Designerin will sie werden, und so schreibt sie sich im Jahr 1907 mit 18 Jahren für eine Hospitanz an der Zeichnungsschule für Industrie und Gewerbe in St. Gallen ein. Hier, im Zentrum der Stickerei-Industrie, lernt sie textiles Gestalten, ein damals und noch lange typisches Frauenmetier im kreativen Bereich. Doch Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) wird rasch über dieses Geschlechterschema hinauswachsen. Ab 1910 ist sie in München, wo sie die Debschitz-Schule besucht. Diese orientiert sich an der von William Morris begründeten britischen Arts-and-Crafts-Bewegung und integriert in ihrer Ausbildung angewandte und freie Kunst. Und – das war die grosse Ausnahme – sie lässt auch Frauen zu ihren Studiengängen zu.
Eine Designerin wird sie denn auch. Dies aber im denkbar umfassendsten Sinn: experimentierend als Textilgestalterin, forschend als Kunstgewerbelehrerin, Neues erprobend mit Ausdruckstanz und Dada-Kostümen, geometrisch reduzierte Formen entwickelnd für das Marionettentheater – und in allem immer weiter zur Abstraktion vorstossend.
Sophie Taeuber-Arps Weg zur künstlerischen Avantgarde ist stark geleitet von den Ideen der Arts-and-Crafts-Bewegung. Die Dinge des täglichen Gebrauchs sollen nach deren Theorie den gleichen ästhetischen Ansprüchen genügen wie die Werke der freien Kunst. Als schön soll gelten, was funktional ist und eine klare gestalterische Handschrift zeigt. Lebensreformbewegung, Werkbund, Neues Bauen, Bauhaus: Im frühen 20. Jahrhundert liegen derartige Strömungen in der Luft. Sie grenzen sich ab sowohl vom ornamentalen Schwulst der bürgerlichen Kultur wie auch von der Massenware der Industrieproduktion. Handwerkliches Ethos soll den Sinn für Wert und Werte wecken und einen heilsamen Einfluss auf die durch Industrialisierung, Verstädterung und Proletarisierung instabil gewordene Gesellschaft ausüben.
Frühe kunsthandwerkliche Arbeiten Sophie Taeubers aus den 1910er Jahren zeigen statt der zeittypischen floralen Ornamentik bereits flächige rechteckige Strukturen, die konsequent der Gitterstruktur etwa der Glasperlen-Stickerei oder der textilen Trägermaterialien folgen. Die Gestalterin kommt zu ihren abstrakten Formen, einfach indem sie dem Material nichts «Fremdes» aufzwingt, seine grundlegende Eigenart vielmehr sichtbar macht. Von da aus geht sie dann weiter und führt Dreiecksformen ein. Viel später erst verwendet sie Kreise, Kreissegmente, Bogenformen und schliesslich freie Linien. Sie bleibt aber auch dann bei elementaren und in sich monochromen Linien, Flächen und Körpern.
Ihre Entwürfe für textile Arbeiten, seien sie als Gouachen, Aquarelle oder Farbstiftzeichnungen ausgeführt, beginnt sie ab etwa 1915 als eigenständige Werke aufzufassen, die in Publikationen abgebildet und ausgestellt werden. Dies ist der Moment, da Sophie Taeuber sich selbst als Künstlerin wahrnimmt, die sich beidseits der fluiden Grenze zwischen angewandter und freier Kunst zu bewegen vermag.
Ab 1916/17 gehört Sophie Taeuber mit ihrem zukünftigen Mann Hans Arp sowie Hugo Ball, Emmy Jennings, Tristan Tsara und Marcel Janco zum engsten Kreis der Zürcher Dadaisten, jenem wilden Haufen pazifistischer Rebellen und Kultur-Utopisten, der auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit einem Ausbruch unbändiger und subversiver Kreativität antwortet. Als der Krieg zu Ende ist und die nach Zürich geflohenen Künstler in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind, verfügen die Arps (seit 1922 verheiratet; Sophie nennt sich jetzt Taeuber-Arp – und nicht etwa Arp-Taeuber) über ein europaweites Netz von Beziehungen zu avantgardistischen Künstlerfreunden, das sie hernach mit häufigen Reisen intensiv pflegen.
