Wie bitte? Ach, Sie wollten gar nichts mehr über sie wissen, weil Sie sie ja bereits so gut kennen? Lesen Sie diesen Beitrag trotzdem: die Frau ist ja immer für eine Überraschung gut.
Die Verleumdung, sie ist ein Lüftchen,
Kaum vernehmbar in dem Entstehen,
Still und leise ist sein Wehen:
Im Entstehen ist das Lüftchen vielleicht kaum vernehmbar, aber wenn sich die Verleumdung dann zu voller Grösse entwickelt hat, kann man es nicht mehr ignorieren.
Und das zischelnde Geflüster,
Dehnt sich feindlich, dehnt sich feindlich aus und düster.
Und die Klugen und die Tröpfe
Und die tausend hohlen Köpfe
Macht sein Sausen voll und leer!
Eine eindrucksvolle Beschreibung dessen, was passiert, wenn jemand Opfer einer Verleumdung wird – und ein Hoch dem Übersetzer von Rossinis berühmter Arie „La calunnia“ aus der Oper „Il Barbiere di Sevilla“, der das hier so anschaulich präsentiert. Von einem guten Bass-Bariton mit schauspielerischem Talent auf der Bühne dargeboten, verfehlt die Arie ihre Wirkung nicht: Man duckt sich unwillkürlich, und das Lachen bleibt einem in der Kehle stecken.
Sie ist eben eine wirksame Waffe, die Verleumdung, und sie verfehlt ihre Wirkung nie: Irgendetwas bleibt halt immer hängen, auch wenn die Verleumdeten sich überzeugend wehren können. Wer wüsste das besser als Hillary Clinton? Und so ist es auch wieder am letzten Wochenende geschehen: Neue E-Mails sind entdeckt worden. Erst sprach man von gut hundert, dann tausend, und inzwischen sollen es schon Tausende von Mails sein. Das überrascht wohl niemanden, denn sie sind ja auf dem Computer entdeckt worden, auf dem der Ehemann ihrer engsten Mitarbeiterin sein Sexting betreibt, was bekanntlich über einen Computer läuft.
Schnelle Berichterstattung
Wie diese Mails dahingekommen sind, ob Hillary Clinton sie selbst geschrieben hat, was für einen Inhalt sie haben – all das wissen wir (noch) nicht, aber in der Berichterstattung war schnell wieder mal von einem „neuen E-Mail-Skandal“ oder in abgeschwächter Form einer „neuen E-Mail-Affäre“ die Rede, und natürlich ist das eine tolle Gelegenheit, einmal mehr darauf hinzuweisen, wie unsagbar unbeliebt die Kandidatin sei. Es ist ein Mantra geworden: kein Artikel, kein Kommentar, kein Porträt ohne die Erwähnung der Tatsache, dass nicht alle sie lieben oder sie angeblich keine Begeisterung auslösen kann. In krasserer Formulierung stellen dann Journalisten Fragen wie: „Erklärt der Bedeutungsverlust des weissen Mannes auch, warum so viele Menschen Clinton derart hassen?“ („Siri Hustvedt und Paul Auster: Amerikas prominentestes Schriftstellerpaar spricht aus, gegen wen Hillary Clinton in Wahrheit kämpft: den Hass auf Frauen.“ DAS MAGAZIN, 22. 10. 2016)
Und von Zungen geht's zu Zungen,
Das Gerede schwellt die Lungen,
Das Gemurmel wird Geheule,
Wälzt sich hin mit Hast und Eile;
Und der Lästerzungenspitzen
Zischen drein mit Feuerblitzen,
Und es schwärzt sich Nacht und Schrecken
Schaurig immer mehr und mehr.
