Wir waren am Sonntag in Aschaffenburg eben zur zweitletzten Tagesetappe unserer diesjährigen Schiffsreise gestartet, als die Revierzentrale über Funk meldete, der Abschnitt Erlangen des Main-Donau-Kanals sei wegen einer Schiffshavarie gesperrt.
Es wird wohl wieder einmal ein Frachter einen Ruderschaden haben oder auf Grund gelaufen sein, dachten wir uns.
Erst am Abend erfuhren wir von der menschlichen Tragödie, welche sich hinter dem Funkspruch verbarg: Die Viking Freya, ein Hotelschiff der in Basel beheimateten Firma „Viking River Cruises“, hatte in der Nacht zum Sonntag um halb zwei unterhalb der Schleuse Kriegenbrunn eine Brücke touchiert. Dabei wurde die Steuerkabine des Schiffes regelrecht wegrasiert. Die beiden Besatzungsmitglieder, welche sich in der Kabine aufhielten, wurden dabei tödlich verletzt.[1]
Was war passiert? – Die Untersuchungsbehörden liessen später verlauten, dass die wirkliche Ursache wohl nie festgestellt werden könne. Der Mechanismus, mit dem die Kabine ins Innere abgesenkt wird, sei so stark zerstört, dass man nicht mehr sagen könne, ob es sich um ein technisches oder ein menschliches Versagen handle. Wie auch immer, der Vorfall zeigt das latente Risiko, das auf dem Wasser immer vorhanden ist, insbesondere wenn es um grosse und schwere Schiffe geht.
130 Meter lange Hotelschiffe
Wir hatten auf unserer Reise viele ähnliche Hotelschiffe angetroffen, Schwesterschiffe der Viking Freya und andere, und oft fasziniert zugeschaut, wie diese 130 m langen und über 10 m breiten Ungetüme in Schleusen hinein oder an einen Landungssteg heran manövriert werden. In der Regel sind die Hotelschiffe dreistöckig gebaut: Die beiden oberen Etagen mit den Kabinen und Aufenthaltsräumen liegen vollständig über der Wasserlinie, die unterste Ebene mit Küche, Diensträumen und Kabinen für das Personal teilweise darunter.
Die festen Aufbauten erreichen eine Höhe von knapp 6 m und können so auf dem Main-Donau-Kanal, welcher für Maximalhöhen von 6 m ausgelegt ist, gerade knapp unter den Brücken durchfahren. Über dem oberen Kabinendeck befindet sich eine grosse, mit einem Geländer gesicherte Terrasse, welche auf Wasserstrassen mit grösseren Brückenhöhen (zum Beispiel auf dem Rhein) für die Passagiere freigegeben wird. Auf dem Main-Donau-Kanal muss wegen tief liegender Brücken an vielen Stellen das Geländer flach gelegt oder versenkt werden, ebenso alle andern Deckaufbauten wie Bänke und Tische, aber insbesondere das Steuerhaus.
Auf dem Bauch unter der Brücke hindurch
Dieses befindet sich in der Regel im vorderen Drittel des Schiffes und überragt alle andern Aufbauten, um dem Steuermann die nötige Übersicht zu verschaffen. Es kann wie eine Liftkabine teilweise oder vollständig ins Schiff hinein abgesenkt werden. Im letzteren Fall sieht der Steuermann nicht mehr direkt aufs Wasser; er ist dann allein auf seine Videokameras und den Radar angewiesen, Hilfsmittel, welche er ohnehin auch bei nicht abgesenktem Steuerhaus benötigt, vor allem während der Nacht. Der Steuermann hat zudem auch die Möglichkeit, das Steuerhaus zu verlassen und das Schiff über eine tragbare Steuerkonsole zu steuern. Wir haben oft beobachtet, wie sich der Steuermann beim Anlegen zur besseren Übersicht mit der Konsole auf der Terrasse frei bewegt und sich bei tiefen Brücken, wenn sein Steuerhaus vollständig abgesenkt ist, für einen kurzen Moment bückt oder gar auf den Bauch legt.
Vertikal verstellbare Steuerhäuser gehören heute auch zur normalen Ausrüstung moderner Frachtschiffe. Auf dem Rhein trifft man riesige Frachter an, welche eindrückliche Türme von Containern geladen haben, hinter denen das Steuerhaus vollständig verschwinden würde, könnte man es nicht – wie bei einer Arbeitsbühne – teleskopartig auf 10 oder mehr Meter in die Höhe fahren und so dem Steuermann die Sicht auf die vor dem Schiff liegende Wasserfläche ermöglichen. Auch hier muss die Mannschaft bei tiefen Brücken oder bei hochwasserbedingtem höheren Wasserspiegel das Steuerhaus immer wieder vorübergehend hinter den Containerberg hinunterfahren.