In Strassburg, dem Herkunftsort Hans Arps, bekommt Sophie Taeuber-Arp verschiedene Aufträge zur Innengestaltung von Privathäusern und für Möbeldesign. Spektakulär ist der Auftrag 1927/28 zur Ausstattung des Vergnügungszentrums Aubette, bei dem die Künstlerin teils allein, teils zusammen mit ihrem Mann und Theo van Doesburg zum Zuge kommt. Die von Sophie Taeuber-Arp gestaltete Bar ist zurzeit als rekonstruierte Maquette im Museum Haus Konstruktiv ausgestellt – und im Journal-21-Beitrag zu dieser Ausstellung auch abgebildet.
So bedeutend dieses konstruktivistische Gesamtkunstwerk auch ist: dass die massgeblich von den Arps gestaltete Aubette verschiedentlich als «Sixtinische Kapelle der Moderne» apostrophiert wird, ist dennoch des Guten zuviel. Die Gestaltung findet nicht nur Freunde. Offensichtlich goutiert das vergnügungslustige Publikum die konsequent auf farbigen Quadraten und Rechtecken basierenden und jedes Anzeichen von Gemütlichkeit und Bierseligkeit verschmähenden Interieurs nur mässig. Die avantgardistische Ausstattung wird wenige Jahre nach Fertigstellung grossenteils wieder entfernt.
Trotzdem, der Aubette-Auftrag verschafft den Arps nebst hohem Prestige auch ein gutes Honorar, das ihnen erlaubt, sich in Clamart bei Paris nach Sophies Plänen ein Atelierhaus zu bauen. Die Nähe zum Weltzentrum des Kunstgeschehens und des Kunstmarkts beflügelt augenscheinlich die künstlerische Entwicklung Sophie Taeuber-Arps. Die Stelle an der Zürcher Kunstgewerbeschule, die zwölf Jahre lang Basis für den Lebensunterhalt des Paars bildete, hat sie aufgegeben. Sie wechselt jetzt ganz auf die Seite des freien Kunstschaffens, allerdings ohne jemals ihre Prägung durch die Arts-and-Crafts-Bewegung zu verleugnen.
In den Dreissiger- und frühen Vierzigerjahren entsteht ein reiches und zunehmend unverwechselbares Œuvre von klassischer Qualität. Immer wieder beschäftigt sich Sophie Taeuber-Arp mit dem Thema des Gleichgewichts von Formen und Farben, mit Gliederungen des Bildraums, mit der Variation von Elementen und Mustern, mit der Komplexität des Einfachen. Sie schafft eine heitere Kunst, aber nicht im Sinn von gefälligen Wohlfühl-Bildern, sondern eines lebensbejahenden Zutrauens an die humanisierende Wirkung von Klarheit und Schönheit. Es ist keine billige, sondern eine teuer errungene Heiterkeit. Sie strebt sie in jedem Stück von Grund auf neu an, arbeitet sie methodisch heraus und bringt sie in feinsten Proportionen zur Reife. «Mozartesk» wird ihr Werk dieser Periode zuweilen genannt; da ist unbedingt etwas dran.
Soll man diese Arbeiten «spielerisch» nennen? Der Ausdruck scheint sich aufzudrängen, und der Begriff des Spiels ist ja spätestens seit Friedrich Schillers Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» sehr hoch veranschlagt. Schillers berühmter Zentralsatz ist ja kaum mehr zu überbieten: «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»
Solch idealistischer Überschwang passt allerdings nicht zu Sophie Taeuber-Arp; doch ohne solche Überhöhung wäre das Attribut «spielerisch» für sie zu flach. Hinter der Serenität der Gemälde, Reliefs und Skulpturen der Reifephase steckt immer ein Ringen um die gültige Gestalt. Kein Zweifel: Diese in den Pariser Jahren entstandenen Arbeiten gehören zu den Spitzenwerken der gesamten Klassischen Moderne.