„So viele Menschen“? „Derart hassen“? Bei den Anhängern ihres republikanischen Gegners gibt es diese Hasser sicher. Aber die glauben ja auch an den Storch oder den Weihnachtsmann, wenn sie dem angeblichen Milliardär zujubeln. In den letzten Wochen, als ich mich intensiv mit Hillary Clinton auseinandergesetzt habe, bin ich laufend auf Menschen gestossen, die bis vor kurzem wenig-bis-nichts von ihr wussten, sie jetzt aber als ehrgeizig, geldgierig und vor allem korrupt bezeichnen. Dass ihnen die Transparenz fehlt, kann man noch verstehen – die Freigabe von Informationen ist wirklich nicht Clintons Stärke, und da gibt es zum Beispiel ein bisschen viel Geheimnistuerei um die Gratwanderung zwischen Beiträgen an die Clinton-Stiftung und der Rolle von Hillary Clinton als öffentliche Person, die sich unter Umständen mit der Vergabe wichtiger Posten dafür bedanken könnte …
Interessiert ihr Regierungsprogramm?
Ehrgeizig? Aber ja doch. Warum sonst sollte man sich solch einem Wahlkampf stellen, solch einen Verschleissjob haben wollen? Geldgierig? Wie viele Menschen würden bei den Honoraren, die ihr geboten worden sind, nein sagen? Korrupt – und das bis zu einem Punkt, wo die Meute skandieren kann „Lock her up!“? Das ist Trumps Mantra, das er immer und immer wieder hervorholt. Unglaublich, dass man gerade ihm mit den undurchsichtigen Geschäften, den Bankrotterklärungen und den nicht gezahlten Steuern in den frühen Zeiten des Wahlkampfs diese Art von Anschuldigungen hat durchgehen lassen.
Während die Verleumdung ihren Erfolg feiert: Hat sich schon mal jemand für ihr Regierungsprogramm interessiert? Ja, am Wochenende die NZZ, die uns unter dem Titel „So will Clinton regieren“ einen Überblick verschafft hat. Schliesslich geht es hier ja nicht um eine Schönheitskonkurrenz oder die Wahl eines Publikumgslieblings, sondern darum, welche Fähigkeiten, Skills und Massnahmen in den nächsten vier Jahren angesagt sind, um Amerika aus seiner derzeitigen Baisse heraushelfen zu können. Wie wär’s mit ein paar weiteren Fakten?
Verzicht aus Liebe
Hillary Rodham kommt aus eher einfachen Verhältnissen, hatte eine starke Frau als Mutter und einen streng republikanischen Methodisten als Vater, dessen Religiosität ihn nicht daran gehindert hat, seine Frau zu betrügen und sie verbal zu demütigen. Aber er wollte eine gute Ausbildung für seine Tochter, die schon als Schülerin so intelligent war, dass ihre Klassenkameradinnen vermuteten, sie würde wohl mal einen Senator heiraten … Die brillante Anwältin hat sich bereits sehr früh als Aktivistin gezeigt, musste dann aber eine Pause einlegen, als sie sich in ihren Komilitonen Bill Clinton verliebte.
Aus Liebe verzichtete sie auf die grosse Karriere (obwohl sie als Auszeichnung bei der Enthüllung des Watergate-Skandals mitarbeiten durfte), zog zu ihm nach Arkansas, arbeitete dort als Anwältin und hielt ihrem Mann zwei Jahre lang den Rücken frei, als der in den Wahlkampf um den Gouverneursposten stieg. Allerdings war sie nicht ganz das, was man von ihr erwartete; so hat man ihr zum Beispiel übelgenommen, dass sie unter ihrem Mädchennamen praktizierte. Zwar änderte sie das, indem sie als Hillary Rodham Clinton auftrat, aber spätestens, als sie die amerikanischen Hausfrauen desavouierte, verlor sie bei einer gewissen Gruppe von Frauen die Sympathien. In den 90er Jahren definierten sich diese Frauen noch über den perfekten Haushalt und ihre eigenen Guetsli-Rezepte, mit denen sie offenbar jedes Mal wieder das Rad neu erfinden wollten, und als die Gouverneursgattin meinte, dass sie die Berufsarbeit dem Guetsli-Backen vorzog (jemand musste ja auch Geld verdienen), fühlten die Damen sich desavouiert.
