und dem sozialliberalen Flügel hat sich als selbstmörderisch erwiesen. Im Grossen Rat bleibt die FDP vor der Lega knapp die stärkste Fraktion mit 23 von 90 Sitzen. Das ist jedoch ein schwacher Trost, denn zusammen mit der CVP verlieren die Freisinnigen die absolute Mehrheit im Parlament. Die SVP gewinnt zu ihren fünf Sitzen keine weiteres Mandat; ihre Unterstützung der Lega, die für den zweiten Regierungssitz entscheidend war, hat sich (noch) nicht ausbezahlt; die Lega hat immerhin versprochen, ihr im Oktober zu helfen, erstmals einen Sitz im Nationalrat zu erobern. Die Sozialdemokraten haben vier ihrer 18 Sitze verloren, und die Grünen konnten ihre Mandate von vier auf sieben fast verdoppeln. Im Tessin ist man über die von 62 auf 58,5% gesunkene Stimmbeteiligung enttäuscht; in andern Kantonen wäre das ein Spitzenergebnis.
Bignasca gewann mit seiner Sonntagszeitung
Die Lega ist sein 16 Jahren in der Kantonsregierung vertreten und noch länger in der Exekutive von Lugano, doch Lega-Präsident Giuliano Bignasca, der einen guten Riecher hat und weiss, was die Leute gerne hören, dürfte ein unberechenbarer Oppositionspolitiker bleiben. Mit seiner Sonntagszeitung „il Mattino della domenica“ setzt er die Themen, die Aufsehen erregen, beleidigt und verleumdet ihm nicht genehme Personen und Gruppen. Wird er wegen übler Nachrede – oder für schwerwiegendere Vergehen -, verurteilt, schimpft er über politische Urteile und verhöhnt die Justiz. (Möglicherweise wird einer seiner Anhänger Justiz- und Polizeivorsteher.) Gleichwohl wächst die Schar seiner Anhänger, denn auch üble Entgleisungen werden Bignasca nachgesehen, nicht allein von Lega-Wählern, denn „er ist halt so“, lautet die oft gehörte Entschuldigung. Er kann sich praktisch alles leisten, denn er ist Präsident der Lega auf Lebzeiten – so steht es in der Gründungsurkunde –, und es gibt keine demokratischen Regeln, Beschlüsse zu fassen innerhalb dieser Protestbewegung. Als Regierungsmitglied war er seinen Wählern jedoch nicht ganz geheuer, denn er erreichte auf seiner Liste nur das viertbeste Resultat.
Der Präsident der Lega fordert, dass die neue Regierung in den ersten 100 Tagen ein paar Pflöcke einschlage. Er will die Zahl der Grenzgänger um zehntausend auf 35'000 herabsetzen, die teilweise Rückerstattung der Steuern der Grenzgänger an Italien stoppen, Steuererleichterungen, eine 13. Rente für AHV-Bezüger, jährlich 50 Millionen zur Förderung der Beschäftigung von Jugendlichen. Diese und weitere Forderungen sind im Zehn-Punkte-Programm der Lega enthalten, das angeblich alle Kandidaten akzeptiert haben. Zudem will Bignasca mit dem italienischen Finanzminister Giulio Tremonti abrechnen, weil dieser den Tessiner Finanzplatz zu zerstören versuche. Der Lega-Präsident spricht, als hätte er die Mehrheit in der Regierung. Der bisherige und bestgewählte Staatsrat Marco Borradori stellt seinerseits klar, die Lega habe zwei von fünf Regierungssitzen, für ihre Projekte müsse sie Mehrheiten finden.
Proporzsystem ermöglichte Zweiervertretung der Lega
Annähernd 30% der Tessinerinnen und Tessiner haben für den Staatsrat die Lega gewählt. Das genügte für den klaren Sieg, denn anders als in andern Kantonen, wird im Tessin auch die Regierung nach dem Proporzsystem gewählt. Es ist also eine Minderheit, der Tessiner, die den Erdrutschsieg der Lega zustande brachte. Ich vermute, dass nicht alle Tessiner, welche die Lega gewählt haben, für sie und ihre teils widersprüchlichen Forderungen gestimmt haben. Es handelt sich teilweise um Proteststimmen gegen die historischen Parteien. Gleichzeitig sind viele Tessinerinnen und Tessiner empört, dass die Bewegung des ungezügelten Grossmauls stärkste Kraft in der Regierung wurde.
Bis Ende der 60er Jahren war die Bindung der Tessiner an ihre Parteien, die Liberal-Radikalen (FDP), die katholisch Konservativen (CVP) und die Sozialdemokraten derart eng, dass ihre Kandidaten und ihre Entscheide fast fraglos unterstützt wurden. Inzwischen sind die Wählerinnen und Wähler selbständiger geworden, und sie prüfen, welche Partei ihnen am besten entspricht. Doch ist es schwierig, sich zu orientieren, denn die FDP reicht vom SVP-nahen Wirtschaftsflügel bis zu den sozial engagierten Radikalen, und die heftigen innerparteilichen Anfeindungen, sind nicht dazu angetan, Vertrauen in diese Partei zu schaffen. Ebenso breit, aber profilloser und, jedenfalls gegen aussen, weniger zerstritten, sind die Christlichdemokraten, aber auch sie scheinen wenig attraktiv zu sein und verlieren seit langem Wähler. Die Sozialdemokraten haben ein klarere Orientierung, doch sie wirken etwas abgehoben, und sie sind nicht in der Lage, ihre Vorstellungen zu kommunizieren. Während Lega- und SVP-Wähler die Spalten der Zeitungen mit Diskussionsbeiträgen und Leserbriefen füllen, melden sich SP-Politiker und Wähler kaum zu Wort. Die Herausforderung der Lega dauert seit 20 Jahren, doch die historischen Parteien hatten bisher offenbar weder den Willen noch die Kraft, ihr Profil zu schärfen, ihre Botschaften den Tessinern verständlich zu machen und ihre Projekte zielstrebig zu verwirklichen. Am Wochenende hat sie das Wähler und Sitze gekostet.