Die Ausstellung «Sophie Taeuber-Arp – Gelebte Abstraktion» ist vom Museum of Modern Art in New York als Gemeinschaftswerk mit der Tate Modern in London und dem Kunstmuseum Basel initiiert worden. Wegen Corona musste das Moma die für letzten Herbst vorgesehene Eröffnung verschieben. Deshalb startet die Wanderausstellung nun in Basel, zieht dann nach London und endet in New York City. Während Sophie Taeuber-Arp in wichtigen Schweizer Museen teils prominent vertreten ist, harrt sie auf internationalem Parket recht eigentlich noch der Entdeckung. Mit dieser gross angelegten Werkschau und der gebündelten Kraft der drei auf Weltniveau operierenden Häuser dürfte es gelingen, diese wichtige Künstlerin dort zu platzieren, wo sie hingehört: ganz oben in der modernen Kunstgeschichte.
So heiter ihre Kunst, so bedrängt die Lebensumstände. Zwei Weltkriege und eine vielfach garstige Zwischenkriegszeit überschatten Sophie Taeuber-Arps Vita. Das Aufblühen in der glücklichen und fruchtbaren Pariser Zeit ist schon bald wieder bedroht. Als in der Basler Ausstellung «Konstruktivisten» 1937 die zu ihren Lebzeiten umfangreichste Werkschau gezeigt wird, ist ein paar Kilometer entfernt jenseits der Grenze bereits die nationalsozialistische Kampagne gegen «entartete Kunst» im Gang, die praktisch alles verfemt, was das 20. Jahrhundert an bedeutend Neuem hervorgebracht hat.
1940 rückt die Bedrohung nahe. Sophie Taeuber-Arp und ihr Mann müssen fürchten, den Nazis in die Hände zu fallen. Wenige Tage vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris fliehen sie – wie zwei Millionen Menschen aus der Grossregion Paris – nach Süden. In Grasse finden sie eine Bleibe. Sie leben mit dauerndem Mangel. Es fehlt ihnen an Nahrung und Materialien für ihre Arbeit.
Man kann es nur als überwältigendes Wunder bezeichnen, dass Sophie Taeuber-Arp ausgerechnet in dieser Zeit eine neue Formensprache der Freiheit findet. Sie experimentiert mit mathematisch gekurvten Linien, die sie mit mechanischen Hilfsmitteln erzeugt. Die vollkommenen Kurvenlinien fügt sie zu so noch nie gesehenen Kompositionen, teilweise auch kombiniert mit geraden Linien und farbigen Flächen. Es entstehen Blätter von berückender Schönheit und schwereloser Harmonie.
Im November 1942, kurz vor dem Einmarsch deutscher und italienischer Truppen in die bislang unbesetzte südfranzösische Zone, erhalten die Arps befristete Visa für die Schweiz. Sie fliehen nach Zürich, wo Sophie bei ihrer Schwester und Hans bei Max Bill wohnen kann. Am 14. Januar hält sich Sophie Taeuber-Arp bei Bill auf, um Druckgrafiken zu nummerieren und zu signieren. Abends kommt Arp von Arosa zurück, es wird spät, Sophie beschliesst in Bills Gästezimmer zu übernachten. Es ist eine bitterkalte Nacht. Sie feuert den Holzofen ein und bemerkt nicht, dass der Abzug geschlossen ist. Im Schlaf stirbt sie an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung. Am 18. Januar 1943, einen Tag vor ihrem 54. Geburtstag, wird sie auf dem Friedhof Höngg bei Zürich beerdigt.
Sophie Taeuber-Arp – Gelebte Abstraktion
Kunstmuseum Basel, Neubau, 20. März bis 20. Juni 2021
kuratiert von Eva Reifert (Kunstmuseum Basel), Anne Umland (Moma), Natalia Sidlina (Tate Modern), Walburga Krupp (Moma)
Katalog erschienen bei Hirmer