Bremsweg von 100 Metern
Hotelschiffe werden heute aus Rentabilitätsgründen auf maximal zulässige Höhen ausgelegt. Auf dem Main-Donau-Kanal sind daher die vertikalen Abstände zwischen Oberdeck und Brücken fast überall dermassen klein, dass dem Steuermann nichts anderes übrig bleibt, als in der Kabine zu bleiben und diese bei jeder Brücke immer wieder vollständig zu versenken. Natürlich versucht er, insbesondere bei engen Brückendurchfahrten oder vor Schleusen, die Zeit fast völliger Blindheit möglichst kurz zu halten.
Oft haben wir gesehen, wie die Steuerkabine erst im letzten Moment, wenn der Bug des Schiffes sich bereits unter der Brücke befand, im Schiff verschwand, um dann möglichst rasch nach erfolgter Passage der Brücke wieder ausgefahren zu werden. Bei einer Geschwindigkeit von 10 bis 12 Kilometer pro Stunde beträgt der Bremsweg bereits mehrere hundert Meter. Versagt der Mechanismus oder wird er nicht oder zu spät betätigt, kann die Mannschaft im besten Fall aus dem Steuerhaus auf die Terrasse fliehen. Die kinetische Energie eines über tausend Tonnen schweren Schiffes ist auch bei derart kleinen Geschwindigkeiten so gross, dass auch massive Konstruktionen wie Zündholzschachteln zerdrückt werden und im schlimmsten Fall sogar eine Brücke zum Einsturz gebracht werden kann. Letzteres ist in Erlangen zum Glück nicht passiert; es sind keine Passagiere zu Schaden gekommen.
Nachts unterwegs
Die geschilderten Herausforderungen der Schiffsmannschaft werden zusätzlich durch den Umstand vergrössert, dass Hotelschiffe über weite Strecken nachts unterwegs sind. Starke Bug- und Heckscheinwerfer sowie seitwärts zum Rand der Wasserstrasse gerichtete Leuchten an allen vier Ecken des Schiffes, gleichzeitig Wellen und starke Sogströmung, welche heftig an unseren Festmacheleinen zerren, haben uns beim Vorbeifahren von Hotelschiffen oft mitten in der Nacht geweckt.
Eine Nachtfahrt ist bereits am 19. Juni dieses Jahres der Viking Tor, einem Schiff der gleichen Gesellschaft, auf der Hochwasser führenden Donau oberhalb Regensburg zum Verhängnis geworden. Bei Bad Abbach, wo die Donau eine langgestreckte Linkskurve beschreibt, zweigt am linken Ufer unmittelbar nach einer Eisenbahnbrücke der Kanal zur Schleuse Bad Abbach ab. Wahrscheinlich bedingt durch die grosse Strömung wurde in jener Nacht der Bug des Schiffes rechts gegen einen Brückenpfeiler gedrückt, so dass die Strömung das Schiff in Drehung versetzte und der hintere Teil mit grosser Wucht gegen die Brücke knallte. Die Brücke hielt glücklicherweise dem gewaltigen Wasserdruck stand, welcher durch das querliegende Schiff entstand. Auch schlug das Schiff nicht leck, so dass schliesslich alle Passagiere in einer komplizierten Aktion durch die örtlichen Rettungskräfte aus dem Schiff evakuiert werden konnten.[2]
Tausend Kilometer in einer Woche
Natürlich stellt sich unweigerlich die Frage, wieso denn diese Hotelboote überhaupt nachts unterwegs sind, wenn sie doch den Passagieren die Schönheiten von Europas Flüssen vermitteln wollen. Vielleicht hängt das mit dem heutigen Stil des Reisens zusammen. Wir lachen über die amerikanischen oder asiatischen Touristen, welche Europa in einer Woche zu erleben versuchen. Doch eigentlich sind viele Angebote des Flusstourismus kaum besser. Zum Beispiel Nürnberg-Budapest in einer Woche, eine Wasserreise über mehr als tausend Kilometer und durch über dreissig Schleusen, verbunden mit dem Besuch der wichtigsten Städte entlang der Route. Da Besichtigungen natürlich tagsüber stattfinden, muss notgedrungen der grösste Teil der Fahrt während der Nacht absolviert werden. Ganz abgesehen davon, dass damit eigentlich eine wesentliche Erfahrung des Reisens auf dem Wasser, die Beschaulichkeit, verloren geht, sind Fahrten während der Nacht, wie diese beiden Unfälle zeigen (und einige mehr, welche es nicht in die Schlagzeilen gebracht haben), mit erhöhtem Risiko verbunden. Aber wie sagt man in solchen Fällen: Jedem das Seine.
PS: Mit diesem eher nachdenklich stimmenden Thema geht die diesjährige Serie über Europas Flüsse zu Ende. Die Solveig wird in Frankfurt überwintern, und ihre Crew freut sich auf den nächsten Frühling. Unser nächstes Ziel, vorausgesetzt die gute Gesundheit von Matrosin und Kapitän, sind Berlin, Brandenburg und Mecklenburg.
[1] http://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/schiffsunglueck-bei-erlangen-raetseln-um-moegliche-ursachen-130564915
[2] http://www.feuerwehr-bad-abbach.de/index.php/einsaetze/einsaetze-2016/einsatzbericht/492