Menschenrechte sind Frauenrechte – und umgekehrt
Der Misserfolg der versuchten Krankenversicherung trug ihr ausser Häme nichts ein; der Neid auf ihre Eigenständigkeit oder ihr Aussehen wuchs, und Männer bekamen ihre Schlagfertigkeit und ihre Überlegenheit zu spüren. Als sie dann aber die „Stand-by-your-man“-Rolle übernahm und vor der ganzen Welt gedemütigt wurde, begann eine Wende: Wenn auch viele fanden, es geschähe ihr recht, so entstand gleichzeitig aber auch ihr Fan-Club, und sie machte sich daran, ihre Pläne für eine eigenständige Karriere in der Poliktik umzusetzen.
Zu den Fakten gehört die Tatsache, dass sie sich bereits als Anwältin für Kinder, Frauen und sozial Benachteiligte eingesetzt hat. Ich empfehle in diesem Zusammenhang immer eines ihrer Bücher „It Takes a Village“(1996; Eine Welt für Kinder), in dem sie sich für eine kindergerechte Gesellschaft einsetzt, ohne in eine falsche Nostalgie oder Sehnsucht nach einer „guten, alten Zeit“ abzurutschen. Ihr Mut, 1995 an der Weltfrauenkonferenz In Peking zu verkünden „Menschenrechte sind Frauenrechte, und Frauenrechte sind Menschenrechte“ hat viele beeindruckt, und die schwarze Bevölkerung hat ihr nie ihr Engagement in der Bürgerrechtsbewegung vergessen.
Kaum Klatsch
Sie ist ungeheuer fleissig, ungeheuer belastbar und ungeheuer hartnäckig. Sie kann hevorragend zuhören, ist lernfähig, kann auch mit Gegnern Allianzen schliessen und zu neuen Lösungen gelangen. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für den Weg zum Zenit einer politischen Karriere. Und noch etwas Verblüffendes: Je näher man ihr kommt, desto positiver fällt die Bewertung aus: „So gut wie alle Leute, die je mit Hillary Clinton gearbeitet haben, Kollegen, Angestellte, Gegner, haben eine völlig andere Meinung von ihr als die Wähler: Sie schildern Clinton als brillante Frau mit Humor – und als extrem verlässlich ... Aus der Nähe gibt es kaum Klatsch. Und keine einzige Enthüllungsstory eines Ex-Mitarbeiters über sie. Was in Washington etwa so selten ist wie eine Schlange mit Ballettbeinen.“ („Ein Porträt von Conrad Seibt“, Tages-Anzeiger, 24. 8. 2016)
Haben Sie das gewusst? Eben. Aber da wäre ja noch das Ende der Arie:
Endlich bricht es los das Wetter,
Unter grässlichem Geschmetter!
Durch der Lüfte Regionen
Tobt's wie Brüllen der Kanonen.
Und der Erde Stoß und Zittern
Widerhallt in den Gewittern,
In der Blitze Höllenschlund!
Und der Arme muss verzagen,
Dem Verleumdung hat geschlagen.
Schuldlos geht er dann, verachtet
Als ein Ehrenmann zugrund.
Schuldlos? Nein. Aber kann man, darf man das überhaupt erwarten? Und trotzdem: „Egal, ob ihre Politik, ihre Frisur, ihr Ehrgeiz, ihr Mann, ihre Gesundheit, ihr Charakter – an Hillary Clinton gibt es kein unkritisiertes Fleckchen Mensch. Gegen niemand strengten die Republikaner so viele Prozesse an – mit so wenig Ergebnis.“ (Seibt)
Amerika hat die Chance, am 8. November nicht das kleinere Übel zu wählen, sondern eine Frau, die das Zeug dazu hätte, Amerika aus seiner Krisensituation herauszuholen. Man sollte ihr und dem Land diese Chance nicht verwehren.