Aber Kleedorf ist keine Erfindung. Vor ein paar Tagen übernachteten wir dort – wie schon viele Male zuvor. Das verträumte Bauerndorf mit rund 100 Einwohnern liegt in Bayern, genauer in Mittelfranken, in der Hersbrucker Schweiz auf ca. 400 Meter über Meer. Zusammen mit Unterkrumbach und Hopfengartenmühle bildete es einst eine selbständige Gemeinde, bis es 1971 im Rahmen der bayrischen Gebietsreform zu einem Ortsteil von Kirchensittenbach wurde. Der Verwaltungsakt scheint an Kleedorf abgeperlt zu sein wie Wasser an einem gut imprägnierten Stoff. Kleedorf ist noch immer das geschlossene Dorf von damals, an seinen Rändern nicht durch Einfamilienhäuser zugezogener Städter ausgefranst, nur dass auf den steil aufragenden hohen Dächern Solarpanel montiert sind und in den alten Fachwerkhäusern kaum noch Bauern leben.
Der Bezug dieser Gegend auf die Schweiz ist nicht zufällig. Als wir es zum ersten Mal in einer Geländemulde zwischen Obstwiesen und Wäldern daliegen sahen, erinnerte es uns ans Baselbiet, an Oltingen zum Beispiel. Allerdings sucht man in Kleedorf vergeblich nach einem Kirchturm. Kleedorfs kirchliche Autorität liegt, weit und versteckt, unten im Tal des Sittenbachs, in Kirchensittenbach, wohin die Kleedörfer früher – so stelle ich es mir vor – am Sonntag zu Fuss in langen Kolonnen gewandert sein müssen, die Kinder hinter den Erwachsenen zurückbleibend, widerwillig und Allotria im Kopf.
Der Sittenbach verbindet das verträumte Tal gleichsam mit der grossen Welt. Bei Altensittenbach fliesst er in die Pegnitz, die ihrerseits Nürnberg zustrebt. Dort wohnte vor vielen hundert Jahren ein Schuster namens Hans Sachs, dessen Lehrling David seinem Meister einst ein Sprüchlein über einen am Jordan getauften Nürnberger Sprössling aufsagen musste, das so endet:
... doch als sie dann sich heimgewandt, nach Nürnberg wieder kamen,
im deutschen Land gar bald sich fand’s, dass wer am Ufer des Jordans
Johannes war genannt, an der Pegnitz hiess der Hans.
So holprig-lustig hatte sich Richard Wagner seine Verse für die Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ zusammengeschustert. – Aber ich schweife ab; es muss am magischen Einfluss von Bayreuth liegen, das nur 50 Kilometer nördlich liegt! Hier geht es um Kleedorf, welches uns vor gut zehn Jahren zufällig zu einem Stück vertrauter Landschaft geworden ist. Damals suchten wir, im Auto aus der Schweiz nach Berlin unterwegs, wo unser Schiff überwinterte, nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Im Gasthaus, das wir in einem Hotelführer gefunden hatten, war kein Zimmer mehr frei. Wir sollten es im Hotel zum alten Schloss in Kleedorf versuchen, empfahl man uns. Noch ohne GPS mussten wir den Ort zuerst mühsam auf der Karte suchen und konnten, als wir die in einer Geländemulde liegenden Bauernhäuser von weitem sahen, nicht glauben, dass es hier überhaupt ein Hotel geben würde.
Doch es gab eines, ein grosses sogar mit weit herum bekanntem Restaurant, wie wir anhand der vollen Gaststube konstatierten. Nach dem Zimmerbezug zog es uns – und erst recht unseren Hund Zora – hinaus in den nahen Wald, wo wir uns nach der langen Fahrt wie im Paradies fühlten. Paradiesisch war es auch für Zora: In wilden Sprüngen jagte sie über die Wiese zum Wald, wälzte sich inniglich in jedem Laubhaufen, schaute dazwischen treuherzig zu den Meistersleuten, um sich zu vergewissern, dass wir ihre Freude teilten.
Seither gehörte Kleedorf zum geliebten Etappenort auf jeder Fahrt zwischen der Schweiz und Berlin, und im Frühling 2013 zu mehr: Ich hatte endlich (fast) alle meine beruflichen Verpflichtungen hinter mir gelassen und fühlte mich wie ein richtiger Pensionierter. Wir planten eine dreimonatige Schiffsreise von Berlin durch die Niederlande, Belgien, Frankreich nach Basel und schliesslich auf Rhein und Main nach Frankfurt, wo das Schiff den nächsten Winter bleiben sollte. Unser Auto war bis unters Dach vollgestopft mit unserer Ausrüstung, darunter hundert getrocknete Schweinsohren für unseren Hund, die wir bisher in Deutschland nicht gefunden hatten, aber ohne die Zora nicht leben zu können vorgab.
Wir waren kaum in Kleedorf angekommen, als sich die Berliner Werft auf meinem Handy meldete. Für einen Augenblick stockte uns das Blut in den Adern: War unsere Solveig beim Einwassern vom Kran auf den Boden gefallen oder über Nacht auf der Spree gesunken? – Zum Glück ging es um weniger Dramatisches. Der vorgesehene Kran sei auf einer Baustelle blockiert, unsere Solveig könne erst am Montag eingewassert werden. Da man in einem in einer Halle aufgebockten Schiff nicht leben kann, gab es nur eines: in Kleedorf ausharren, bis guter Bericht kommt. Es schien, als ob uns das Schicksal eine Entschleunigungskur hätte verschreiben wollen.
Der Hotelwirt, Herr Heberlein, unterstützte uns mit Wandervorschlägen, zum Beispiel von Kleedorf über die Hochebene zum Schloss Hohenstein, dem höchsten Punkt der Hersbrucker Schweiz (634 m), wie der Wanderführer stolz verkündet. Im Hohensteiner Hof im kleinen Dorf zu Füssen der stolzen Burg gab es ein kühles Bier und einen Fitnessteller. Letzterem hatten wir es wohl zu verdanken, dass der Rückweg nach Kleedorf kaum zwei Stunden dauerte, über weite Felder und durch einen dichten Wald, in denen Felsen zu hohen Haufen getürmt waren, hinter denen die Menschen einst die Überreste eines Schlosses vermuteten – daher der Name unseres Hotels „Zum alten Schloss“.
Am nächsten Tag wanderten wir durch lichte Wälder, deren frische, hellgrünen Blätter in der Sonnen leuchteten und bizarre Formen auf den Waldboden zauberten, zur Kreisstadt Hersbruck. Unvermittelt standen wir vor der eindrücklichen Silhouette der Stadt mit drei mächtigen Türmen und hochgiebligen Dächern. Wir schlenderten durch das Stadttor und die Gassen zum Hauptplatz, wo uns – so entnehme ich meinem Tagebuch – ein freundlicher Nürnberger unbedingt vor der Kulisse eines Turmes fotografieren wollte. Daraus entwickelte sich eine muntere Unterhaltung, der sich bald, wohl weil sie in uns Einheimische vermuteten, zwei ortsunkundige Walking-Senioren anschlossen, die sich von mir, dem Schweizer, wie der Nürnberger lachend vermerkte, den Weg nach Kühnhofen erklären liessen!
Später tranken wir vor dem Restaurant Adler einen Cappuccino und kamen mit der jungen Serviererin ins Gespräch – ein schwatzhaftes Städtchen, sagten wir uns. Die junge Frau entpuppte sich als Schweizerin, die im benachbarten Dorf an einer Singakademie ihre in der Schweiz begonnene Sängerinnenlaufbahn weiterverfolgte und als ausgebildete Gastronomiefachfrau etwas Taschengeld verdiente, überqualifiziert zwar, aber dennoch nur karg bezahlt. Aber so sei es eben, wenn man sich der Kunst widmen will, meinte sie achselzuckend.
Wenn ich in meinem Tagebuch aus jener Zeit lese, bestätigt sich eine alte Weisheit: Die schönsten Entdeckungen machen wir ungeplant, und oft muss uns das Schicksal dazu erst zwingen. Und schliesslich: Auch Kleedorf und sein Hotel sind durch das Virus gebeutelt worden, doch es schien uns bei unserem kürzlichen Besuch, das kleine Dorf trotze den Problemen und habe im Laufe seiner Geschichte schon weit schlimmere Zeiten überlebt. Auf glückliches Wiedersehen, Kleedorf!